Swami Krishnananda:

Antwort auf deine Fragen

Kapitel 21

Die Entwicklung der Welt vom Materialismus hin zur Spiritualität

Besucher: Es scheint so, als ob sich die Welt weg von der Spiritualität hin zum Materialismus bewegt. Glaubst Du, daß man diesen Trend umkehren kann?

Swamiji: Was ist der Grund dafür? Wie ist es dazu gekommen? Wenn Du die Ursache dieser Situation nicht kennst, bist Du auch nicht in der Lage, damit umzugehen. Du hast etwas gesagt, was einer genaueren Untersuchung bedarf. Wodurch ist es überhaupt geschehen? Geschah es aufgrund historischer Ereignisse oder ethnischer, anthropologischer, erzieherischer bzw. geographischer Probleme? Irgend etwas hat diese Situation in der Vergangenheit verursacht, und das muß bereinigt werden.

Wenn man darüber nachgedacht hat und die Ursache bekannt ist, wird das Vorgehen einfach sein. Es ist wie bei einer medizinischen Diagnose und einer anschließenden Operation. Der Fall muß zunächst diagnostiziert werden, erst dann kann man überlegen, wie man der Sache begegnet. Du hast über die Krankheit gesprochen, für die es eine Diagnose gibt. Warum glaubst Du an einen solchen Trend?

Besucher: Ich glaube, es geschah, weil die Menschen in Ost und West andere Dinge für wichtiger hielten als die Spiritualität.

Swamiji: Warum sollten sie andere Dinge für wichtiger halten als die Spiritualität? Wie kommt es zu einem solchem Verhalten?

Besucher: Ich glaube, daß Maya (Scheinwelt) sehr attraktiv ist.

Swamiji: Das ist keine gute Antwort. Die Antwort sollte wissenschaftlich genau sein. Maya ist nur ein Wort, das selbst keine Bedeutung hat. Man sollte solche Wörter nicht benutzen. Vergiß sie. Irgend etwas geschah mit ihrem Verstand, so daß sie gezwungen waren, sich in diese Richtung zu entwickeln. Was geschah mit ihnen? Diese Frage hat auch viele Menschen in Indien bewegt, aber nur wenige Menschen haben wirklich darüber nachgedacht. Die Antwort schmeckt vielen nicht, darum wollte man diese Frage überhaupt nicht beantworten.

Das Überbetonen von Wohlstand und materiellen Errungenschaften führt die Menschen zu dem Punkt, den wir gerade besprochen haben. Ist es, vom Standpunkt dieser Menschen aus gesehen, wichtiger nach Wohlstand und materiellen Errungenschaften zu streben, als sich um spirituelle Fortschritte zu bemühen? So zu denken bedeutet, daß bei diesen Menschen etwas vom Grundsatz her falsch ist. Die Krankheit ist tief verwurzelt. Sie haben das ganze Leben gründlich falsch verstanden. Um es kurz zu fassen, sie benötigen eine vollkommen neue Erziehung. Müßte man diese Menschen von Grund auf neu erziehen? Ich bin nicht dagegen. Man sollte sie alle neu erziehen. Aber wer will den Menschen das klarmachen? Wer will das durchführen?

Besucher: Leute wie Swami Sivananda und Swami Chinmayananda haben damit bereits begonnen.

Swamiji: Ja. Sie haben darin Großes geleistet und viele andere große Seelen wie Shri Aurobindo ebenfalls. Shri Aurobindo hat sich in der Wiederbelebung der wahren Werte seines Landes hervorgetan, so wie er es in seinen Schriften immer wieder betont hat. Er hat ein Buch über die „Grundlagen der Indischen Kultur“ geschrieben. Dieses Buch ist eine Pflichtlektüre für jedermann. Er versteht Indien wie kein anderer, - er verdient die größte Hochachtung.

Indien ist irgendwie von Gott gesegnet. Es hat sich nicht wie andere Nationen wieder aufgelöst, und es sieht nicht danach aus, als ob Indien so einfach sterben wird. Indien hat aufgrund eines Fehlers in der Vergangenheit gelitten; es verlor für einige Jahrhunderte seine Unabhängigkeit, weil es den Wert der irdischen Existenz unterschätzte und sich zu sehr auf die transzendentale Existenz verlassen hatte. Das geschieht, wenn die Liebe zu Gott nicht mit der Pflicht gegenüber der Welt übereinstimmt. Genau das sagte auch Sri Aurobindo, denn Gott half Indien nicht, als es von den weltlichen Kräften angegriffen wurde, weil die Menschen Gott Selbst in Schöpfer und Schöpfung aufteilten. Das Land litt wirtschaftlich, militärisch und sogar in seinem spirituellen Konzept. Doch in seinem Streben nach Transzendenz, obwohl diese durch die Abtrennung von der weltlichen Existenz nicht richtig als vollkommenes Ganzes durchdacht war, war das intensive Verlangen der Seele so stark, daß Indiens Seele überlebte, obgleich es wirtschaftlich und vom Standpunkt der Verteidigungskräfte aus gesehen nicht viel gab, das ihr zur Ehre gereicht hätte.

Es war nicht so einfach, die Idee einer Harmonie zwischen der Welt und Gott durchzusetzen, denn die meisten Menschen Indiens beharren auf der Bedeutung des transzendenten Schöpfers. Gott und die Welt schienen immer zwei unterschiedliche Dinge zu sein und das wird auch so lange in den Köpfen bleiben, wie man in sterblichen Dimensionen denkt. Das umfassende Denken der Integration des Seins, in dem der Schöpfer und die Schöpfung EINS werden, ist die wahre Spiritualität der Upanishaden und der Bhagavad Gita. Doch wer lebt in Indien wirklich im Geist der Upanishaden und der Bhagavad Gita? Viele Menschen vollziehen nur Rituale zu Ehren einiger Gottheiten, die sie aus den Puranas (religiöse Erzählungen), den Epen, den Agamas (theologische Abhandlungen) und den Tantras (rituelle Anleitungen) entlehnt haben.

Wer lebt in Indien nach der Bhagavad Gita? Wer lebt nach den Upanishaden? Wer lebt entsprechend der Veden? Der ganze Hinduismus wird durch das Diktat der Puranas und Epen, von vielen Riten und der Mythologie bestimmt. Aus Einem Gott sind viele Gottheiten geworden, und wir verehren alle diese Gottheiten, ohne uns notwendigerweise bewußt zu sein, daß diese Gottheiten nur Aspekte EINES Gottes allein darstellen. Das Konzept des Einen Absoluten Gottes ist für die Menschen aufgrund der im Verstand erschaffenen Zweiteilung in Mensch und Welt, und in Welt und Gott nur schwer verständlich.

Jetzt hat sich das Blatt gewendet. Indien ist wirtschaftlich stark. Militärisch ist es ebenfalls sehr stark. Aber etwas fehlt immer noch. Wir haben zwar einen starken „Körper“ und viele Werte angehäuft, dennoch scheint es so, als ob wir langsam unsere Seele verlieren. In der Vergangenheit wurde die außerkosmische Seele überbetont und der „Körper“ unterdrückt. Jetzt sorgen wir mehr für unseren Körper, auf den sich unser ganzer Bedarf richtet, aber dafür scheint sich die Seele hinter den Wolken zu verstecken, was hoffentlich nicht für alle kommenden Zeiten so bleiben wird. Wir befinden uns jetzt in einer Zeit des Übergangs. Indien ist als Nation erst fünfzig Jahre alt. In der Geschichte des Universums sind fünfzig Jahre eine kurze Zeitspanne. Der Tag wird kommen, an dem die Welt sieht, wie Indien sich in seiner ganzen Macht und Bedeutung wieder erhebt.

Man nimmt an, daß sich die Kultur von Osten nach Westen verlagert. Vor vielen Jahren waren China und Indien große Kulturnationen. Dann verlagerte sich allmählich das Zentrum der Kultur nach Griechenland, Italien und England. Diese Länder wurden mächtiger als die östlichen Herkunftsländer. Schließlich erreichte es Amerika, - das heute mächtigste Land. Doch die Kultur bewegt sich jetzt in Richtung Japan weiter, das immer mächtiger wird. Letztlich wird die Kultursonne wieder nach Indien in den Osten kommen und es wird denselben Status wie zur Zeit der Veden und Upanishaden erhalten, womit der Zyklus vollendet sein wird. Wir hoffen in Indien auf diese „Morgendämmerung“ mit seiner ganzen Schönheit und Helligkeit und werden mit den Dichtern sagen: „Mit Gott im Himmel und mit der Welt ist alles in Ordnung.“

Besucher: Was steuert die Divine Life Society dazu bei, um den spirituellen Geist lebendiger zu machen, - und um den Menschen die spirituelle Seite des Lebens auf verständliche Weise näher zu bringen?

Swamiji: Der Traum Swami Shivananda’s war die Integration der menschlichen Persönlichkeit zum Zweck der sozialen Integration, um damit schließlich, - was man als kosmische Integration bezeichnen kann, - die Gott-Verwirklichung zu erreichen. Die menschliche Persönlichkeit muß von einer niederen Ebene zu einer höheren Ebene entwickelt werden, um dann in der höchsten Ebene, in die Universalität, integriert zu werden. Shivananda arbeitete dafür, und die ganze Mission der Divine Life Society widmet sich dieser ehrenwerten Aufgabe.

Besucher: Die indische Bevölkerung, die fälschlicherweise die westlichen materiellen Werte zum Maßstab.......

Swamiji: Man kann nicht behaupten, daß dem alle Inder folgen. Die meisten Menschen, die ungenügend orientiert sind, verlieben sich aufgrund der äußeren, erwerblichen Möglichkeiten in die westliche Denkweise. Die Überbetonung dieser, auf Äußerlichkeiten bedachten Lebensart ist aufgrund eines Mißverständnisses über das tatsächliche Lebensziel entstanden, - das sollte besonders in Indien nicht so sein, wo man doch annimmt, daß sich dort die Wiege der alten Kultur befindet.

Äußerlichkeiten machen keinen Menschen aus. Es ist die ganze menschliche Erscheinung, die eine Persönlichkeit ausmacht. Ich will damit nicht sagen, daß äußere Möglichkeiten und Komfort unnötig sind, aber der Mensch lebt nicht nur mit diesen Äußerlichkeiten. Obgleich Äußerlichkeiten notwendig sind, sind sie doch nur eine Beigabe zur vollkommenen Persönlichkeit. Die Überbetonung nur eines Aspektes der Persönlichkeit bedeutet, daß man nur eine Seite der menschlichen Natur bedenkt und die andere Seite vollständig vergißt.

Du hast einen physischen Körper und bist eine soziale Einheit, ein politisches Individuum, eine biologische Struktur, ein psychisches Ganzes, ein Intellekt, eine Vernunft und ein Geist. Alle diese menschlichen Aspekte müssen mit der ihr eigentümlichen „Nahrung“, die wir Erziehung nennen, versorgt werden. Jeder vernachlässigte Aspekt führt zu einer Reaktion und damit zu den Schwierigkeiten im Leben.

Die Erziehung stellt den praktischen Lebensweg dar, den man jeden Tag, jede Minute, jeden Augenblick anwendet, wobei man alle Aspekte mit allen persönlichen Beziehungen zur Welt einbezieht. Dieses ist erforderlich, um mit seiner ganzen Persönlichkeit von einer niederen Stufe in eine höhere Dimension hineinzuwachsen, bis die höchste Dimension des SEINS, die Universelle Existenz, erreicht ist.

Besucher: Wie können die Menschen in der Praxis auf all diesen Ebenen erzogen werden ?

Swamiji: Die technologische Vorgehensweise in der Erziehung der Menschen muß von einem kompetenten Lehrer gut vorbereitet werden. Genauso wie man es in Ausbildungsstätten, Schulen und Hochschulen handhabt, haben wir in unseren Ashram’s Lehrer, Mentoren und spirituelle Führungspersönlichkeiten, die manchmal Gurus genannt werden. Das Studium des Lebens wird unter einem kompetenten Meister in einer Institution wie zum Beispiel der Divine Life Society durchgeführt. Es ist eine ganz persönliche Angelegenheit. Wenn man sich für ein Fach bei einem Professor einer Universität einschreibt, muß man sich nach dem Lehrplan für diesen Ausbildungsgang richten, am Unterricht teilnehmen und während der ganzen Ausbildungszeit mit seinem Lehrer in ständigem Kontakt bleiben.

Während der Ausbildung werden die Schüler schrittweise durch den ganzen Denkprozeß ihres täglichen Lebens geführt. Dieses wurde von Swami Shivananda weit mehr durch sein persönliches Lebensbeispiel als durch seine Worte und geschriebenen Bücher propagiert. Beispiele sind besser als Gebote. Das Leben des Lehrers, die Art und Weise wie er lebt, seine persönliche Ausstrahlung, sind Objekte der Beobachtung und für das Studium vorteilhafter als die geschriebenen Bücher des Lehrers. Dieses ist die Methode, die wir hier im Ashram der Divine Life Society anwenden. Es gibt in Indien noch viele solcher Ashrams. Die Divine Life Society ist nur ein Beispiel.

Besucher: Welche Botschaft hast Du für den westlichen Menschen, damit er sich dem spirituellen Leben nähern und diese Spiritualität in seinem Umfeld lebendig werden lassen kann?

Swamiji: Zuerst muß man lernen, ganzheitlich zu denken. Man muß lernen, wie man ganzheitlich und nicht bruchstückhaft denkt. Ganzheitliches Denken bedeutet, an alles zur selben Zeit zu denken.

Die Kunst des ganzheitlichen Denkens bedeutet, in den Räumen des kosmischen Geistes zu denken. Ein ganzheitlicher Gedanke beinhaltet jeden Aspekt des Lebens, denn Spiritualität schließt alles ein. Das Objekt eines ganzheitlichen Gedankens schließt das vollkommene Verständnis der Existenzstruktur ein. Dieses verstehen wir letztendlich auch unter Yoga. Dieses ist Spiritualität, wirkliche Religion und die Pflicht eines jeden Menschen in seinem täglichen Leben, und dies praktizieren und lehren wir, soweit es in unserer Macht steht.

Besucher: Welches sind die Stufen, die jemand bis zum ganzheitlichen Denken durchlaufen muß?

Swamiji: Man muß einen Menschen von der niedrigsten zur höchsten Stufe führen. Zuerst müssen die Verwicklungen eines Menschen verstanden werden. Es gibt da politische, soziale, finanzielle, biologische und familiäre Verwicklungen. Darauf muß man zuerst Rücksicht nehmen. Zunächst darf man über nichts anderes sprechen. Die Menschen leiden sehr unter diesen Dingen und sorgen sich weniger um die anderen Angelegenheiten. Wenn diese Dinge klar sind, dann kann man sich um die psychologischen Verwicklungen, wie zum Beispiel den Verstand, Intellekt, Prana (Lebensenergie) und die Arbeitsweise des Körpers kümmern.

In der dritten Stufe geht es um die Einstimmung der Persönlichkeit mit der Natur des Ganzen, d.h., um den ganzen astronomischen Kosmos, mit dem man ebenfalls in Harmonie leben muß. Man kann sich nicht mit Sonne, Mond und Sternen anlegen. Sie bestimmen ebenfalls den Lebensweg auf eine bestimmte Art und Weise. Wenn dieses ebenfalls sorgfältig beachtet wird, dann zentriert man seine Seele in den Geist des spirituellen Kosmos, des Allmächtigen Gottes. So kommt man von außen nach innen. Von innen geht man in die Natur als Ganzes (Schöpfung) und kommt dann mit dem Absoluten in Berührung. Das ist der Weg, auf dem man schrittweise vom niederen Ganzen zum höheren Ganzen und zum Höchsten Ganzen, dem Absoluten, zu Gott gelangt.