Wer bin ich?

Wer bin ich? Wer erlebt überhaupt Reinkarnation?
Manu, der archetypische erste Gesetzgeber, formulierte es in der Manu Smriti wie folgt:
„Auf der physischen Ebene kommt der Mensch ohne etwas und geht ohne etwas. Auf der geistigen Ebene kommt der Mensch mit etwas, er verändert es im Lauf seines Lebens und geht mit etwas anderem. Auf der höchsten Ebene kommt der Mensch mit etwas, es verändert sich nichts und er geht mit dem Gleichen.“

Die physische Ebene

Auf der physischen Ebene kommen wir nackt und gehen wir nackt. Nichts, was wir in diesem Leben aufbauen, nehmen wir nach dem Tod mit. Der Körper wird verfallen bzw. von den Würmern gefressen werden. Kein Geld wird uns begleiten, kein Haus, keine Firma, kein Buch und keine Kunstsammlung. So sollten wir uns immer bewusst sein: Alles auf der physischen Ebene ist vergänglich und hat nur einen vorübergehenden Wert.

Die feinstoffliche Ebene

Auf der feinstofflichen Ebene kommen wir mit etwas: Wir kommen mit einer gewissen Menge an Prana (Lebensenergie). Wir haben schon von Geburt an ein gewisses Temperament, bestimmte Neigungen und Begabungen, eine Persönlichkeit, eine gewisse spirituelle Entwicklung. Und wir kommen mit einem bestimmten Karma, also Lernaufgaben, in dieses Leben. Im Lauf des Lebens können wir unsere Lebensenergie weiter ausbauen oder verausgaben, wir können bestimmte Talente und unsere Persönlichkeit entwickeln. Durch spirituelle Praxis, bewusste Lebensführung und die karmischen Lektionen können wir spirituell wachsen. Wenn dann der physische Körper stirbt, nehmen wir die Erfahrungen, die Lektionen, das Prana, die Ausstrahlung, die entwickelten Talente und Persönlichkeitsanteile sowie das veränderte Karma mit. Damit können wir dann das nächste Leben neu beginnen.
Auf dieser Ebene ist nichts umsonst: Jede Erfahrung hat ihren Wert. Wer zum Beispiel einen Naturkostladen aufmacht, ihn ein paar Jahre erfolgreich führt, bis er wegen Eröffnung eines Naturkostsupermarktes schließen muss, hat nicht „umsonst“ geschuftet. Das Engagement, das man hineingesteckt hat, die Konzentration und das Durchhaltevermögen, das man dabei entwickelt hat, die Fähigkeit, mit Kunden umzugehen, all das nimmt man als Teil der Persönlichkeit mit. Auch die Erfahrung, etwas Aufgebautes zu verlieren, hilft einem auf dem Weg zur Vervollkommnung. So ist auch eine „gescheiterte“ Ehe nicht wirklich gescheitert. Und wenn der ehemalige Ehepartner die Kinder mitnimmt, waren die Jahre, in denen man für die Kinder da war, nicht verloren. Auf dieser mittleren Ebene ist jede Erfahrung wichtig und hat jede Anstrengung ihren bleibenden Wert.
Auf dieser Ebene könnte man sagen, die Aufeinanderfolge der verschiedenen Leben ist kein Kreislauf sondern eine Spirale: In jedem Leben lernen wir etwas dazu. Wir wachsen und entwickeln uns. Und es heißt: Wir inkarnieren uns solange, bis wir die höchste Vollkommenheit erreicht haben.

Die höchste Ebene

Auf der höchsten Ebene kommen wir mit etwas, es ändert sich nichts und wir gehen mit dem Gleichen. Das ist die höchste Ebene, Brahman, das Absolute. Der höchste Aspekt des Menschen, sein wahres Selbst (Atman) ist reines Bewusstsein, Sat-Chid-Ananda, absolutes Sein, Wissen und Glückseligkeit. Dieser Atman ist unveränderlich, ewig. Die Bhagavad Gita beschreibt das Selbst in folgenden Worten: „Erkenne das als unzerstörbar, welches alles durchdringt (II 17)... Es wurde nicht geboren und stirbt auch niemals. Nachdem Es gewesen ist, hört Es niemals auf zu sein. Es ist ungeboren, ewig, unveränderlich und uralt... (II 20) ... Es ist ewig, alldurchdringend, fest, unverrückbar und ohne Anfang und Ende (II 24)... Es ist nicht sichtbar, gedanklich nicht fassbar und unveränderlich. Da du weißt, dass Es so ist, mache dir niemals Sorgen.“
Wenn wir geboren werden, ist unsere eigentliche Natur Atman. Wenn wir wachsen, sind wir weiterhin Atman. Und wenn wir sterben, sind wir immer noch Atman. Auf der höchsten Ebene bleiben wir immer der gleiche.

Das Selbst, der Atman

Das wahre Selbst wird also als Atman bezeichnet. Es hat als Fahrzeuge den physischen, den astralen und den kausalen Körper. Ein Auto braucht einen Fahrer. Ebenso braucht ein Fahrer ein Auto, wenn er wegfahren will. Allerdings sind Auto und Fahrer etwas Unterschiedliches. Des weiteren hat ein Fahrer typischerweise auch Kleidung an. Er braucht die Kleidung, wenn er sich in Gesellschaft begeben will oder auch zum Schutz gegen Kälte, Nässe oder Sonne. Der Mensch kann in der gleichen Kleidung verschiedene Autos besteigen und wieder verlassen. Das Auto wäre in dieser Analogie der physische Körper. Die Kleider wären der Astralkörper. Problematisch wird es, wenn der Fahrer sich mit dem Auto oder der Kleidung identifiziert und meint, er sei das Auto oder die Kleidung.

Hier ergibt sich eine der Paradoxien des spirituellen Lebens: Auf der einen Seite sind wir jetzt schon das Höchste Selbst. Wir sind jetzt schon vollkommen. Auf der anderen Seite identifizieren wir uns mit dem Körper, den Emotionen, der Persönlichkeit.

Video: Yogastunde Jnana-Yoga - Wer bin ich? (44 Min.)

Wende das Wissen über Vedanta und das Selbst praktisch an. Erfahre das wahre Selbst, in dem du dich beobachtest, dann von der Beobachter-Perspektive löst und so das unendliche Bewusstsein erfahren kannst:

Das Vedanta Modell des Menschen

In der Vedanta Philosophie gibt es das Modell der 3 Körper bzw. 5 Hüllen .

Der physische Körper

Sthula Sharira ist der physische Körper, der grobstoffliche (Sthula) Körper (Sharira). Er wird auch als Annamaya Kosha bezeichnet, als aus Nahrung (Anna) gemachte (maya) Hülle. Er besteht aus den Elementen Erde (Festes), Wasser (Flüssiges), Feuer (Körpertemperatur), Luft (Gasförmiges) und Äther (elektromagnetische Prozesse). Er ist den Vorgängen Geburt, Wachstum, Reife, Alter, Krankheit und Tod unterworfen.

Der Astralkörper

Sukshma Sharira ist der feinstoffliche (Sukshma) Körper (Sharira), auch Linga (strahlend) Sharira, also Astralkörper genannt, weil er in veränderten Bewusstseinszuständen als Lichtkörper wahrgenommen werden kann. Der Astralkörper besteht aus 3 Schichten (Koshas):

  • Pranamaya Kosha, die Energiehülle: Hier sind die Lebensenergien (Pranas) mit den Chakras (Energiezentren) und Nadis (Energiekanäle)
  • Manomaya Kosha, die emotional-geistige Hülle: Hier sind die Jnana Indriyas (5 Wahrnehmungsorgane: sehen, hören, riechen, schmecken, tasten), die Karma Indriyas (5 Handlungsorgane: gehen, greifen/verändern, aufnehmen, ausscheiden, fortpflanzen), Manas (einfaches Denkprinzip mit den Emotionen), Chitta (das Unterbewusstsein) mit den Samskaras (Eindrücke, Fähigkeiten, Neigungen, Erinnerungen) und Vasanas (Wünsche, Anhaftungen)
  • Vijnanamaya Kosha, die Hülle der Erkenntnis mit Buddhi (Vernunft, Urteils- und Entscheidungsvermögen) und Ahamkara (Ego, Ich-Bewusstsein)

Der Kausalkörper

Karana Sharira ist der Kausalkörper, die Ursache (Karana) für alle anderen Körper. Hier sind die Samen von Avidya, der Unwissenheit. Hier spiegelt sich aber auch die Wonne des Selbst, weshalb Karana Sharira auch Ananadamaya Kosha genannt wird, die aus Wonne gemachte Hülle. In Karana Sharira spiegelt sich auch intuitive Erkenntnis und von hier kommt der Ruf nach spiritueller Vollkommenheit. In der Karana Sharira ist auch der Sitz des Karmas: Hier sind alle künftig noch zu lernenden Lektionen. Die Karana Sharira geht schon jenseits der normalen Konzepte von Zeit und Raum. Man kann auch sagen: in der Karana Sharira ist der gesamte Lehrplan für all unsere Inkarnationen abgespeichert, wobei der Lehrplan immer wieder neu angepasst wird.

Wer erlebt die Reinkarnation?

Aus diesem Modell kann man also die Frage, wer sich überhaupt inkarniert, wie folgt beantworten: Der Astralkörper (Sukshma Sharira) inkarniert sich zusammen mit dem Kausalkörper (Karana Sharira) immer wieder von Neuem in einem physischen Körper (Sthula Sharira). Das Selbst (Atman) identifiziert sich dabei mit dem physischen Körper und dem Astralkörper. Wenn ich im weiteren Verlauf dieses Buches von „Seele“ spreche, meine ich Sukshma Sharira zusammen mit der Karana Sharira.

Da Erinnerungen, Persönlichkeit, Wünsche, Fähigkeiten etc. zum Astralkörper gehören, nehmen wir diese mit, wenn wir sterben. Tod ist wie das Verlassen eines Autos oder das Ausziehen von Kleidung. Wenn wir aus einem Auto aussteigen oder abends die Kleidung ausziehen, bleiben wir doch der Gleiche. Allerdings setzt im Moment der Geburt ein Gedächtnisschwund ein und die meisten konkreten Erinnerungen an frühere Leben können nicht mehr so einfach ins Bewusstsein geholt werden. Die Fähigkeiten und Persönlichkeit dagegen sind schon da und werden dann im Lauf des Lebens manifest bzw. entwickeln sich weiter.

Das Ziel aller Leben ist, sich dieses Atmans bewusst zu werden, die Höchste Wirklichkeit zu erfahren. Wir inkarnieren uns solange, bis wir die Identifikation mit physischem und Astralkörper überwunden haben.
Und da unsere wahre Natur Unendlichkeit, Vollkommenheit und Einheit ist, erreichen wir das, indem wir uns auch auf der relativen Ebene schrittweise vervollkommnen, aus dem Gefühl der Einheit heraus Liebe zu allen Wesen entwickeln, uneigennützigen Dienst für alle Wesen leben, Wunschgebundenheit und Verhaftungen überwinden und in Meditation und spirituellen Praktiken die Fesseln des Geistes transzendieren. Dies erreichen wir nicht in einer Inkarnation, das braucht viele Leben.

Vedanta und die Evolution laut Darwin

Das Sharira-Kosha-Modell reflektiert teilweise die Darwinsche Evolutionstheorie des Lebens, ergänzt sie aber auch:

  • zuerst gab es auf der Erde nur die physische Materie, entsprechend der Sthula Sharira
  • dann haben sich die Pflanzen entwickelt, welche die Pranamaya Kosha entwickelt haben, also eine lebendige Lebenshülle haben
  • dann kommen die Tiere hinzu, welche die Manomaya Kosha entwickeln, also Sinneswahrnehmungen haben, sich bewegen können, denken und fühlen können sowie Gedächtnis, Neigungen und vieles mehr haben
  • die Menschen haben die Vijnanamaya Kosha entwickelt, haben also die Fähigkeit zu Vernunft, freiem Willen, Urteilskraft und Ichbewusstsein
  • die Aufgabe des Menschen ist, sich weiterzuentwickeln, Zugang zu finden zur Karana Sharira und damit zu Intuition, uneigennütziger Liebe, Verbundenheit mit allen Geschöpfen und mit dem Göttlichen
  • das Ziel allen Strebens ist es, alle Koshas und Shariras zu transzendieren und die ursprüngliche Einheit zu erfahren

Biologische kollektive Evolutionstheorie und individuelle Yoga Evolutionstheorie

Die biologische Evolutionstheorie  spricht natürlich von der kollektiven Evolution. Die yogische Evolutionstheorie ergänzt sie durch die Vorstellung der individuellen Evolution: Ab dem Tierreich gibt es eine individuelle Seele, auch wenn sie sich zunächst ihrer Individualität nicht bewusst ist. Und diese Seele inkarniert sich von einem Körper zum nächsten. Es heißt, dass die Seele sich 8.400.000 Mal in Tierkörpern inkarniert, bevor sie sich zum ersten Mal in einem menschlichen Körper inkarniert. Dann inkarniert sie sich viele Tausend Mal in einem menschlichen Körper, bevor tiefere Fragen im Leben wichtig werden: „Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist das Ziel des Lebens? Gibt es eine höhere Wirklichkeit? Wenn ja, wie kann ich sie verwirklichen?“ Bis diese Fragen drängend werden, läuft die Evolution mehr oder weniger automatisch ab und der Mensch macht wenig Gebrauch von seinem freien Willen. Ab dem Moment, wo diese spirituellen Fragen immer wichtiger werden, kann man mit seinen Handlungen bewusst seinen spirituellen Fortschritt beschleunigen oder verlangsamen.