Die Spielgefährten

Shri Anandamayi Ma hatte viele Spielgefährten. Zunächst ihre kleinen Brüder. Sie spielte mit ihnen, paßte auf sie auf, pflegte sie, wenn sie krank waren. Sie nahm sie mit, wohin sie auch ging. Ihre Anhänglichkeit an die Schwester war rührend. Einmal war Nirmala zu einem Fest nach Sultanpur eingeladen. Ihr Bruder Kaliprasanna bat sie: »Geh nicht, Schwester, sonst sehe ich dich nie wieder.« In der Tat wurde er schwer krank und starb kurz darauf. Nirmala blieb bis zu seinem letzten Atemzug bei ihm. Ebenso war es bei den anderen kleinen Brüdern, die schon als Säuglinge starben.
      Niemand zweifelte daran, daß sie die Brüder sehr geliebt hatte, aber man sah sie nicht über deren Verlust weinen oder trauern. Diese »Gefühllosigkeit « erstaunte die Leute. Es war ein Grund mehr, sie für einfältig zu halten. Diese Verbindung von totalem persönlichen Einsatz und innerer Ungebundenheit blieb ihr Leben lang typisch für sie und überraschte alle, die neu mit ihr in Berührung kamen. Es war ein ihrer Persönlichkeit innewohnendes Paradox, das niemand je aufzulösen vermochte.
      Nach den Brüdern kamen zwei Schwestern zur Welt, Surabala, die nur sechzehn Jahre alt wurde, und Hemlata, die in mittleren Jahren starb. Zuletzt wurde ein Bruder (Yadunath) geboren, der den Spitznamen Makhan erhielt. Er allein überlebte Ma und seine Eltern. Ma hatte einmal gesagt, daß sie sich nach dem frühzeitigen Tod ihrer Brüder alleingelassen fühlte. Sie wünschte sich ein oder zwei Spielgefährten. Die etwa vier Jahre jüngere Surabala war ein sehr hübsches Kind. Hemlata kam schon bald danach zur Welt. Die beiden kleinen Mädchen waren von Nirmala unzertrennlich. Eine andere bevorzugte Spielgefährtin war ihre eigene Großmutter, die sie Thakurma nannte. Thakurma hatte viele Verwandte in Kheora, ihrem Heimatdorf. Nirmala begleitete ihre Thakurma oft zu Besuchen bei Freunden und Verwandten sowie auf den Ausflügen zum Sammeln von Kräutern und essbaren Pflanzen aus dem Wald. Kheora war kein fruchtbares Dorf und brachte nur ärmliche Ernten hervor, jedenfalls auf dem Land, das ihnen gehörte. Thakurma gelang es aber immer, einiges Essbare für den Haushalt zu besorgen.
      Als Ma einmal in dieser Art von ihrer Thakurma erzählte, konnte ihre erste Biographin, Gurupriya Devi, folgende Bemerkung nicht unterdrücken: »Wunderbar! Du scheinst ja unbegrenztes Mitgefühl mit deinen Eltern gehabt zu haben! Sie hatten nicht einmal genug zu essen!« Ma lächelte und sagte: »Keineswegs, wir hatten immer mehr als genug. Du kannst dir nicht vorstellen, wie einfallsreich meine Thakurma war. Und alles was sie kochte, selbst wenn es nur Reis und grüne Blätter waren, schmeckte uns wie himmlische Speise. Ich habe kaum jemals besseres Essen gekostet, als was Thakurma für uns ochte.«
      Die Nachbarn forderten Thakurma immer auf, sich von den Früchten ihrer Felder zu bedienen, aber das tat sie nie. Sie erlaubte den Kindern auch nicht, über fremde Grundstücke zu gehen. Nirmala befolgte das Verbot, fremdes Eigentum anzurühren, so wörtlich, daß sie sogar einen Umweg machte, um einem über den Weg hängenden mit Früchten beladenen Ast auszuweichen.

Nirmalas Thakurma Tripurasundari Devi hatte in eine angesehene Familie von pirituellen Lehrern und Gelehrten geheiratet. Sie hätte sich auf das Recht erufen können, von den Familien ihrer Schüler, die ihnen höchste Achtung zollten, Gaben anzunehmen. Aber das lag ihr völlig fern. Selbstgenügsamkeit und Verzicht lagen in ihrer Natur. Sie hätte das ockerfarbene Gewand der Entsagung anlegen sollen, denn im Grunde ihres Herzens war sie eine Asketin. Von früh bis in die Nacht war ihre konzentrierte Aufmerksamkeit auf eine innere Reise gerichtet. Eines Tages fragte Nirmala sie: »Thakurma, was ist das für ein ›Wort‹, das du mit jedem Atemzug wiederholst?« Die Frage des Kindes überraschte Thakurma. »Still«, sagte sie, »Kinder dürfen diese ›Worte‹ nicht aussprechen. Wenn du älter bist, wirst du mehr über sie erfahren.« Nirmala nahm den Verweis widerspruchslos hin und ließ den Kopf ein wenig hängen. Vielleicht begann sie bereits in so jungen Jahren mit ihrer eigenen Thakurma, ›Diksha [Einweihung] zu geben‹, was in den letzten Jahren ihres Lebens sehr oft geschah.
      Eine Cousine von Thakurma hatte von ihrem eigenen Familienguru eine förmliche Einweihung erhalten. Da sie ungeschult war, vergaß sie häufig die Anweisungen für die Sandhya-Puja. Dieses Ritual wird morgens und abends - begleitet von bestimmten Fingerbewegungen und Atemübungen (Pranayama) - durchgeführt. Diese ›Großmutter‹ sagte einmal zu Nirmala: »Es ist mir peinlich, deine Mutter immer wieder zu fragen, ob sie mir diese Kriyas [Gesten] noch einmal zeigt. Kannst du sie mir nicht zeigen? Sie lernte sie also von ihrer kleinen ›Enkelin‹ und war keineswegs verwundert, daß das Kind sich in solchen Dingen auskannte.
      Als Nirmala auch andere ungewöhnlichen Anliegen erfüllte, war man hocherfreut, aber nicht so erstaunt, daß man sie etwa für ein Wunderkind gehalten hätte. Nirmala konnte erstaunliche Dinge auf die allernormalste Weise tun. Dieselbe ›Großmutter‹, der sie die Puja-Riten gezeigt hatte, besaß ein Paar Muschelhorn-Armreifen, die aber leider weder sie selbst noch sonst jemand über ihre ziemlich knochigen Handgelenke streifen konnte. Solche Armreifen sind recht teuer und zerbrechlich. Sie kam damit also zu Nirmala und war sehr froh, als diese sie ihr mit Leichtigkeit über die Hände streifte. Überrascht sagte sie: »Wie konnten so kleine Hände meine harten Knöchel zusammenzudrücken? Didi, du bist ein kluges Mädchen!« Eine andere mit ihrer Thakurma befreundete ›Großmutter‹ namens Chikkandidi war die erste, die schon das kleine Mädchen erstmals als beste Köchin weit und breit lobte. Nirmala kochte bisweilen für sie und bekam dafür zu hören: »Didi, alles, was du kochst, schmeckt einfach himmlisch!«
      Nirmala mußte zu Hause nicht kochen, daher wußte niemand, wie und von wem sie diese Kunst erlernt hatte. Aber sie schaute ihrer Mutter und Thakurma zu und half auch sonst bei der Küchenarbeit. Sie begleitete Thakurma, wenn sie trockene Zweige und Blätter für das Herdfeuer sammelte. Sie sah, wie ihre Mutter sorgfältig Brennholzbündel stapelte, um auf plötzlich eintreffende unangemeldete Gäste vorbereitet zu sein. Wenn Gäste kamen, wurde ein kräftiges Feuer entfacht und eine gute Mahlzeit darauf gekocht. Ihre Mutter war eine geschickte Hausfrau; sie ließ niemanden je ahnen, wie karg ihre Einkünfte waren. Es kam für sie nicht in Frage, von den Nachbarn, die auch Verwandte waren, etwas zu erbitten. Den Kindern verbot sie strikt, um irgendetwas zu bitten und, sofern man sie nicht ausdrücklich dazu einlud, etwas zu essen oder Süßigkeiten anzunehmen. Mokshada Devi hatte einen gutmütigen Humor, der ihr half, alle ihr vom Schicksal zugedachten Rollen mit stiller Würde und vollkommener Selbstsicherheit zu spielen. Oft sagte sie uns in späteren Jahren einen Vers auf, der das Geheimnis eines sorgenfreien Lebens enthielt:

»Komm und geh, doch bleibe nicht; beobachte und höre zu, doch urteile nicht. Iß und nimm an, aber bitte um nichts, dann bleibt dein Weg von Sorgen frei!«

Mokshada Devi hatte ein natürliches Talent zur Poesie. Die von ihr komponierten Lieder sind geprägt von der schmerzlichen Sehnsucht nach Erfüllung der religiösen Hoffnungen eines hingebungsvollen Herzens. Nirmala war als Kind fast ständig bei ihr, sie half ihr, führte kleine Aufträge aus oder sprach einfach mit ihr. Nach ihren jüngeren Brüdern und Schwestern und ihrer Thakurma waren die Eltern Nirmalas vertrauteste Gefährten. Sie saß oft bei den Eltern und unterhielt sich mit ihnen.
Manchmal stellte sie Fragen wie die folgende:
      »Ma, die Leute sprechen vom Himmel. Kann man in den Himmel kommen?«
      »Ja, gewiß. Wer den starken Wunsch hat, in den Himmel zu kommen, kann es erreichen.«
      »Weißt du, wie? Sag es mir!«
      »Wer das Verlangen hat, dem wird der Weg gezeigt.«
      »Was ist am Himmel so Besonderes?«
      »Die Leute sagen Himmel, wenn sie Gott meinen. Gott weiß alles und tut alles für uns. Er ist überall und bleibt doch unberührt. Wir wissen dies nicht, weil wir an die Erde gebunden sind. In den Himmel zu kommen bedeutet, Wissen über alle diese Dinge zu erlangen.«
      Es scheint, daß Ma den Älteren in solchen Gesprächen manche Glaubenswahrheit entlockte. In jenen Tagen neigte man von Natur aus zu einer religiösen Lebensweise. Auf dem Land war es allgemeiner Brauch, daß wandernde Sänger (Vairagis) im Morgengrauen von Haus zu Haus gingen und Morgenlieder (Usha-Kirtan) sangen. Das Leitmotiv ihrer Lieder war: »Ein neuer Tag bricht an, steht auf, es ist Zeit, Gott zu verehren. Verschwendet die Zeit nicht mit Schlaf.«
      Nirmalas Vater schloß sich ihnen oft an, manchmal zog er sogar mit ihnen in Nachbardörfer. Aber früher oder später kehrte er immer wieder zurück. Kirtan zu singen war die Triebfeder seines Lebens. Er war vielleicht kein sehr guter Haushälter, aber er besaß ein reiches Repertoire an Liedern der Gottesliebe, und er hatte eine tiefe, wohlklingende Stimme. Es heißt, seine Stimme sei so markant gewesen, daß die Leute stehenblieben, um ihm zuzuhören, selbst wenn er nur eine Melodie summte. Er spielte alle damals gebräuchlichen Instrumente und war mit vielen moslemischen Ustads [meisterhaften Musikern] befreundet.
      Bisweilen gab es musikalische Abendveranstaltungen. Wenn Bipin Bihari dabei zuerst auftreten sollte, protestierten die anderen Musiker: »Wer wird schon bleiben und uns zuhören, nachdem sie dich gehört haben?« Man verglich ihn oft mit Ramprasad, dem heiligen Barden von Bengalen, der nach allgemeiner Überzeugung mit seinem beseelten Gesang die Gegenwart Gottes herbeirufen konnte. Auch Bipin Bihari konnte sich selbst völlig vergessen, wenn er Hari-Kirtan sang. Kirtan ist ein Wechselgesang, dessen Text aus den Namen des persönlichen Gottes mit seinen segensreichen Eigenschaften besteht. Meist gibt es einen Vorsänger, dem ein Chor antwortet, aber ein wirklich begabter Sänger kann auch solo singen.
      Einmal gab es einen Sturm, der wieder einmal die strohgedeckten Hütten beschädigte. Als der Sturm sich gelegt hatte, ging Mokshada Sundari zu der Hütte, in der ihr Gatte selbstvergessen Kirtan sang. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, daß es über seinem Kopf kein Dach mehr gab und daß er und sein Instrument durchnäßt waren. Erst als seine Frau ihn schüttelte, reagierte er und sagte sanft: »Ja, ich sehe, alles wird naß. Ich komme mit.« Seine Frau verbarg ihr Lächeln, indem sie ihren Sari vor das Gesicht zog.
      Nirmala fragte ihren Vater einmal:
»Du singst immer über Hari. Wer ist Hari?«
      »Hari ist einer der Namen Gottes. Er hat viele Namen.«
      »Warum singt man Seine Namen?«
      »Wenn du Seine Namen singst, wird Er zu dir kommen - genauso wie du kommst und tust, worum wir dich bitten, wenn wir dich rufen. So tut auch Er alles für uns, denn Er ist überall und Er hört uns, wenn wir nach Ihm rufen.«
      »Ist Er denn sehr groß?«
      »Ja, das ist Er!«
      »So groß, wie dieses Feld hier?«
      »Viel größer. Man kann Ihn nicht messen. Wenn Er sich zeigt, wirst du sehen, wie groß Er ist, wie grandios Er ist. Und wenn du Ihn darum bittest, wird Er sich zeigen.« Bipin Bihari gab offenbar den Gefühlen über seinen persönlichen Ishta-Devata Ausdruck, als wolle er sie mit einem Freund teilen. Daraufhin stimmte Nirmala mit ihrer lieblichen jungen Stimme ein, wenn er seine wohltönende volle Stimme hören ließ. Bei solchen Gelegenheiten muß es großartigen Hari-Kirtan gegeben haben, und dies geschah häufig, da Vater und Tochter gemeinsam sangen, wann immer es möglich war.
      Wenn Nirmala zu Besuch in Sultanpur war, konnte sie mit einigen Vettern und Cousinen spielen. Eine Cousine, Sushila, schloß sich später zurück dem Ashram an und ließ sich auf Dauer dort nieder. Sie erzählte, daß selbst Tiere sich zu Nirmala hingezogen fühlten. Von der Weide heimkehrende Kühe hielten bei ihr an und stupsten sie sanft. Sushila erzählte auch, sie habe Nirmala manchmal mit Bäumen und Pflanzen sprechen sehen. Das erschreckte die anderen Kinder; es kam ihnen beinahe vor, als ob die Pflanzen antworteten und sich ein wenig verneigten.
      Alle diese Eigenheiten, die ihre Verwandten und Spielgefährten feststellten, blieben Ma das ganze Leben lang erhalten. Oft sah man, daß sie zwischen belebten und unbelebten Dingen keinen Unterschied machte. Didi Gurupriya hatte bemerkt, daß Ma, wenn sie einen Aufenthaltsort verließ, manchmal ums Haus ging und die Wände berührte, als nehme sie von alten Freunden Abschied. Daß sie mühelos mit Pflanzen und Tieren Kontakt aufnehmen konnte, war oft beobachtet worden, und man fand daran kaum noch etwas Ungewöhnliches. Ihre magnetische Anziehungskraft, selbst auf vollkommen Fremde, nahm man später gleichfalls als ganz normal hin und wunderte sich nicht weiter darüber. Schon als Kind wurde Ma in vielen solchen Situationen gesehen. Einmal nahm ihr Vater sie zum Dorf seiner Schwester mit, um an der Feier zur Durga Puja teilzunehmen.
      Vater und Tochter machten sich zunächst auf den Weg zum Fluß, den sie mit einem Dampfer zu überqueren hatten. Mittags machte Bipin Bihari auf einem Markt Pause, um etwas Proviant zu kaufen. Nirmala wartete in einiger Entfernung von dem Laden. Eine Frau, vermutlich eine Prostituierte, kam auf sie zu und fragte, wie sie heiße und wohin sie gehe. Nirmala sagte ihren Namen und erzählte, sie besuchten ihre Tante zur Durga Puja. Dann fragte die Frau, ob sie mit zu ihr kommen wolle, um etwas zu essen, was Nirmala ablehnte. Nach weiteren Fragen und Antworten war es Zeit zu gehen, da ihr Vater fertig war und ihr winkte zu kommen. Auf dem Weg zur Anlegestelle folgte ihnen die Frau in einigem Abstand. Als sie auf dem Boot waren, sahen sie die Frau am Ufer stehen, von wo sie dem kleinen Mädchen nachblickte, solange sie noch zu sehen war.
      Das Dorf Tantar, in dem Nirmalas Tante lebte, war ziemlich weit entfernt, deshalb mußten sie bei einem Freund Bipin Biharis übernachten, dessen Familie Nirmala nie zuvor gesehen hatte. Die Frauen schienen außer sich vor Freude. Sie empfanden ihren Besuch zu dieser glückverheißenden Zeit, als sei die Göttin selbst in ihr Heim gekommen. Sie gaben ihr neue Kleider und andere Geschenke, zeigten ihr größte Zuneigung und nahmen am nächsten Morgen nur ungern Abschied.