Sultanpur: Shri Ramakanta Bhattacharyas Haus

Damals genossen alle Brahmanenfamilien aufgrund ihres gottesfürchtigen Lebenswandels hohes Ansehen. Ramakanta Bhattacharya, seine Brüder und Söhne waren wegen ihrer Gelehrsamkeit und ihres Desinteresses an weltlichen Dingen besonders geachtet. Das jeweilige Oberhaupt dieser Familie war der Sabha-Pandit [Hofpriester] beim Raja von Agartala. In ihrem Haus trafen sich die Nachbarn ohne Ansehen von Kaste oder Religion. Das äußere Empfangszimmer war immer voller Besucher, die aus vielfältigen Gründen kamen. Manche suchten Rat, manche hatten Fragen zu religiösen Riten, andere suchten Lösungen für kleine oder große Probleme, wieder andere waren einfach Freunde.
      Das geräumige Haus war umgeben von Gärten und Hecken. Hinter den Gärten gab es zwei Teiche und viele Obstbäume. Alles, was aus Feldern, Gärten und Obstpflanzungen ins Haus kam, wurde zuerst Gott geweiht. Die tägliche Verehrung der Hausgottheiten war die Hauptbeschäftigung. Das ganze Jahr hindurch wurden etliche Feste sorgfältig vorbereitet und gefeiert. Das wichtigste war die Durga Puja im Monat Ashvin (September/Oktober). Für die Bengalis ist es die alljährliche Erneuerung des tiefverwurzelten Glaubens, daß die Göttin für drei Tage zu Besuch in ihre frühere irdische Heimat komme. Ganz Bengalen bereitet sich auf diese Ankunft mit Musik, Blumen, Räucherwerk und Süßigkeiten vor. Jeder Haushalt tut soviel er kann, um zu den Festlichkeiten beizutragen.
      In Sultanpur begannen die Vorbereitungen schon lange vor dem Fest. Große Vorräte an Korn wurden angelegt. Die Frauen bereiteten aus Kokosnüssen und Zucker köstliche Süßigkeiten zu. Die nach Räucherwerk duftende Luft und die lieblichen Klänge der Lieder an die Göttin (Agamani) verkündeten, daß die Durga Puja bevorstand.
      Während der drei Tage der Puja wurde Ramakanta Bhattacharyas Haus zu einem Tempel der Gottesverehrung für die ganze Nachbarschaft. Alle waren eingeladen, an der geweihten Speise (Prasad) teilzuhaben, die in großer Menge vorhanden war. Einer besonderen Einladung bedurfte es nicht; jeder war gleich willkommen.
      Die Kinder der Familie erhielten neue Kleider. Den größeren Kinder trug man auf, die im Garten gepflückten Blüten zu Kränzen zu flechten. Aus rotem und weißen Sandelholz wurde eine Paste zubereitet. Smaragdgrünes Gras wurde sorgfältig gepflückt und zu kleinen Büscheln zusammengebunden. Es gab tausend Dinge zu tun; jeder konnte sich tatkräftig am Dienst an der Göttin beteiligen. Dies alles sah Ma in ihrer Kindheit, wenn sie zu solchen Festen nach Sultanpur kam. In Indien haben alle Feste einen religiösen Aspekt, aber an manchen Orten und zu gewissen Zeiten gewinnen sie eine besonders feierliche Würde, die sie über das Normale hinaushebt. Ma sagte, daß bei der Durga-Puja im Haus ihres Großvaters immer eine überirdische Atmosphäre vorherrschte, als würden die Lieder und Gebete wirklich erhört.
      Außer der Durga Puja wurden auch andere Feste feierlich begangen: Mahashivaratri, Shri Krishna Janmashtami, Kali Puja, Saraswati Puja, Shri Rama Navami (Shri Ramas Geburtstag im März/April) usw. Sicherlich war ein solcher Lebensstil nicht nur für Bengalen typisch. Auch in anderen Teilen dieses alten Landes muß es Dörfer gegeben haben, die an die Einsiedeleien aus der Zeit der Upanishaden erinnerten, als man sich an folgendes Gebot hielt:

 

Ishavasyamidam sarvam yatkincya jagatyam jagat;
tena tyaktena bhunjitha magridhah kasyasvitdhanam.

Ishavasyopanishad

»Dies alles - was immer sich auf Erden bewegt - ist von Gott durchdrungen.
Schütze dich durch Nicht-Haften an den Dingen. Begehre nichts,
denn wessen ist aller Reichtum?«

Die Haltung, sich der guten Gaben des Lebens allein als Prasad [göttliche Gabe] zu erfreuen, schuf ein Umfeld von Selbstgenügsamkeit und Zufriedenheit, den Kennzeichen inneren Friedens. Eine solche Lebensweise wirkt wie ein Bindeglied zum Zeitalter der Rishis [Seher] und hält es dadurch auch in modernen Zeiten als Tradition lebendig.
      Eine Großfamilie verdankt ihre innere Harmonie der umsichtigen Führung durch die Hausfrau. Harasundari Devi, Ma’s Großmutter, war eine solche ideale Hausherrin. Sie übte einen segensreichen Einfluß auf die ganze Familie aus. Sie glättete alle Zwistigkeiten, gegenseitige Beschwerden wurden nicht geduldet. Wenn jemand einen Fehler machte, erwartete sie, daß andere zu Hilfe kamen, ohne dafür besonderes Lob zu suchen. So war das ganze Haus von einem Geist der Freundlichkeit und des gegenseitigen Beistands erfüllt.
      Ma’s Mutter, Mokshada Sundari Devi, war als Tochter dieses Hauses ein lebendes Beispiel für die einer solchen Familie eingeprägten Ideale. Geboren im Mai 1877, verlor sie ihre Mutter, als sie der Kindheit kaum entwachsen war. Es wird berichtet, das Harasundari ihren herannahenden Tod vorausgesagt hatte. Ihre Tochter fragte sie daher: »Ich höre, du willst fortgehen?« Die Mutter tröstete sie mit der Versicherung: »Meine älteste Schwiegertochter wird meinen Platz einnehmen.«
      Danach genoss Mokshada Devi bei ihren Brüdern und Schwägerinnen eine Vorzugsstellung als ihnen von der Mutter anvertrauter besonderer Schützling.
      Zu gegebener Zeit wurde sie mit Bipin Bihari Bhattacharya aus Vidyakut verheiratet. Ihr neues Heim konnte ihr die Atmosphäre bescheidenen Wohlstands, wie sie im Hause ihrer Brüder herrschte, nicht bieten. Die Vermögensverhältnisse waren nicht einmal so verschieden, aber Bipin Bihari erwies sich als ein Haushälter, der besser für ein Leben als wandernder Sänger geeignet gewesen wäre.