Kheora - Schauplatz der Kindheits-Lila

Kheora war ein kleines Dorf. In seinem westlichen Teil gab es nur zwei Brahmanen-Haushalte, die auf drei Seiten von moslemischen Nachbarn umgeben waren. Im Ostteil lebten weitere Hindus. Zwischen den beiden Ortsteilen lagen Felder und Wälder. Durch das Wohngebiet der Moslems führte ein Abkürzungsweg. Sobald Nirmala alt genug war, allein zu laufen, sah man sie oft diesen Weg entlang springen und tanzen. Sie trat durch jede Tür, die sich ihr öffnete. Nach indischer Sitte sprechen Kinder alle älteren Leute mit Verwandtschaftsbezeichnungen an. So waren für sie auch die Moslems Nana [Großvater], Chacha [Onkel], Dada [Bruder], Bua [Tante] usw. Das ganze Dorf bis an seine weit entfernten Häuser wurde so für das kleine Mädchen ein großes Zuhause.
      Nirmala war ein sehr freundliches Kind. Jedem, der Hilfe  brauchte, ging sie bereitwillig zur Hand, so gut sie konnte. Sie holte für ihre eigene Familie wie für die Nachbarn Gegenstände herbei. Sie war immer gut gelaunt und bereitete niemandem je Ärger. Ihre Mutter erinnert sich nicht, daß sie je wütend geworden wäre oder kummervoll geweint hätte. Es gab allerdings zwei Ausnahmen. Nach Nirmalas Geburt bekamen ihre Eltern noch drei Söhne. Leider starb der älteste Sohn, Kaliprasanna, mit sieben Jahren und die beiden anderen schon als kleine Kinder. Mokshada Devi, die immer ein Beispiel an Mut und Seelenstärke war, wurde einige Male von Trauer überwältigt und vergoss stille Tränen. Wenn Nirmala sie in diesen Momenten sah, erhob sie ein solches Schluchzen, daß ihre Mutter zu ihr eilen mußte, um sie zu trösten, worüber sie ihre eigenen Tränen vergaß.
      Das andere Mal weinte Nirmala, als sie noch ein Baby war. Ein Mädchen namens Ekkabar aus einem der Moslem-Häuser in der Nachbarschaft hatte Nirmala besonders gern und kam jeden Tag, um mit ihr zu spielen. Eines Tages begann Ekkabar ein neues Spiel: sie winkte das Kind aus geringer Entfernung zu sich. Wenn das Baby eifrig lächelnd auf sie zu gekrochen kam, trat sie ein paar Schritte zurück und lockte es wieder. Nachdem sie dieses quälerische Spiel vier- oder fünfmal wiederholt hatte, setzte sich das Kind zurück und begann laut zu weinen. Daraufhin nahm Ekkabar Nirmala schnell auf die Arme und versuchte, sie zu beruhigen. Das Schluchzen und Weinen steigerte sich jedoch immer mehr, so daß Ekabbar Angst bekam und das Kind der Großmutter zurückgab. Sie wiederholte diese Neckerei nie. Als beide Mädchen erwachsen waren, erinnerte Ekabbar sie manchmal an diesen Vorfall: »Was für ein Kind du warst! Wie du geweint hast! Das hat mich überwältigt. Noch heute stehen mir die Haare zu Berge, wenn ich daran denke!«

Auch andere erinnern sich an seltsame Erfahrungen mit dem Kind. In Kheora lebten viele Leute im Alter ihrer Großmutter, die für Nirmala alle Dadas [Großväter] und Didis [Großmütter] waren. Ein Dada, Krishna Sundar Bhattacharya, warf das Baby gern in die Luft und fing es wieder auf. Das Kind zeigte sein Vergnügen mit perlendem Lachen. Als er sie einmal hochhielt, stellte sie einen Fuß auf seine Schulter und streckte den anderen aus, als wollte sie ihn auf seinen erhobenen Arm stellen. Plötzlich rief er aus: »Fang! Fang!« und fiel beinahe auf die Knie. Es ist nicht klar, ob er wollte, daß jemand das Kind finge oder ob er selbst gestützt werden wollte. Er setzte das Kind ab und rief in höchstem Erstaunen: »Was für ein seltsames Mädchen!« Die Anwesenden vermuteten, ihm sei das Kind auf einmal unerträglich schwer geworden. Die Familie bemerkte, daß er beim Spielen mit dem Kind nie wieder versuchte, es in die Luft zu werfen.
      Für ihre Familie und die Nachbarn war die heranwachsende Nirmala war ein fröhliches, elfengleiches, immer aufmerksames Wesen, das jedem im Dorf ohne Rücksicht auf Kaste, Glauben oder sozialem Rang gerne half.
      Dem kleinen Mädchen war alles und jedes ein Quell der Freude. Eines Nachts blies ein plötzlich aufgezogener Sturm einen Teil des Strohdaches weg. Die Hausbewohner kauerten sich unter den verbliebenen Rest. Nirmala klatschte in die Hände und lachte laut: »Ma, Ma, wir können von hier die Sterne sehen! Außen und innen sind eins geworden - wie wunderbar!« Nirmala litt kaum unter der Hitze des Sommers, der Winterkälte oder den Regenfällen des Monsuns. Sie tanzte mitten in einem schweren Regenguß oder spielte in der Sonnenglut auf einem Sandhaufen, fast ohne die Hitze zu bemerken. Sie litt auch nicht unter Kinderkrankheiten. Ihr sonniges Naturell brachte ihr viele Spitznamen ein, z.B. Hashi [Lächeln], Kushir Ma [die Glückliche] usw.
      Nirmala hatte die seltsame Eigenart, das Geheiß Älterer fast wörtlich zu befolgen. Ihrer Familie wurde das nach etlichen irritierenden Vorfällen bewußt. Eines Tages forderte ihre Mutter sie auf, einen Achatbecher im Teich abzuwaschen. Um dem Kind einzuprägen, wie zerbrechlich der Becher sei, sagte sie: »Sieh zu, ob du ihn auch zerbrechen kannst!« Nirmala kam nach einer Weile wieder, sie hielt die Bruchstücke des Bechers sorgsam in ihren Händen und sagte, der Becher sei gerade heruntergefallen. Ein Lachen unterdrückend fragte ihre Mutter, warum sie die Scherben zurückgebracht habe. Nirmala antwortete, sie habe gesehen, daß man mit Tonscherben Brandwunden behandelte, also seien diese vielleicht auch noch zu gebrauchen. Wenn dergleichen vorkam, wurde Nirmala nie ausgescholten, weil sie so offensichtlich unschuldig war.
      Eine bekannte Episode ist die vom ›Punkt‹. Als ihr Vater sie das Lesen lehrte, erklärte er, daß sie beim Punkt eine Pause machen müsse, bevor sie mit dem nächsten Satz beginne. Einige Zeit später sah er, wie Nirmala seine Anweisungen befolgte, und war belustigt und entsetzt zugleich. Wenn der Satz lang war, drehte und wand sie ihren kleinen Körper, um in einem Atem ans Satzende zu kommen.
      Diese Eigenart, sich an die ausgesprochenen Worte und Wünsche der Leute in ihrer Umgebung zu halten, blieb immer ein typischer Zug ihres Verhaltens. Es war ein über ihr wahres Kheyala gezogener Schleier. Selbst Menschen, von denen man meinte, sie stünden ihr nahe, konnten diesen Schleier nie durchdringen.
      Das Wort Kheyala bedarf einer Erläuterung, weil es in dieser Erzählung sehr häufig auftauchen wird. Ma benutzte dieses Wort, wenn andere gesagt hätten »ich will« oder »ich wünsche«. Sie hatte keine Wünsche und keinen Willen, aber manchmal neigte sie, vielleicht veranlasst von den Bedürfnissen der Menschen in ihrer Umgebung, zu einer bestimmten Vorgehensweise; ein spontaner Gedanke, der sich eher aus den Umständen ergab als aus einem inneren Drang zum Handeln. Ihre Familie und die frühen Devotees brauchten recht lange, bis sie erfaßten, was Ma mit diesem Wort meinte, und vielleicht hat es niemand je ganz verstanden.

In Shri Anandamayi Ma‘s Kindheit wurde das völlige Fehlen egoistischer Züge bei ihr, aufgrund dessen sie bereitwillig alles tat, was Ältere anregten, als Gefügigkeit oder gar Einfalt interpretiert. Manche hielten sie für ein wenig minderbegabt, da kein normales Kind so gleichbleibend fröhlich und gutmütig sein konnte. Aber selbst wenn man an ihrer Intelligenz zweifelte, wurde sie geliebt und verwöhnt. Auch ihre unbeirrbare Wahrheitsliebe ist zu erwähnen. Ihre Verwandten gewöhnten sich daran, bei jeder strittigen Frage absolut auf ihre Darstellung des Sachverhalts zu vertrauen, denn man hatte bemerkt, daß sie unter keinen Umständen dazu gebracht werden konnte, etwas nur entfernt Ungehöriges oder Unlauteres zu tun. Vielleicht hatte Nirmala selbst an allen diesen Rätseln um sie Freude. Eines Tages trug sie auf ihre Hüfte gestützt einen Wasserkrug und betrachtete ihren Schatten auf dem Boden. Als sie vor ihrer Mutter stand, sagte sie: »Du sagst, ich bin gerade gewachsen (soja, was auch ›einfältiger Mensch‹ bedeutet). Bin ich aber jetzt nicht gekrümmt (banka, was auch schlau bedeutet)?«
      In der Nähe des Dorfs gab es eine private Vorschule, die Nirmala zeitweise besuchte. Sie konnte nicht jeden Tag hingehen, weil sie ihrer Mutter manchmal mit den kleinen Geschwistern half und weil die Mutter nicht immer jemanden fand, der sie zur Schule brachte. Trotzdem sah die Lehrerin, daß Nirmala mühelos den Anschluß hielt; deshalb wurde sie bei einem Besuch des Schulinspektors mit zwei anderen begabten Mädchen, die regelmäßig die Vorschule besuchten, in die Grundschule versetzt.
      Als der Inspektor einmal kam, wurde die junge Leiterin dieser Schule sehr nervös, da ihre Schülerinnen keine seiner Fragen beantworten konnten. Von außerhalb des Klassenzimmers hielt sie eine Schiefertafel durchs Fenster, auf die sie die Antwort geschrieben hatte. Nun mußte Nirmala antworten. Sie konnte die Tafel deutlich sehen, machte aber von diesem Vorteil keinen Gebrauch. Solche Täuschungsmanöver waren ihrem Wesen gänzlich fremd. Die Schulleiterin besuchte Ma viele Jahre später in Varanasi, wo sie uns diese Anekdote und manche anderen Erlebnisse aus Nirmalas kurzer Schulzeit erzählte. Sie lernte nie, fließend zu lesen oder schreiben, obwohl ihre Handschrift sehr geübt und ausgereift schien.
      Nirmala war immer sehr interessiert an religiösen Riten aller Art, auch an anderen Religionen. Bei einem Besuch in Sultanpur trafen sie und ihre Kusine zwei christliche Nonnen, die dort Traktate verkauften. Nirmala lief zu ihrer Mutter, um den geringen Geldbetrag für das Büchlein zu bekommen. Am Abend fühlte sie sich unwiderstehlich zu dem Missionszelt am Dorfrand hingezogen. Sie blieb davor stehen und hörte den Gebeten zu. Dann lief sie heim, bevor man sie vermissen konnte.
      Für Nirmala gab es in Kheora viele Spielplätze. In der Nähe ihres Hauses war ein großer Sandhaufen, auf dem man sie oft den Sand zu Figuren formen sah. Einmal formte sie eine große Kugel. Als ihre Mutter fragte, was das sei, sagte sie: »Es ist Narayana, Lakshmi, Shiva, Parvati, Radha, Krishna und viele andere Götter. Hast du mir nicht gesagt, daß alles in einem enthalten ist, und daß das Eine alles ist?«
      Mokshada Devi war einigermaßen erstaunt, aber sie sagte freundlich: »Gut, aber komm jetzt mit, sonst bekommst du einen Hitzschlag.« Sofort zerstörte Nirmala die sorgfältig zusammengefügte Kugel und folgte ihrer Mutter ohne einen Blick zurück.
      Im Wald sammelte sie bunte Blüten, die sie in komplizierten Mustern auslegte. Der Mutter fiel auf, daß ihr Kind bei aller Versunkenheit ins Spiel eine innere Distanz dazu hatte - plötzlich ließ sie alles liegen und ging mit einem in sich gekehrten Gesichtausdruck fort. Dies traf auch für ihre Freunde zu. Sie spielte mit ihnen oder für sich allein, scheinbar ohne ihre Gesellschaft zu vermissen.
      Wirklich erstaunlich war bei der kleinen Nirmala der plötzliche Übergang von einem normal spielenden Kind zu einem absonderlichen Geschöpf, das nicht von dieser Welt schien. Mitten in einer alltäglichen Tätigkeit erweckte sie plötzlich den Eindruck, weit von ihren Spielgefährten oder Verwandten entfernt zu sein. Ihre immer heitere, schöne Miene war dann wie durchstrahlt von einem inneren Leuchten. Man konnte es am ehesten mit dem Spiel des Wetterleuchtens am Himmel vergleichen. Wie verhielten sich die Verwandten dem Kind gegenüber, nachdem sie in ihr das ätherische Wesen mit einem inneren göttlichen Funken wahrgenommen hatten? Sie beeilten sich, sie sozusagen auf ihre Ebene zurückzuholen; sie versuchten, ihre Aufmerksamkeit wieder aufs Spiel zu lenken und sie wie gewohnt zum Lachen und Sprechen zu bringen.
      Als man Ma später im Leben nach diesen Erinnerungen ihrer Familie und Nachbarn befragte, antwortete sie: »Ihr gebraucht die Worte ›normal‹ und ›außergewöhnlich‹. Für mich gibt es da keinen Unterschied. Es ist wie ein Augenzwinkern.«