Der Kirtan am 26. Januar 1926

Nach der Sonnenfinsternis am 26. Januar 1926 wurde Ma einem größeren Kreis bekannt. Die Devotees hatten sich für diesen Tag einen großen Kirtan gewünscht. Bholanath griff den Vorschlag bereitwillig auf und machte sich zusammen mit Baaul, Atal Bihari und anderen voller Enthusiasmus an die Vorbereitungen. Für die festliche Veranstaltung wurde ihnen der Tanzsaal zur Verfügung gestellt. Eine große Anzahl von Gästen wurde eingeladen. Sie alle sollten an diesem Abend am Prasad (Essen) teilhaben.
      Der Kirtan begann gegen 10 Uhr morgens. Ma saß mit ihrer weiblichen Gefolgschaft in einem nahegelegenen Zimmer, von dem aus sie den Kirtan sehen und hören konnten. Didi war damals noch neu in dem Kreis. Sie beschrieb die Ereignisse in ihrem Tagebuch: »Eben saß Ma noch mit uns zusammen wie eine von uns. Im nächsten Moment war sie völlig verändert. Sie fing an, sich in rhythmischem Schwingen zu bewegen. Ihr Sari rutschte ihr vom Kopf herunter. Ihre Augen waren geschlossen und ihr ganzer Körper schwang im Rhythmus des Kirtan. In diesem Schwingen stand sie auf, oder vielmehr war es, als würde sie bis auf die Zehenspitzen hochgezogen. Es sah aus, als hätte Ma ihren Körper verlassen, der zu einem Instrument in den Händen einer unsichtbaren Kraft geworden war. Uns allen war klar, daß kein eigener Wille hinter ihren Bewegungen stand. Ma schien ihre Umgebung vergessen zu haben. Wie vom Wind getragen tanzte sie im Kreis durch den Raum. Manchmal fiel sie beinahe zu Boden, aber schon stand sie wieder auf den Füßen, wie ein Blatt, das herunterfällt und dann von einem neuen Windstoß hochgewirbelt und weitergeweht wird. Ihr Körper schien Gewicht und Masse verloren zu haben. Auf diese Weise überquerte Ma die Veranda und betrat den Saal. Ihre Augen blickten dabei ohne je mit der Wimper zu zucken nach oben, und auf ihrem Gesicht glühte ein wunderbares Licht. Bevor die Menge bemerkte, daß Ma in ihrer Mitte war, fiel sie zu Boden, aber sie schien sich nicht  verletzt zu haben. Wie ein trockenes Blatt im Wind wirbelte ihr Körper mit enormer Geschwindigkeit über den Boden. Einige Frauen versuchten sie festzuhalten, aber sie wurden abgeschüttelt. Diese schnelle Bewegung war absolut nicht zu kontrollieren.
      Nach ein paar Sekunden wurde ihr Körper von selbst still. Ma setzte sich auf. Ihre vollkommene Ruhe war ebenso erstaunlich wie vorher ihre stürmische Bewegung. Ihr Gesicht leuchtete, ihre ganze Umgebung war von einem Glanz erfüllt.«
      Didi berichtet, daß den ganzen Tag eine Stimmung erhabener Freude vorherrschte. Die Kirtan singenden Männer waren zu ihren höchsten Anstrengungen inspiriert. Als der Abend nahte, hatte Ma wie der schöne Bhavas, ähnlich denen, die man aus Büchern über Shri Gauranga Mahaprabhu und Shri Ramakrishna Paramahansa kannte. An diesem Tag hatte auch zum ersten Mal eine ganze Versammlung das Glück, aus ihrem Mund strömende Mantras in einer feierlichen, wie Sanskrit klingenden Sprache zu hören. Alle hörten in gebanntem Schweigen mit gefalteten Händen und gesenkten Köpfen zu.
      Später am Abend, als es Zeit zum Essen war, schien dieselbe Ma wie der eine ganz andere Person zu sein. Zusammen mit Didi servierte sie den in Reihen auf dem Boden sitzenden Gästen zügig und schnell das Essen. Man konnte sich kaum vorstellen, daß sie dieselbe war, die kurz zuvor in ekstatischer Trance gelegen hatte.

In den nächsten zwei Jahren hatten die Devotees in Dacca noch oft Gelegenheit, die Bhava-Zustände zu sehen, die sich an Ma‘s Körper manifestierten. Dazu bedurfte es nicht immer eines Kirtan als äußeren Anlasses, auch wenn sie gewöhnlich dabei eintraten. Die Augenzeugen sagen, Ma‘s Bhavas seien mit Worten nicht zu beschreiben. Form und Stoff ihres Körpers, ihre Hautfarbe, ihr Gesichtsausdruck unterlagen unglaublichen Veränderungen. Ihre Handlungen, Gesten und ihr Gesichtsausdruck wechselten schneller, als die Beobachter verfolgen konnten. Sie bewegte sich blitzartig. Es war fast unmöglich, ihr zu folgen, wie sie sich durch die Menge glitt. Schon ein kurzer Blick auf die unvergleichliche Schönheit dieser Darbietung ekstatischer Stimmung berückte alle Zuschauer.
      Bisweilen schien ihr Körper ganz im Einklang mit den Vorgängen in ihrer Umgebung. Die kleinen Wellen, die ein Boot hinter sich läßt, zogen sie an, so daß ihr Körper zum Wasser hinzufließen schien. Beim Treppensteigen gewann ihr Körper eine federnde Leichtigkeit, als schwebte sie empor. Wenn ein plötzlicher Sturm sie überraschte, glich ihr Körper einem vom Wind aufgeblähten Tuch. Stürme versetzten sie in Hochstimmung. Manchmal mischte sich ihr schallendes Lachen (Attahasa) mit den Geräuschen der Elemente zu einer majestätischen Symphonie der Natur.
      Nach dem Bhava lag Ma oft stundenlang reglos auf dem Boden. Man vermutete sie in einem Yoga-Zustand des Samadhi. Nicht nur nach einem Bhava, sondern mitten in einem Gespräch oder bei der Arbeit konnte ihr Blick plötzlich in weite Ferne gehen und ihr Körper wie zu einer Statue erstarren. Oder ihre Augen schlossen sich, und ihr Körper sank zu Boden. Wie die langsam im Westen untergehende Sonne schwanden dann nach und nach alle Lebensfunktionen dahin, als ob sie sich nach innen zurückzögen. Der Atem verlangsamte sich und kam schließlich ganz zum Stillstand. Ihre Glieder wurden mitunter steif wie Holz, und dann wieder schlaff wie Lappen. Nach zehn, zwölf oder vierundzwanzig Stunden in einem solchen Zustand versuchte man sie zu wecken, aber meist vergeblich. Jyotish Chandra Rai berichtet: »Ich selbst massierte ihr Hände und Füße und versetzte ihr einige derbe Schläge darauf, aber sie reagierte nicht. Viele Ärzte versuchten, ihren Puls zu fühlen oder Zeichen von Atemtätigkeit zu entdecken, aber anscheinend waren beide Funktionen für viele Stunden aufgehoben.«
      Ma wachte von selbst auf - ihr Atem kehrte zuerst ganz fein, später kräftiger zurück. Ihre Glieder oder Muskeln zeigten eine schwache Regung. Doch bald versank sie wieder in Reglosigkeit. In diesem Stadium reagierte sie, wenn man sie rief oder ansprach. Didi schreibt, der Unterschied zwischen ihrem normalen Zustand und ihrem Samadhi sei nur graduell gewesen. Selbst bei der normalen Hausarbeit schien sie von ekstatischer Freude erfüllt. Wenn man sie längere Zeit nicht ansprach und ihr keine Fragen stellte, wurde ihre Aussprache undeutlich und lispelnd, als koste es sie eine Anstrengung, die Stimmbänder zu gebrauchen. Didi schreibt: »Es erstaunte mich, daß Ma so mühelos in einem Dauerzustand der Gottestrunkenheit bleiben konnte, einem Zustand, den Sadhakas zu allen Zeiten ersehnten. Nein, Gottestrunkenheit ist nicht das richtige Wort - ich habe keine Worte für einen so erhabenen und zugleich so normalen Zustand.«