Swami Paramananda

Während Bhaijis Krankheit in Almora hatte Ma, wie sie später sagte, das Gesicht eines jungen Sadhu [in einer Vision] ›gesehen‹. Sie wußte, daß sie ihm in naher Zukunft begegnen würde. Wenig später hielt Ma sich in Dehra Dun auf. Eines Tages traf Bholanath den jungen Sadhu, den er bereits aus Uttarkashi kannte, als er gerade den Shri Ramakrishna Ashram verließ. Sie kamen ins Gespräch und gingen zum angrenzenden Shri Anandamayi Ashram hinüber. Ma erkannte ihn als die Person aus ihrer Vision. Dies war Paramananda. Ma sagte zu ihm: »Wann immer du möchtest, kannst du zu mir kommen.« Zu ihren Gefährten bemerkte sie später: »Einer ist gegangen [Bhaiji], ein anderer ist gekommen!«
      Paramananda war noch nicht bereit, sich irgendwo niederzulassen. Er ging nach Uttarkashi, wo Ma ihm wieder begegnete. Ende 1939 suchte er Ma in Vindhyachala auf und blieb bei ihr. Allmählich wurde er ein fester Bestandteil des Ashrams. Sein erstaunliches Organisationstalent wird bis heute bewundert. Über seine Leistungen unter widrigsten Umständen wären viele verblüffende Geschichten zu erzählen. Ma vertraute auf sein Urteil, und man gewöhnte sich daran, daß sie oft sagte: »Fragt Paramananda!«
      Paramananda hatte als zwölfjähriger Junge sein Elternhaus verlassen und den ganzen Himalaya durchwandert. Einmal hatte er sich völlig verirrt und war dann zum Glück auf eine Schafherde gestoßen, die ihm den Weg zum nächsten Dorf wies. Viele Jahre hatte er in Uttarkashi gelebt und mit gelehrten Asketen die heiligen Texte studiert. Noch jetzt erinnern sich wohl alle Devotees an seine Sanftheit, seine absolute Hingabe an Ma und seine unbestrittene Fähigkeit, aus nichts etwas zu machen.
      Ma setzte ihre Reisen im Dezember fort. Diesmal blieb sie über die Weihnachtsferien in Calcutta. Zur Besorgnis ihrer Devotees zeigte sie Symptome körperlicher Krankheit. Sie baten Ma inständig, sich von namhaften Ärzten behandeln zu lassen. Ma willigte ein und bemerkte lächelnd: »Viele Ärzte und Kaviraj Pitajis werden mir Darshan geben!«
      Die Mediziner der westlichen wie der östlichen Schule erwiesen sich allerdings als wenig hilfreich bei Ma‘s Behandlung. Der Kaviraj, der Ma‘s Puls zu messen versuchte, gab nach einer Weile auf. Nie habe er einen Puls gefühlt, der in diesem Moment so wild jage und im nächsten fast zum Stillstand komme. Um seine Verwunderung vollkommen zu machen, streckte ihm Ma ihr Handgelenk entgegen und sagte: »Jetzt werdet Ihr in ganz normal finden.« Dr. Devendra Mukherjee war ebenso verblüfft über das sprunghafte Auftreten und Verschwinden einiger Krankheitssymptome. Nach ein paar Tagen hektischer Bemühungen sagte Ma selbst zu den behandelnden Ärzten: »Die Sache ist die, daß dieser Körper sich nicht an die normalen Regeln guter oder schlechter Gesundheit hält. Manchmal verlangsamt sich seine normale Funktion aufgrund eines mangelnden Kheyala. In diesem Fall ist die Aufnahme von Nahrung nur hinderlich; deshalb stellt Ihr Symptome von Leber- oder Magenstörungen fest. Diese ›Symptome‹ treten jedoch auf, weil der Körper allmählich wieder zu seinem normalen Rhythmus zurückfindet. Dieser Körper leidet nicht an Krankheiten, die ›diagnostiziert‹ oder mit den üblichen Methoden ›kuriert‹ werden könnten.«
      Das hatten die Ärzte bereits selbst eingesehen, und nun gaben sie bescheiden zu, daß Ma‘s Erklärung korrekt sei. Scherzhaft fügte sie hinzu: »Ihr habt vielleicht ein anderes Problem erst hervorgerufen! Die Leute haben gesehen, daß so viele Ärzte konsultiert werden; jetzt werden sie denken, Ma litte an irgendeiner furchtbaren Krankheit und ihre Pfleger versuchten, das vor der Öffentlichkeit zu verschleiern!«
      Nach ihrem ausgedehnten Aufenthalt in Calcutta reiste Ma mit Paramananda und anderen nach Puri und Bhubaneshwar. Mitte März 1940 fuhr sie über Vindhyachal nach Delhi. Die nächsten Monate verbrachte sie an verschiedenen Orten in Nordindien. An der Durga Puja und Kali Puja nahm sie in Dehra Dun teil. Obwohl diese Feste meist von Bengalis gefeiert werden, zog Ma‘s Anwesenheit auch andere an.
      Ende 1940 reiste Ma durch Gujarat, wo sie jetzt wohlbekannt war. Überall hieß man sie herzlich willkommen. Im März 1941 kehrte sie nach Dehra Dun zurück. Den Sommer verbrachte sie in ihren Ashrams in Kishenpur, Raipur und Doonga. Normalerweise nutzten viele Besucher ihre Sommerferien, um bei Ma zu sein. Um diesen Zustrom aufzunehmen, reiste sie im Sommer wenig.

In diesen Jahren verbrachten viele Collegestudenten zusammen mit ihren Eltern die Ferien bei Ma, was die besseren Unterbringungsmöglichkeiten nun erlaubten. Für viele begann ein neuer Lebensstil. Ma selbst kümmerte sich jetzt eingehend um die bequeme Unterbringung der Besucher. Von Anfang an wurden strikte Regeln zur Trennung der jungen Männer von den Mädchen eingeführt. Ma stellte persönlich sicher, daß keine Kritik wegen ungehinderten Verkehrs in ihren Ashrams aufkommen konnte. Einmal sagte sie zu den jungen Leuten: »Mir ist es ganz gleich, ob ich kritisiert werde, aber möchtet ihr von allen Seiten hören, Anandamayis Ashrams seien Orte, wo junge Leute frei zusammenkommen und sich nicht um die Verhaltensregeln traditioneller Familien kümmern?« So lernten alle, die neu hinzukamen, umsichtig zu sein und die Möglichkeit öffentlicher Zensur in Betracht zu ziehen. Manchmal war Ma gezwungen, die Rolle der Herrin einer großen Familie zu spielen, die alle Mitglieder des Haushalts im Auge behalten muß. Selbst wenn sie mit großen Menschenmengen oder besonders geehrten Gästen beschäftigt war, fühlten die jungen Mädchen in der Obhut des Ashrams immer Ma‘s Aufmerksamkeit, auch wenn andre ihnen keine Beachtung schenkten. Einmal fuhr Ma zum Beispiel auf Einladung der Devotees, die in ihrer Stadt das Fest der Durga Puja vorbereitet hatten, nach Bahrampur. Ma und ihre Begleiter, einschließlich der jungen Mädchen Buni und Renu fuhren mit dem Dampfer. Als sie sich der Anlegestelle näherten, wateten Tausende von Menschen Kirtan singend in den Fluß, um Ma auf dem zu diesem Zweck errichteten Podium zu begrüßen. Sie war von einem Meer von Menschen umgeben. Renu und Buni blieben zurück. Sie verloren Ma aus den Augen und wußten nicht, wohin sie gehen sollten. Plötzlich fanden sie sich wieder bei Ma, die durch das Gedränge zurückgekommen war und sie nun an ihre beiden Hände nahm. Sie hielt sie fest, bis sie einen offenen Platz erreichten, wo sie in die Autos stiegen, die sie in die Stadt brachten.
      Bisweilen erklärte Ma ihre Striktheit damit, daß Eltern ihr ihre Töchter anvertrauten und ihr Kheyala daher immer bei ihnen sei. Nur durch Ma‘s kompromißloses Beharren auf Reinheit des Verhaltens blieben die jungen Leute in ihrer Umgebung in ihrer eigenen Tradition der Schicklichkeit verwurzelt. Die heutige Zeit ist freizügig, es ist auch Mode geworden, in Ashrams zu leben. Moderne Ashrams schwimmen mit dem Strom der Zeit. Ma hielt dagegen an den überlieferten Verhaltensnormen fest und inspirierte die jungen Leute mühelos zu Reinheit und Enthaltsamkeit. Ihre einzigartige Stärke lag darin, daß sie eine Atmosphäre der Zusammengehörigkeit schuf. Junge Männer und Frauen arbeiteten bei allen Feiern im Team zusammen, ohne die Schranken einer strikt orthodoxen Gesellschaft zu überschreiten.
In den vierziger Jahren kamIn den vierziger Jahren kam der Weltkrieg auch in die Nähe Indiens. Eines Tages fragte ein Besucher Ma: »Wer wird den Krieg gewinnen? Wird es negative Auswirkungen für Indien geben?« Ma brach in ihr schallendes Lachen (Attahasa) aus. Mit einem Gesichtsausdruck, der nicht von dieser Welt schien, sagte sie: »Gibt es einen Krieg? Wie kann es ohne ›Feind‹ einen Krieg geben? Gibt es denn mehr als Einen, daß da zwei Gegenparteien sein sollten? Der Krieg, von dem du sprichst, ist wie das Klatschen deiner beiden Hände; wie kann also von Sieg oder Niederlage die Rede sein? Es gibt nichts anderes als Ihn. Sein Wille ist es, den du in dieser Form dargestellt siehst. Warum machst du dir Sorgen, Pitaji? Versuche alles, was geschieht, als Manifestation des Göttlichen zu akzeptieren!«
      Ma richtete diese Worte an einen Mann, der solche tiefen Gedanken verstehen konnte. Sie verharmloste nicht das enorme Ausmaß des Kriegsgeschehens. Nach Ansicht ihres bedeutenden Devotees Birendra Chandra spiegelten sich in vielen unerklärlichen Beschwerden Ma‘s die Qualen, die in anderen Teilen der Welt erlitten wurden.
      Die jährliche Geburtstagsfeier fand 1941 in Raipur statt. Wie zuvor führte Manmotho Nath Chatterjee die Tithi-Puja aus. Bholanath selbst hatte ihm in seinem letzten Lebensjahr diese ehrenvolle Aufgabe übertragen.
      Einige Tage vor der Tithi-Puja war Ma in Kishenpur. Spät in der Nacht fand eine Transformation in ihrem Körper statt. Zu dieser Zeit war nur Abhaya in ihrer Nähe. Als er Ma Yoga-Stellungen einnehmen sah, holte er eilends Prajñananda Brahmachari, der damals im Ashram lebte. Auch Didi kam hinzu. Ma‘s ganzer Leib schien von einem natürlichen Rhythmus belebt, dem gehorchend ihre Glieder schöne Positionen einnahmen. Ihre Hände formten viele wunderbar anzusehende Mudras. Dazu sprach sie mit klarer, leiser Stimme verschiedene Mantras. Von ihrem Gesicht ging ein Strahlen aus. Eine erhebende Stimmung verbreitete sich. Die drei Zeugen schauten in ehrfürchtigem Schweigen zu.
      Nach einer Weile blieb Ma ruhig sitzen und sprach leise: »Ich habe Abhaya gebeten, zu Bett zu gehen. Er hat nicht auf mich gehört und außerdem noch Pitaji geweckt. Prajñananda bestritt, daß er irgendwie gestört worden sei; im Gegenteil: er schätze sich glücklich, daß er bei dieser seltenen Gelegenheit habe anwesend sein können. Er sagte: »Ich hatte das Glück, schon vorher einmal in Kunja Mohan Babus Haus in Varanasi ein ähnliches Phänomen zu beobachten. Damals hatte Ma‘s Körper im Samadhi gelegen. Die heutigen Kriyas sind für mich besonders bemerkenswert, weil Ma ansonsten in ganz normalem Zustand zu sein schien. Zur Stärkung des Glaubens ist es unbedingt notwendig, wirklich zu sehen, was in den Schriften beschrieben ist!«
      Ma antwortete: »Auch diese Kriyas sind ganz natürlich. Ebenso natürlich, wie ich lache und umhergehe, sind auch diese Stellungen, die euch so außergewöhnlich scheinen ... Diese Kriyas ergeben sich von selbst. Ich bleibe dabei, wie ich bin.«
      In den vierziger Jahren kamen fast alle Sannyasis und Brahmacharis, die heute wichtige Positionen im Ashram bekleiden, sowie etliche junge Frauen zu Ma. Didis Traum, eine Stätte zu gründen, wo junge Frauen auch aus angesehenen Familien nicht nur bei Ma, sondern auch in einer Institution unbesorgt und angenehm leben konnten, näherte sich der Erfüllung. 1941 wurden sowohl das Vidyapeeth [Knabenschule] in Kishenpur als auch das Kanyapeeth [Mädchenschule] in Hardwar förmlich etabliert.