Goraksha Shataka

 

Vers 69: Dharana über das Element Erde

 

Man lenke seinen Lebensatem zusammen mit dem Geist auf das im Herzen befindliche (Element) Erde, halte ihn dort zwei Stunden lang (und visualisiere das Element Erde als ein) wie ein Stück Auripigment (gold-)gelb leuchtendes Viereck, darin den auf einer Lotusblüte sitzenden (Gott Brahma), zusammen mit dem Laut LA(M). Diese Konzentrationsübung auf (das Element) Erde macht unbeweglich und verleiht jederzeit die Meisterschaft über (das Element) Erde.


    या पृथ्वी हरितालदेशरुचिरा पीता लकारान्विता
    संयुक्ता कमलासनेन हि चतुष्कोणा हृदि स्थायिनी |
    प्राणं तत्र विनीय पञ्चघटिकाश्चित्तान्वितं धारये-
    देषा स्तम्भकरी सदा क्षितिजयं कुर्याद् भुवो धारणा || ६९ ||


    yā pṛthvī hari-tāla-deśa-rucirā pītā la-kārānvitā
    saṃyuktā kamalāsanena hi catuṣ-koṇā hṛdi sthāyinī |
    prāṇaṃ tatra vinīya pañca-ghaṭikāś cittānvitaṃ dhārayed
    eṣā stambhakarī sadā kṣiti-jayaṃ kuryād bhuvo dhāraṇā || 69 ||

    ya prithvi hari-tala-desha-ruchira pita la-karanvita
    samyukta kamalasanena hi catush-kona hridi sthayini |
    pranam tatra viniya pancha-ghatikash chittanvitam dharayed
    esha stambhakari sada kshiti-jayam kuryad bhuvo dharana || 69 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

    : (dort) wo ("was, welche", Yad)
    pṛthvī : (das Element) Erde (Prithvi)
    hari-tāla-deśa-rucirā : glänzend; prächtig, schön (Ruchira) wie ein Stück (Desha) Auripigment, Arsen(III)-sulfid (Haritala)
    pītā : gelb, gelblich (Pita)
    la-kārānvitā : versehen, zusammen (Anvita) mit dem Laut La (Lakara)
    saṃyuktā : zusammen, verbunden (Samyukta)
    kamalāsanena : mit (Gott) Brahma, ("dessen Sitz eine Lotusblüte ist", Kamalasana)
    hi : gewiss (Hi)
    catuṣ-koṇā : viereckig, in viereckiger Form (Chatushkona)
    hṛdi : im Herzen, im Herzchakra (Hrid)
    sthāyinī : sich befindet (Sthayin)
    prāṇam : den Lebensatem, die Lebensenergie (Prana)
    tatra : dort, dorthin (Tatra)
    vinīya : lenkend, richtend ("gelenkt habend", vi + nī)
    pañca-ghaṭikāḥ : für fünf (Pancha) Ghatikas (Zeiteinheiten à 24 min), d.h. zwei Stunden lang (24 min x 5 = 120 min)
    cittānvitam : zusammen (Anvita) mit dem Geist (Chitta)
    dhārayet : man halte fest, halte zurück, konzentriere (dhṛ)
    eṣā : diese (Etad)
    stambhakarī : unbeweglich machende (Stambhakara)
    sadā : immer, jederzeit (Sada)
    kṣiti-jayam : die Herrschaft, Meisterschaft ("Sieg", Jaya) über (das Element) Erde (Kshiti)
    kuryāt : verleiht, bewirkt ("macht", kṛ)
    bhuvaḥ : über (das Element) Erde (Bhu)
    dhāraṇā : Konzentration(sübung), Visualisierungstechnik (Dharana)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit geringen Abweichnungen in der Gheranda Samhita (3.70) überliefert. Es handelt sich (hier und in den folgenden vier Versen) um eine komplexe Konzentrations- und Visualisierungstechnik (Dharana), bei der Geist (Chitta) und Atmung (wörtl.: die Lebensenergie Prana) auf einen Konzentrationspunkt im Körper (bzw. auf ein feinstoffliches Energiezentrum, in diesem Fall das Herzchakra) gelenkt und da für längere Zeit gehalten werden. In diesem inneren Raum werden eine geometrische Form, eine Farbe, sowie die dazugehörige Gottheit visualisiert und das jeweilige, dem Element zugeordnete Bijamantra innerlich rezitiert bzw. "gehört".

Das dem Element Erde (Bhu) zugeordnete Bijamantra ist LAM, das in der Regel mit dem Muladhara Chakra in Verbindung wird. Die im Goraksha Shataka gelehrten Visualisierungstechniken über die fünf Elemente beginnen jedoch im Herzchakra (Anahata Chakra) und steigen mit jedem Element weiter aufwärts bis zum Brahmarandhra.

Das Wort stambha-karī "die unbeweglich machende" kann sich einerseits auf die unbewegliche, stabile Sitzhaltung sowie die angestrebte Unbeweglichkeit des Geistes des meditierenden Yogis beziehen (vgl. die Anm. zu Vers 68). In diesem Sinne wäre stambha-karī gleichbedeutend mit den Adjektiven sthira, niścala bzw. sthāṇu und deren Substantivierungen Sthairya, Nishchalatva bzw. Sthanutva, die alle "Unbeweglichkeit" bedeuten. Insofern diese Dharana über das Element Erde die Herrschaft bzw. den "Sieg" über dieses Element verleiht (kṣiti-jayam), könnte stambha-karī auch ein Verweis auf die als Stambhana bezeichnete magische Fähigkeit des "Festbannens, Lähmens, Unbeweglichmachens" verstanden werden, die in vielen tantrischen Texten erwähnt wird. Diese magische Fähigkeit wurde bspw. benutzt, um bestimmte Gottheiten festzubannen bzw. an der Ausübung ihrer (magischen) Kräfte zu hindern. Zu den Wirkungen der einzelnen Dharanas vgl. auch Vers 74.

In der Gheranda Samhita (3.71) heißt es in diesem Zusammenhang:

    pārthivī-dhāraṇā-mudrāṃ yaḥ karoti ca nityaśaḥ |
    mṛtyuṃ-jayaḥ svayaṃ so 'pi sa siddho vicared bhuvi || 3.71 ||

"Wer diese Mudra (in Form der) Konzentration (Dharana) auf das (Element) Erde (Parthiva) beständig praktiziert, der besiegt von selbst den Tod (Mrityumjaya), der wandelt als ein Vollkommener (Siddha) auf Erden (Bhu)." (GhS 3.71)