Vorwort des deutschen Herausgeber

Das Buch „Feste und Fastentage im Hinduismus“ ist einzigartig im deutschen Sprachraum. Es ist unseres Wissens das erste Buch in deutscher Sprache überhaupt, das ausschließlich der Beschreibung indischer Feste gewidmet ist.

Das Buch ist nicht von einem Indologen, Völkerkundler oder Reise-Berichterstatter geschrieben. Es ist vielmehr geschrieben von Swami Sivananda (1887-1963), einem indischen Mönch und Yogameister, der selbst in der Tradition des Hinduismus wurzelte und in seinem Ashram (Ort, an dem Yoga gelebt und gelehrt wird) diese Feste feierte und spirituell mit Leben füllte. Swami Sivananda schreibt als ein selbstverwirklichter Weiser. Seine Worte tragen die Kraft seiner Verwirklichung und gehen direkt zum Herzen des Lesers.

Ursprünglich war dieses Buch wohl als Anleitung für seine indischen Schüler gedacht, wie sie die jeweiligen Feiertage zelebrieren und deren tiefere Bedeutung verstehen können. Es ist ja überall auf der Welt so: Religiöse Feste basieren auf tiefen spirituellen und psychologischen Einsichten. Irgendwann werden sie zu reinen Gebräuchen, die von den Menschen weiter ausgeführt werden, ohne allerdings wirklich in ihrem Sinn verstanden zu werden. Und so braucht es immer wieder spirituelle Meister und Meisterinnen, die die religiösen Überlieferungen für ihre Zeit wieder in Verbindung mit spirituellen Wahrheiten bringen. Swami Sivananda war so ein Meister. Und sein Ashram war (und ist) dabei multikulturell bzw. multireligiös: Neben den hinduistischen wurden auch christliche, buddhistische und muslimische Feste gefeiert. Swami Sivananda selbst war auf eine christliche Missionsschule gegangen und hatte westliche Medizin studiert. Swami Sivananda schrieb Bücher über Christentum, Jesus, Islam und andere Religionen. Seine feste Überzeugung war, dass alle Religionen den gleichen Kern haben. Und dass Yoga dazu verhilft, die Essenz der jeweiligen Religion zu erfahren.

Dieses Buch wird verschiedene Menschen ansprechen:
– Der Indienreisende findet hier Erläuterungen der indischen Feiertage, wie sie in keinem Reiseführer stehen. Er kann dadurch vom Beobachter zum echten Teilnehmer werden, insbesondere, da die Hindus in den meisten Teilen Indiens ja jeden auch ohne Missionsversuche an ihren reichhaltigen Festen teilhaben lassen. Auch außerhalb der indischen Feste erschließt dieses Buch die tiefe Bedeutung der hinduistischen Symbolik und Gebräuche, welche überall in der indischen Kunst, in Tempeln, aber auch moderner indischer Pop-Kultur gegenwärtig sind.

– Alle, die mehr über den Hinduismus wissen wollen, finden hier einen reichen Wissensschatz. Hinduismus ist vielleicht die unbekannteste der großen Weltreligionen, und noch dazu eine mit keinem allzu guten Ruf. Dabei ist der Hinduismus die zweit- oder drittgrößte Weltreligion. Und im Zuge der Globalisierung sind Hindus und auch hinduistische Tempel in vielen deutschen Städten zu finden. Seit der „Greencard“ für Computer-Programmierer nimmt dieser Trend weiter zu. Um auf einer kleiner werdenden Erde friedlich zusammenleben zu können, ist ein freundliches Kennenlernen unabkömmlich.

– Der im deutschen Sprachraum aufgewachsene Hindu erfährt mehr über seine Religion und ihre Gebräuche.

– Alle Yoga-Übenden: Zwar machen Yoga-Körperübungen niemanden zum Hindu. Angehörige aller Religionen wie auch Atheisten können Yoga üben. Aber Yoga ist auf dem Boden des Hinduismus gewachsen. Und den einen oder anderen tieferen Einblick in die Yoga Asanas (Stellungen) erhält man, wenn man mehr über Mythologie und Symbolik des Hinduismus erfährt.

– Alle Aspiranten gleich welcher Richtung, die spirituelle Praktiken für ein stetes Voranschreiten auf ihrem Weg üben: Die Feste im Hinduismus stehen sehr oft in Verbindung mit dem spirituellen Weg. Meistens symbolisieren sie bestimmte Aspekte, Stufen oder Phasen dieses Weges. Und gerade hier sind die Erklärungen Swami Sivanandas sehr hilfreich. Der/die eine oder andere wird sich an der einen oder anderen Stelle beim Lesen wiederfinden.

– Liebhaber von Geschichten, Märchen und Mythen: In diesem Buch wird die reichhaltige Mythenwelt des Hinduismus leicht nachvollziehbar erschlossen.

Dieses in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Indien geschriebene Buch ist auch aus einem weiteren Grund für den Menschen des 21. Jahrhunderts in Mitteleuropa wichtig: Seit den sechziger Jahren sind viele alte Gebräuche und überlieferte Feste in Vergessenheit geraten oder ihrer religiös-spirituell-psychologischen Bedeutung beraubt worden. Psychologen verschiedener Schulen beklagen die Abwesenheit von sinnstiftenden Ritualen im modernen Alltag. Die Beschäftigung mit den Ritualen fremder Kulturen kann da Abhilfe schaffen. Sei es, dass man sich seine „persönlichen“ Feste aus verschiedenen Religionen zusammenstellt, zu denen man dann einen tiefen Bezug entwickelt und die man auf seine eigene Weise zelebriert.
Sei es, dass man wieder tieferen Zugang zu den Festen des eigenen Kulturkreises findet.

Ähnlich gehen wir in den Yoga Vidya-Seminarhäusern wie auch Yoga Vidya-Zentren damit um. Als spirituelle Gemeinschaft feiern wir die Feste Weihnachten, Ostern und Pfingsten mit Bibellesungen und einer Mischung aus christlichen und selbst weiter entwickelten Bräuchen (und der eine oder andere mit Kirchgängen). Und wir feiern die Feste Shivaratri, Guru Purnima, Krishna Janmashthami (Jayanthi), Ganesha Chaturthi, Navaratri und Diwali (Dîpavali) auf unsere eigene Weise. Wer also einmal ein indisches Fest richtig klassisch miterleben (und nicht bloß betrachten) will, kann sich bei uns erkundigen, wann das möglich ist1 und ist gerne eingeladen.

Das Buch heißt „Feste und Fastentage im Hinduismus“. Dies drückt zwei Aspekte des spirituellen Weges aus: „Fest“ symbolisiert die Dankbarkeit für die Fülle der Schöpfung, die Schönheit des sinnlich Erlebbaren, des Großartigen. „Fasten“ symbolisiert die Selbstbeherrschung, die Askese, das systematische Arbeiten am eigenen spirituellen Fortschritt. Fast jede spirituelle Tradition hat beide Elemente. Und je nach Feiertag steht mehr das Fasten oder mehr das Festliche im Vordergrund.

Ein Wort zum hinduistischen Gottesbild: Im Hinduismus gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Gottesvorstellungen und Glaubensvorstellungen. Die vedantische Tradition von Swami Sivananda ist dabei Adwaita, das heißt unteilbar: Es wird davon ausgegangen, dass es nur einen einzigen Gott gibt, der transzendent alles Begreifen übersteigt, der sich manifestiert als die Schöpfung, zu dem man als den Schöpfer aller Dinge eine persönliche Beziehung aufbauen kann, und den man in der Meditation als das eigene Selbst und das Selbst aller Wesen erfahren kann. Dabei werden die verschiedenen „Götter“ wie Vishnu, Shiva, Brahma, die göttlichen Inkarnationen wie Rama und Krishna, ja auch die „Göttinnen“ wie Durga, Kali, Lakshmi und Saraswati als Aspekte des gleichen göttlichen Prinzips gesehen. Die vedantische Tradition, aus der Swami Sivananda die einzelnen Feiertage interpretiert, ist also nicht polytheistisch sondern monotheistisch.

Hier soll ein kleiner Versuch gewagt werden, die einzelnen Götter, also Aspekte der einen Wahrheit, in Beziehung zu setzen:

Brahman = das Absolute, Eigenschaftslose, Unendliche, Unfassbare

Ishwara = der persönliche Gott, der die Welt in seiner Manifestation als Brahma schafft, als Vishnu erhält und als Shiva zerstört

Brahma ist der Schöpfer. Er wird vor allem in seiner weiblichen Gestalt als Saraswati verehrt.

Vishnu ist der Erhalter, der Dharma, die rechtmäßige Ordnung, immer wieder herstellt. Er wird auch gerne für den Weltfrieden angerufen. Vishnus weiblicher Aspekt ist Lakshmi, die Göttin der Schönheit, der Fülle und des Wohlstands. Vishnu inkarniert sich immer wieder aufs Neue in menschlicher Gestalt. Rama und Krishna sind die bekanntesten Inkarnationen. Ramas Frau ist Sita, Krishnas weibliche Aspekte sind Radha und Rukmini. Hanuman, der Verehrer und Diener Ramas, oft als Affengott bezeichnet, gilt als der ideale Gottesverehrer.

Shiva ist der Zerstörer, der Vernichter alles Negativen, der Herr der Zeit. Er gilt als erster Meister des Yoga, als derjenige, welcher in der Meditation nach innen führt. Sein weiblicher Aspekt ist Durga, auch Shakti genannt. Durga in ihrer freundlichen Natur wird als Parvati bezeichnet, in ihrer furchterregenden Gestalt als Kali. Durga und Shiva haben zwei Kinder: Der elefantenköpfige Ganesha gilt als Überwinder aller Hindernisse, insbesondere, um alles Segensreiche anfangen zu können. Der sechsköpfige Skanda, auch Subramanya oder Sharavanabhava genannt, besiegt als Heerführer der Engelswesen die Dämonen.

Dattatreya gilt als Inkarnation von Brahma, Vishnu und Shiva und als einer der Ur-Gurus.

Verehrt werden des weiteren Meister wie Veda-Vyasa, Shankara, Appayya Dikshitar, das Prinzip des Gurus (spiritueller Lehrer) an sich, Engelswesen wie die ChitraGuptas, Schriften wie die Veden und die Bhagavad Gita, Naturphänomene wie Ganga (Ganges) und Himalaya, die Vorfahren, Mantras wie das Gayatri Mantra und Himmelskörper wie Sonne und Mond. Letztlich wird dadurch symbolisiert, dass in allen Aspekten der Schöpfung das Göttliche zu sehen ist.

Die zahlreichen Sanskritbegriffe2 sind im Glossar im Anhang des Buches erläutert. Im Text haben die Übersetzer in den meisten Fällen jeweils hinter die Sanskritbegriffe die deutsche Bedeutung in Klammern gesetzt bzw. Fußnoten zum besseren Verständnis der Hintergründe und Zusammenhänge für Nicht-Hindus hinzugefügt. Bei den Übersetzungen und Erklärungen wurden das Spirituelle Wörterbuch Sanskrit-Deutsch von Martin Mittwede3 zu Rate gezogen sowie Capeller’s Sanskrit-English Dictionary aus dem Internet.

Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit haben wir uns statt der streng wissenschaftlichen für die vereinfachte Sanskrit-Transkription entschieden, wie sie auch in Indien umgangssprachlich üblich ist, mit einigen Anpassungen an die deutsche Aussprache.

Aussprachehinweise:
• ch ist wie tsch zu sprechen
• sh wie sch
• j wie dsch
• â, î, û kennzeichnen lange Vokale
• o und e sind im Sanskrit immer lang zu sprechen
• h wird immer als deutlich hörbarer Hauchlaut gesprochen

Bei einigen Sanskritbegriffen, die sich im Deutschen inzwischen üblicherweise so eingebürgert haben, wird vom ursprünglichen Geschlecht abgewichen und das im Deutschen vorherrschende verwendet, z.B. „das Mantra“ statt „der mantra“ oder „die Asana“ statt „das asana“.

Dort, wo sich ein Personalpronomen eindeutig auf „Gott“ bezieht, ist es groß geschrieben, z.B. „… wer Mich erkennt“ oder „… bin Ich in allem…“.

Eine weitere Schwierigkeit im Deutschen ist die Verwendung von männlich/weiblich. In der Mehrzahl der Fälle haben wir uns für die früher in Deutschland übliche Verwendung des Männlichen als Synonym für männlich und weiblich entschieden. Dies erleichtert sicher ebenfalls die Lesbarkeit. Wenn also im Text von „der Verehrer“, „der Meister“, „der Schüler“ die Rede ist, schließt das immer „die Verehrerin“, „die Meisterin“, „die Schülerin“ mit ein. Der Leser/die Leserin möge dies verzeihen, wenn das gegen sein/ihr Empfinden geht.

Dieses Buch ist eine Gemeinschaftsarbeit von vielen Menschen. Die Übersetzung war keine einfache Aufgabe: Das Buch ist ursprünglich geschrieben für den Inder, der mit den Festen und vor allem auch mit der Sanskritsprache vertraut ist. Dies zu übersetzen, dem Originaltext treu zu bleiben und dennoch für den Mitteleuropäer verständlich zu sein, war nicht einfach. Ich meine, es ist jedoch vorzüglich gelungen. Allen Beteiligten sei hier Dank ausgesprochen: Eva-Maria Joelli und Susanne Oberheidtmann für die Rohübersetzung, Shankari Daniela Zeller, Padmavati Christine Bressel, Narayani Iris Alves und Lalita Heike Gökkel für die Überarbeitungen, Atmajyoti Joachim von Geisau und Dorothea von Geisau für die Korrekturen sowie Suguna Langer für die letzten Korrekturen.

Danke auch Swami Jivanmuktananda und Swami Nirliptananda von der Divine Life Society Rishikesh, Indien, für die Erlaubnis, diese Übersetzung herauszubringen. Ich wünsche der Leserin/dem Leser viel Freude und Inspiration mit diesem Buch.

Oberlahr im April 2002
Sukadev Volker Bretz
1. Vorsitzender Berufsverband der Yoga Vidya Lehrer/innen

1. Tel. 02685/8002-0
2.
Sanskrit: gilt als eine der ältesten, wenn nicht die älteste Sprache der Welt. Es ist keine Sprache, die heute noch gesprochen wird, obwohl Hindi ihr in vielem verwandt oder gleich ist. Die Mantras und die alten religiösen Texte sind in Sanskrit verfasst.
3. Erschienen bei Sathya Sai Vereinigung e.V., Dietzenbach, ISBN 3-932957-02-4