Goraksha Shataka

 

Vers 40: Pranayama

 

Der Atem (Hamsa) geht durch den linken und rechten Nasengang 36 Fingerbreiten weit nach draußen. Daher wird er Atem (Prana) genannt.


    षट्त्रिंशदङ्·गुलं हंसः प्रयाणं कुरुते बहिः |
    वामदक्षिणमार्गेण ततः प्राणोऽभिधीयते || ४० ||


    ṣaṭ-triṃśad-aṅgulaṃ haṃsaḥ prayāṇaṃ kurute bahiḥ |
    vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa tataḥ prāṇo'bhidhīyate || 40 ||

    shat-trimshad-angulam hamsaḥ prayanaṃ kurute bahih |
    vama-dakshina-margena tatah prano'bhidhiyate || 40 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

    ṣaṭ-triṃśad-aṅgulam : (im Ausmaß von) 36 (Shattrimshat) Fingerbreiten (Angula)
    haṃsaḥ : der Atem, die Individualseele ("Ganter", Hamsa)
    prayāṇam : eine Bewegung ("Gang", Prayana)
    kurute : macht (kṛ)
    bahiḥ : nach draußen (Bahis)
    vāma-dakṣiṇa-mārgeṇa : durch den linken (Vama) und rechten (Dakshina) Gang, Kanal ("Weg", Marga)
    tataḥ : daher, deshalb (Tatas)
    prāṇaḥ : Atem (Prana)
    abhidhīyate : wird er genannt (abhi + dhā)

Anmerkungen: Dieser Vers erklärt anhand eines Wortspiels, warum der Atem prāṇa heißt: nämlich anhand des ähnlich lautenden Wortes prayāṇa, das "Aufbruch, Abreise, Gang" bedeutet. Diese etymologisch nicht ganz korrekte Erklärung (prāṇa kommt von der Sanskrit Verbalwurzel) an "atmen" mit Präfix pra) verweist auf die Länge bzw. Reichweite des Atems bei der Ausatmung, wobei hier die Entfernung, die der der Atem sich von der Nase wegbewegt, mit 36 Fingerbreiten angegeben wird.

In diesem Zusammenhang ist die Gheranda Samhita (5.89-90) besonders interessant, wo die unterschiedliche Reichweite (und damit die Intensität bzw. "Tiefe") des Atems bei der Ausatmung entsprechend bestimmter körperlicher Zustände bzw. Aktivitäten angegeben wird:

    dehād bahir-gato vāyuḥ sva-bhāvād dvādaśāṅguliḥ || 5.89 ||
    śayane ṣoḍaśāṅgulyo bhojane viṃśatis tathā |
    catur-viṃśāṅguliḥ panthe nidrāyāṃ triṃśad-aṅguliḥ |
    maithune ṣaṭ-triṃśad uktaṃ vyāyāme ca tato'dhikam || 5.90 ||

"Der aus dem Körper (Deha) ausgetretene Atem (Vayu, misst) im natürlichen Zustand (Svabhava) 12 Fingerbreiten (Anguli), beim Liegen (Shayana) 16 Fingerbreiten, und beim Essen (Bhojana) 20 Fingerbreiten. Beim Gehen (Pantha, misst) er 24 Fingerbreiten, im Schlaf (Nidra) 30 Fingerbreiten, beim Geschlechtsverkehr (Maithuna) wird er mit 36 (Fingerbreiten) angegeben, und bei körperlicher Anstrengung (Vyayama geht er noch) darüber hinaus." (GhS 5.89-90)

Ein weiteres Wort für Atem bzw. das damit in Verbindung stehende Lebensprinzip ist haṃsa, was wörtlich "Gans", im übertragenen Sinne auch die Individualseele (Jiva) bedeutet, denn für die von Leben zu Leben "wandernde" Seele stand im alten Indien symbolisch die wandernde Wildgans. Auch hier gibt die Gheranda Samhita (5.86-87) einen Hinweis, was es mit der Bezeichnung haṃsaḥ auf sich hat:

    haṃ-kāreṇa bahir yāti saḥ-kāreṇa viśet punaḥ || 5.86 ||
    ṣaṭ śatāni divā-rātrau sahasrāṇy ekaviṃśatiḥ |
    ajapāṃ nāma gāyatrīṃ jīvo japati sarvadā || 5.87 ||

"Mit dem Laut ham geht das Leben hinaus, mit dem Laut sah tritt es wieder (in den Körper) ein. Innerhalb eines Tages (Diva) und einer Nacht (Ratri) rezitiert das Lebensprinzip (die Individualseele, Jiva) immer 21 600 mal dieses Ajapa genannte Gayatri-Mantra." (GhS 5.86-87)

Die Anzahl von 21 600 Atemzügen innerhalb von 24 Stunden bzw. 86 400 Sekunden entspricht einer durchschnittlichen Atemfrequenz von 4 Sekunden, d.h. 15 Zyklen von Ein- und Ausatmung pro Minute.