Ma und der Sadhu-Samaj (Unterkapitel)

Von Wardha fuhren Ma, Didi, Abhaya, Hari Ram Joshi und Paramananda nach Sagar. Einige ältere Angehörige des Königshauses von Nepal, mit denen Hari Ram bekannt war, hatten sich dort zur Ruhe gesetzt. Er nahm Kontakt mit der älteren Rani auf, die nur zu glücklich war, etwas für Ma tun zu können. Sie wollte sie in ihrem Palast beherbergen, respektierte aber Ma‘s Wunsch, sich an einen abgelegeneren Ort zurückzuziehen. Die Rani brachte sie zu einer kleinen Dharmashala im Schatten eines riesigen Banyan-Baums am Ufer des Vyas. Nachdem Ma, Didi und Abhaya sich dort eingerichtet hatten, fuhren Hari Ram und Paramananda nach Raipur. Auch die Rani nahm Abschied und bot noch einmal jede mögliche Hilfe an.
      Ma verbrachte an diesem Rückzugsort zwei stille Wochen. Dieser Aufenthalt ist besonders erinnernswert, weil dort mehrfach Mantras spontan aus Ma‘s Mund strömten. Beinahe täglich artikulierte sie diese Silben einer göttlichen Sprache (Deva-Bhasha) von unbeschreiblicher Schönheit in ihrer rhythmischen Abfolge und erlesenen Melodie. Abhaya bemühte sich, einige Verse niederzuschreiben, aber es gelang ihm nicht, die Klangformen adäquat wiederzugeben.
      Die immer praktisch denkende Didi versuchte, Ma‘s Aufmerksamkeit auf ihre Korrespondenz zu lenken. Normalerweise wurden Ma die an sie gerichteten Briefe vorgelesen, wenn möglich am selben Tag, und ihre Antworten wurden wörtlich festgehalten. Wer den Brief vorlas, war auch dafür verantwortlich, die Antwort abzuschicken. Manchmal war Ma so beschäftigt, daß sie sich nur ein paar dringende Briefe anhören konnte; die Briefe sammelten sich dann in einem Beutel an. Es ist vorgekommen, daß ein Brief erst nach sechs Monaten beantwortet wurde. Der Beutel mit den Briefen war eins der unerläßlichen Gepäckstücke auf Ma‘s Reisen. In späteren Jahren wurden die Briefsitzungen gut organisiert. Ma ließ fünf oder sechs Leute um sich herum sitzen und der Reihe nach Briefe vorlesen. Manchmal wurden sie nach den Sprachen der Absender aufgeteilt.Jeder Vorleser mußte vorbereitet sein, bei langen Briefen die wichtigsten Punkte vorzutragen, sobald er an die Reihe kam. Ma diktierte dann die Antwort. Sie schenkte jedem einzelnen Brief immer ihre ganze Aufmerksamkeit. Manchmal hatte derselbe Absender inzwischen ungeduldig ein halbes Dutzend weitere Briefe geschrieben. Sie alle wurden gewissenhaft verlesen. Die Briefe, die in den Beutel wanderten, waren meist solche, die keiner sofortigen Antwort bedurften. Mit Abhayas Hilfe bemühte sich Didi nun, soviel Korrespondenz wie möglich abzuarbeiten.
      Ma reiste Ende März nach Nordindien ab, besuchte Lucknow, Varanasi, Vindhya-chala, Delhi und fuhr dann nach Dehra Dun, wo sie den ganzen Sommer verbrachte. Im August gab es große Unruhe im Land, als die Führer der Nation verhaftet wurden, nachdem Mahatma Gandhi die Bewegung des zivilen Ungehorsams ausgerufen hatte. Die östliche Kriegsfront war nahe an Indien herangerückt. In der Antwort auf den Brief eines Devotees aus Calcutta sagte Ma: »Es gibt keinen Anlaß zu verzagen. Durch nervöses Warten oder Furcht vor zukünftigen Ereignissen ist nichts zu erreichen. Was immer geschieht, ist das, was zu geschehen hat. Man muß das Gegenwärtige gefaßt ertragen und der Zukunft beherzt entgegensehen.«
      Ende Oktober 1942 verließ Ma den Bezirk Dehra Dun und brach zu einer ihrer üblichen ungeplanten Reisen auf. Die Lebensbedingungen waren unsicher. Die britische Regierung in Indien unterdrückte die Bewegung des zivilen Ungehorsams erbarmungslos. Truppenbewegungen hatten Vorrang. Für Zivilisten war das Reisen mit Ungewissheiten belastet. Mit Überredungskunst Vorbehalte beschwichtigend brach Ma in Begleitung Paramanandas auf, zunächst über Ambala nach Solan, dann an andere Orte. Nach ca. zwei Monaten scheinbar ziellosen Umherreisens kamen sie Anfang 1943 nach Vindhyachala. Der kleine Ashram auf dem Ashtabhuja-Hügel füllte sich sofort mit Gästen aus benachbarten Städten und Tagesbesuchern aus Mirzapur.

In dieser Zeit kam Ma in engen Kontakt mit Shri Prabhudatta Brahmachari von Jhunsi bei Allahabad. Er war in diesem Teil des Landes ein sehr angesehener Mahatma; bekannt war er vor allem durch seine Arbeit an der geistigen Erhebung der Landbevölkerung und durch die Verbreitung hinduistischer Ideen und Ziele. Er kam im März für ein paar Tage nach Vindhyachala in Ma‘s Ashram. Seine Lebhaftigkeit und kindliche Freude an allem wirkte allgemein erheiternd. Er schloß sich sehr eng an Ma an, verbarg seine Ergebenheit aber hinter einer leichthin unverbindlichen Art, die sein besonderer Stil war.
      Danach ging Ma wieder auf Reisen, diesmal nach Calcutta, Dacca und Deoghar. Es waren Blitzbesuche, doch Ma erfreute die Herzen aller ihrer Devotees in diesem Landesteil, der wegen der ungewißen Absichten der Japaner im Hinblick auf die indische Grenze unter besonderer Spannung stand. In Ma‘s Gesellschaft traten alle derartigen Sorgen in den Hintergrund. Während ihres Besuchs konnten sich die Devotees allerorts auf das Zeitlose konzentrieren und die unmittelbaren Anforderungen des Augenblicks vergessen.
      Von Bengalen fuhr Ma über Lucknow an die alte heilige Stätte Naimisharanya in der Nähe von Sitapur. Bei ihrem Eintreffen in Naimisharanya nahm Ma am sakralen Wasserbassin Platz und erwartete, daß ihre Gefährten die Gelegenheit nutzten, alle Tempel in der Nachbarschaft zu besuchen. Doch leider war die magnetische Anziehung ihrer Person stärker als die stille Zugkraft ihrer Lehren. Nach einer Weile stand Ma auf und ging zum nahegelegenen Shivatempel. Sie nahm einen Blütenkranz aus dem Korb des Blumenverkäufers und legte ihn sorgsam auf dem Lingam [Symbol Shivas] nieder. Nun wollten es ihr natürlich alle gleichtun!
      Die Devotees in Delhi wünschten sich, Ma zu Ehren ein Nama-Yajña auszuführen. Auf ihre Einladung kam Ma nach New Delhi. Für ihre Unterkunft war im Haus von Dr. J.K. Sen gesorgt. Dr. Sen war in älterer Herr, der sehr darauf bedacht war, Ma zu dienen. Sein Haus wurde in den folgenden Jahren ein Treffpunkt für die Devotees wie Jyotish Guhas Haus in Calcutta.
      In der letzten Aprilwoche 1943 fuhr Ma nach Almora. Yogibhai hatte den Bau eines schönen Samadhi-Mandir [Grabtempel] über Bhaijis letzter Ruhestätte in Patal Devi und eines kleinen Hauses daneben finanziert. Es war eine abgeschiedene Stelle am Fuß des Hochgebirges. Ein anderes Haus wurde für den Fall, daß Ma längere Zeit bliebe und Besucher in großen Scharen kämen, angemietet.
      Almora beherbergte damals eine berühmte Tanzschule, Uday Shankars Kulturzentrum, das nicht weit von Patal Devi entfernt war. Ein festes Freundschaftsband wurde zwischen den Angehörigen der Schule und den Bewohnern des Ashrams geknüpft. Uday Shankar, seine Frau Amala Devi, seine Brüder Rajendra Shankar und Ravi Shankar, die französische Tänzerin Simkie und viele andere kamen häufig zu Besuch.
      Am 3. Mai, Ma‘s Geburtstag, führte Uday Shankar sein berühmtes Schattenspiel des Ramayana in seinem Kulturzentrum auf. Er erklärte, es sei ihnen eine Ehre, Ma als Zuschauerin zu haben. Das Zentrum lag in einem herrlichen Gelände. Ma besuchte es gelegentlich, sie unterhielt sich mit Uday Shankar und verschiedenen Mitgliedern seiner Truppe über Tanz als eine Form des Sadhana. Einmal sagte sie: »Dieser Körper weiß natürlich wenig über euer Konzept von Tanz. Aber glaubt mir, Pitaji, als dieser Körper dem Spiel des Sadhana unterworfen war, vollführte er viele der Stellungen und Bewegungen, die ich hier gesehen habe, und noch viele mehr. In Bajitpur sagte ich einmal zu Bholanath: Setz dich hier vor mich. Ich werde für dich Arati [gesungenes Gebet, begleitet vom Schwingen eines Kampferlichts] ausführen. Ich hatte die notwendigen Utensilien dafür nicht zur Hand. Es gab nur körperliche Bewegungen und Gesten mit Armen und Händen. Es ähnelte einer eurer Tanzaufführungen sehr. Bholanath staunte; er wußte genau, daß ich dergleichen nie gelernt hatte. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Lernen und spontanem Handeln. Letztlich ist der Ursprung aller Existenz das Eine. Es gibt nur den einen alles durchdringenden Rhythmus. Wenn man das Eine kennt, kennt man alles. Das Eine, das Glückseligkeit ist, drückt sich überschwenglich in der Form von Tanz aus.«

Abhaya fragte sogleich: »Wie ist es mit den Formen, die Leid ausdrücken? « Ma antwortete: »Auch sie fesseln die Aufmerksamkeit. Wenn ein solcher Tanz perfekt ausgeführt wird, führt er zu einer Art von teilnahmsvollem Verständnis, das ein Aspekt des Glücks ist.«
      Von Almora fuhr Ma mit Hari Ram, Sher Singh und vielen anderen auf nachdrückliche Einladung von Prabhudatta Brahmachari nach Sahasradhara, um dort an einer Bhagavat Saptah [einwöchige Rezitation des Bhagavata Purana] teilzunehmen. Hier lernte sie viele andere bekannte Sadhus kennen, u.a. Haribaba Maharaj und Udia Baba.
      Zurück in Almora, besuchte sie am 25. Juni Yashoda Ma in Mir Tola. Yashoda Ma war keineswegs überrascht, Ma zu sehen. Sie sagte: »Ich habe gerade Gurupriyas Bücher über Ma gelesen. Seit gestern hatte ich ein überwältigendes Verlangen, Ma zu sehen. Ich wußte, daß sie kommen und mir Darshan geben würde, da ich nicht kommen konnte. Der Ashram war wunderbar. Seine Bewohner, Shri Krishnaprem, Shri Hari Das und andere wurden langjährige gute Freunde in Ma‘s Ashrams.
      Im Juli verließ Ma Almora, kam aber nach etwa zwei Wochen zurück. Dies war eindeutig das Jahr Almoras. Sie blieb auch zur Durga Puja im Oktober, die jedes Jahr im Kulturzentrum gefeiert wurde. Dieses Jahr konnte Uday Shankar wegen des plötzlichen Todes seines Gurus kein Festprogramm organisieren. Auf seine Bitte wurde die Puja in seinem Namen in Ma‘s Ashram gefeiert. Die Verehrung der Tochter des Himalaya inmitten der Bergketten des Himalaya regte die Vorstellungskraft aller Devotees an und bewegte ihre Herzen.
      Ma‘s ausgedehnter Aufenthalt an einem Ort hatte unvermeidliche Konsequenzen. Bauten wurden errichtet, um mehr Platz für Besucher zu schaffen. Parashuram machte sich daran, den kleinen Ashram zu erweitern. Eine große Terrasse wurde angebaut, auf der Ma spazieren konnte. Manchmal saß sie im Kreis der Besucher darauf und beantwortete ihre Fragen: »Wie kommt es, daß sich alle möglichen Gedanken aufdrängen, sobald man still zu meditieren versucht?«
      »Weißt du nicht, warum man sich nicht konzentrieren kann? Die Wünsche wirken wie Abwehrmittel. Wenn du ins Meer gehst, werfen dich dieWellen anfangs immer wieder auf den Strand. Aber wenn du nicht aufgibst und in tieferes Wasser vordringst, können dir die Wellen nichts mehr anhaben.« Ma schwieg eine Zeitlang und fuhr dann fort:
      »Man muß erkennen, daß es nichts anderes gibt als das Eine. Wünsche sind Rückfahrkarten, die das Kommen und Gehen in die Welt der Dualität sicherstellen. Wenn du Shiva wahrnimmst, siehst du keinen Stein. Wenn du einen Stein siehst, siehst du nicht Shiva. Außerdem: so wie Er unter dem Namen Shiva bekannt ist, bezeichnet auch das Wort ›Stein‹ nichts anderes als Ihn. Weder Shiva noch der Stein sind von deinem Wesen verschieden, denn in allem manifestiert Er sich allein.«