Das Yoga System

Pranayama oder das Regulieren (Harmonisieren) der Lebensenergien

Zusammen mit der Asanapraxis, sollte auch ein Bemühen zur Regulierung von Prana einhergehen. Zwischen Körper und Prana existiert eine wechselseitige Beziehung. Prana ist jene Energie, die den gesamten physischen Körper durchdringt und als Bindeglied zwischen Körper und Geist wirkt. Prana ist subtiler als der Körper, jedoch grobstofflicher als der Geist. Prana ist in der Lage zu agieren, aber nicht fähig zu denken. Bei Prana handelt es sich nicht nur um den Atem. Der Atemprozess, d.h. die Ein- bzw. Ausatmung oder das Atemanhalten machen Prana allein nicht aus, sondern sie sind lediglich ein Indiz für das Wirken von Prana. Wir können Prana nicht sehen; sie ist kein physisches Objekt. Aber wir können auf Grund der Atemzüge auf ihre Existenz schließen. Die Ein- und Ausatmung geschieht auf Grund einer besonderen Handlung von Prana. Einige halten daran fest, dass es viele Pranas gibt, andere glauben nur an ein Prana. Prana (die Lebensenergie) ist wirklich nur eine einzelne Energieform, doch sie erscheint vielfältig, wenn sie vom Standpunkt ihrer verschiedenen Funktionen betrachtet wird. Wenn wir ausatmen, ist dies eine ihrer Funktionen. Wenn wir einatmen, wirkt Apana. Die Einatmung ist die Folge von Apana. Das Herz ist das Zentrum von Prana, der Anus ist das Zentrum von Apana.

Es gibt noch eine dritte Funktion, die als Samana bekannt ist, und die eine ausgleichende Kraft darstellt. Ihr Zentrum ist der Nabel. Sie verdaut durch das Feuer, das sie im Körper erzeugt, die Nahrung und sie gleicht auch die verbleibenden Körperfunktionen aus. Die vierte Kraft von Prana ist als Udana bekannt. Sie gibt die Sprache und trennt, zum Zeitpunkt des Todes, Prana vom Körper. Die fünfte Kraft ist als Vyana bekannt. Sie durchdringt den ganzen Körper und sorgt für den Blutkreislauf im gesamten System.

Diese fünffache Funktion ist die Hauptaufgabe von Prana. Sie hat auch noch viele andere Aufgaben, wie z.B. den Augenaufschlag, das Öffnen und Schließen der Augen, zu bewirken, verursacht ein Hunger- und Durstgefühl und ernährt den Körper. Wenn dies geschieht, treten fünf Zweitfunktionen in Aktion, d.h. Naga, Kurma, Krikara, Devodatta und Dhananjaya. Das Wesen von Prana liegt in der aktiven Handlung. Prana lässt das Herz schlagen, die Lungen arbeiten und die Verdauungssäfte produzieren. Deshalb arbeiten die Lungen bis zum Tod. Prana schläft niemals, so wie das Herz niemals aufhört zu schlagen. Prana wird als die Wächterin des Körpers betrachtet.

Prana wird Rajas oder der Ruhelosigkeit zugeordnet. Man kann sie nicht einmal mit großem Aufwand beruhigen. Der Körper, die Natur von Tamas, wird durch die Lebensenergie des Rajas in Bewegung gehalten. Prana veranlasst die Sinne zur Aktivität. Auf Grund ihrer rajasischen Natur lässt sie weder den Körper noch den Geist in Frieden. Solch eine Ablenkung ist sicherlich nicht erwünscht, und Yoga erfordert Stabilität und eine Ausrichtung auf Sattva. Darum muss mit Prana etwas geschehen; sonst wird sie zu einem Hindernis bei der inneren Ruhe. Das Yogasystem schließt eine Technik ein, bei der sie zur Unterstützung der Yogapraxis eingesetzt wird, und diese Technik heißt Pranayama. Wie im Falle der Asanas, findet man auch beim Pranayama vielerlei Methoden. Doch die Yogameditation macht nicht die Praxis vieler Pranayama-Techniken erforderlich. Genauso wie es nur eine Dhyana-Asana gibt, so genügt auch eine Pranayama-Übung, um die Nadis (Nervenbahnen) zu reinigen und um die Lebensenergien im Yoga zu regulieren. Die Lebensenergien müssen von allem Unrat gereinigt werden, d.h. von Formen des Rajas ebenso wie von allen Formen des Tamas.
Prana fließt durch verschiedene Kanäle des Körpers. Sie ist außerordentlich aktiv. Ihre angeregten Funktionen stören den Geist, sodass er sich auf nichts konzentrieren kann. Rajas und Prana regen auch die Sinne und indirekt die Wünsche an. Jeder Versuch, ihre Aktivitäten zu bremsen, hieße, man würde den Körper töten. Wenn man die Aktivitäten vermindern möchte, muss man sorgfältig vorgehen, indem man sich langsam vorantastet und nicht mit der Tür ins Haus fällt. Wenn wir über eine lange Distanz laufen, Treppen steigen oder ärgerlich werden, verliert Prana ihre Harmonie und bleibt in einem erregten Zustand. Sie verspannt sich und macht den Menschen ruhelos. Darum sollte der Yogaschüler physische Aktivitäten meiden, bei denen er sich verausgabt. Die Sitzhaltung sollte stabil und frei von Emotionen sein, und die Pranayama-Praxis sollte langsam vonstatten gehen. Der Atem sollte sanft sein, sodass kein Laut zu hören ist. Man sollte kein Pranayama üben, wenn man sich innerlich belastet fühlt, denn ein bewegter Geist führt zu unrhythmischer Atembewegung. Wenn man hungrig, müde oder innerlich aufgewühlt ist, sollte man kein Pranayama üben. Wenn man ruhig ist, kann man mit Pranayama beginnen. Nehmt die Sitzhaltung Dhyanasana ein.

In den ersten Stufen des Pranayama sollte man nicht den Atem verhalten, sondern nur aus- und einatmen. Prana muss sich erst einmal mit den neuen Bedingungen abfinden lernen, und doch sollte jeder Versuch des Atemanhaltens vermieden werden. Schnelles Atmen sollte durch langsameres Atmen ersetzt und an Stelle der oberflächlichen Atmung sollte tief ein- und ausgeatmet werden. Ein verärgerter Geist verursacht einen unruhigen Atem. Ärger kann sehr leicht unsere Pranayama-Übungen stören. Man kann seine Büroarbeiten wie immer erledigen, und gleichzeitig einen kühlen Kopf bewahren. Doch ein anderer mag nichts tun und doch hypernervös, verärgert und in seine Sorgen versunken sein. Man sollte sorgfältig darauf achten, dass der Geist für die Praxis zugänglich ist.

Während der Einatmung sollte der Brustkorb weit ausgedehnt werden. Wenn wir den Brustkorb bei der Einatmung ausdehnen, empfinden wir Freude. Tägliches tiefes Einatmen fördert die Gesundheit ganz wesentlich. Es sollte zur Pflicht werden, sich täglich zwei Stunden an der frischen Luft aufzuhalten. Pranayama ist eine Methode, die nicht nur die Atmung, sondern auch die Sinne und den Geist harmonisiert. Setzt euch in einen gut temperierten Raum und atmet tief ein und langsam wieder aus. Diese Praxis sollte man einen Monat lang beibehalten. Danach kann mit dem eigentlichen Pranayama begonnen werden. Das technische Atmen wird im Yoga immer als Pranayama bezeichnet. Es geht dabei um zwei Stufen:

Atme langsam und tief aus. Verschließe das rechte Nasenloch mit dem Daumen der rechten Hand. Atme langsam durch das linke Nasenloch ein. Verschließe das linke Nasenloch mit dem Ringfinger, entferne den Daumen vom rechten Nasenloch und atme langsam durch das rechte Nasenloch wieder aus. Dann kehre den Prozess um und atme durch das rechte Nasenlos ein usw. Dieses ist die Zwischenstufe im Pranayama, ohne Atemverhalten und nur mit einer Wechselatmung. Diese Praxis sollte man einen Monat lang beibehalten. Im dritten Monat kann mit dem vollkommenen Pranayama begonnen werden: Atme durch das linke Nasenloch, wie zuvor beschrieben, in der Länge deines Ishta Mantra ein; und atme dann langsam wieder aus. Die Einatmung, das Atemanhalten und die Ausatmung sollte im Verhältnis von 1:4:2 erfolgen, d.h., die Einatmung dauert eine Sekunde, das Atemanhalten vier und die Ausatmung zwei Sekunden. Im Allgemeinen erfolgt das Zählen der Sekunden über ein Mantra, was grob ca. drei Sekunden dauert, ähnlich wie das dreimalige OM-Singen. Man atmet eine Mantra-Länge ein, hält den Atem über vier Mantra-Längen an und atmet in zwei Mantra-Längen wieder aus. Jegliche Hast, um die Zeiten auszudehnen, sollte vermieden werden. Ob man sich während des Atemanhaltens gut fühlt oder nicht, muss man individuell prüfen. Es darf kein Gefühl von Atemnot entstehen. Das was als Regel für die Asanas gilt, gilt auch für Pranayama. Sthira und Sukha, leicht und angenehm, ohne jegliche Anstrengung; dieses gilt gleichermaßen für Asanas und Pranayama in der Praxis. Dieses bedeutet ein langsames und schrittweises Fortschreiten im Prozess.

Die Dauer der Pranayama-Übung hängt vom körperlichen Befinden und den jeweiligen Lebensumständen ab. All die verschiedenen wichtigen Faktoren müssen in die Betrachtung mit einbezogen werden. Die normale Übungsweise im Pranayama ist die zuvor beschriebene, die als Sukhapuraka (leichte Praxis) bekannt ist. Die anderen Pranayama-Formen, wie Bhastrika, Sitali usw., haben nur unterstützende Funktionen, sind für die Yogameditation aber nicht von Bedeutung. Im Hatha Yoga werden bezüglich Pranayama viele Einzelheiten diskutiert. Eine davon ist beispielsweise der dreifache Verschluss (Bandhatraya), der vorzugsweise aus Muladharabandha, Uddiyanabandha und Jalandharabandha besteht. Doch hat dies nichts direkt mit dem Ziel des Yoga zu tun. Pranayama ist nicht das Ziel des Yoga, sondern nur ein Mittel zum Zweck. Letztendlich geht es darum, den Geist zu bändigen, wobei Pranayama usw. der Vorbereitung dient. Wenn man einer großen Persönlichkeit begegnen will, muss man viele Hindernisse überwinden, und viele kleine Ebenen müssen mit Referenzen befriedigt werden. Ähnlich verhält es sich mit den Wächtern des Körpersystems, den Pranas, die man nicht übergehen darf. Man muss ihnen die Referenz erweisen. Wir müssen etwas mit dem Körper und den Pranas machen, indem wir ihrem Status und ihren Funktionen unsere Referenz erweisen. Wir haben unsere sozialen und auch unsere persönlichen Probleme. Das Soziale muss mit den Yamas angegangen werden, und das System muss durch die Niyamas beruhigt werden. Die Lebensenergie (Prana) ist eine rein körperliche Angelegenheit und deren Regulierung ist eine Vorbedingung für höhere Disziplinen. Eine höhere Stufe kann solange nicht angegangen werden, wie die vorgehende Stufe nicht gemeistert wurde. Es gibt keine Sprünge, sondern nur einen schrittweisen Fortschritt über jede einzelne Stufe, obwohl einige Stufen vergleichsweise unbedeutend sein mögen. Durch die zuvor beschriebene Art der Pranayama-Übung wird die Basis für einen Körper-, Geist- und Nervenrhythmus gelegt und ein Rhythmus für die Sinne vorbereitet. Prana läutet wirklich die Glocken, um alles in unserem System zu wecken. Die Kräfte erwachen, wenn Prana aktiviert wird.

In den verschiedenen Yogaschriften werden die Pranayama-Methoden mehr oder minder stark betont. Die Hatha-Yoga-Pradipika, die bedeutendste Hatha-Yoga-Beschreibung, legt mehr Wert auf Pranayama als auf die Asana-Praxis. Unsere körperliche Physis hängt weitgehend von den Lebensenergien ab. Gesunde Pranas sind eine Gewähr für einen gesunden Körper. Wir sollten nichts annehmen, was unser Nervensystem beeinträchtigen könnte. Die Yoga-Praxis verbietet alles Extreme. Die Lebensenergien (Pranas) müssen während des ganzen Jahres, unter allen Witterungsbedingungen und Gemütszuständen im Gleichgewicht gehalten werden. Die Texte mahnen den Yoga-Übenden ausdrücklich zu größter Vorsicht.

Es gibt Sannyasin, die Bücher über Pranayama gelesen haben, und glaubten, sie könnten es dabei bewenden lassen. Entgegen dem Rat älterer Mönchen, fuhren sie in ihrer Praxis fort und konzentrierten sich auf den Punkt zwischen den Augenbrauen, was man ohne geeigneten Lehrer am Anfang nicht machen sollte. Während einer dreitägigen Übung wurde dieser Sannyasin schließlich vermisst. Nach einer Suche nach ihm, fand man ihn in seinem von innen verschlossenen Zimmer. Kein Rufen konnte ihn erwecken. Die Tür musste aufgebrochen werden. Selbst das Rütteln seiner Schultern konnte ihn nicht ins Bewusstsein zurückbringen; möglicherweise waren seine Pranas in einem Zentrum im Inneren eingeschlossen und konnten sich nicht daraus befreien. Sein Guru kam, legte seine Hand auf seine Stirn und wiederholte drei Mal das ‚OM‘. Der Übende kam wieder zu Bewusstsein. Die Leute glaubten er hätte das Samadhi erreicht, doch zu aller Überraschung war er mit all seinen negativen Eigenschaften immer noch derselbe, und es gab keine Anzeichen dafür, dass er mit der Glückseligkeit des Samadhi in Berührung gekommen war. Nach seinem Tode zerfiel und schmolz sein Körper derartig schnell dahin, dass er nicht einmal mehr angehoben, sondern nur noch weggespült werden konnte. Der Schüler hatte keine spirituelle Erleuchtung erreicht, sondern geriet durch falsches Pranayama-Üben in einen Knoten und setzte letzten Endes seine Gesundheit aufs Spiel. Darum gibt es in allen Schriften immer wieder eingehende Warnungen. Die Pranas sollten nicht auf eine bestimmte Körperregion konzentriert werden. Man sollte sich ganz besonders zu Anfang nicht auf einen Punkt oberhalb des Nackens konzentrieren. Konzentrationen in den Kopf hinein lenken die Energien (Prana) zu diesem Punkt und das Blut wird in diesen Bereich gelenkt; und genau dann beginnen die Menschen über Kopfschmerzen, stechenden Schmerz und dergleichen zu klagen. Keine Meditationstechnik sollte halbherzig und ohne eine richtige Einführung in diese Technik begonnen werden. Man sollte auch nicht dem Irrglauben unterliegen, dass man andere Menschen heilen könnte, indem man Prana auf einen anderen Körper überträgt. Anfänger sollten sich in dieser Methode nicht versuchen. Man kann Gott um die Gesundheit oder das Wohlergehen anderer bitten; man sollte aber nicht seine Hand auflegen oder versuchen, Energien auf andere Menschen zu übertragen, sonst wird man selbst zum Verlierer. Was immer man durch Sadhana erworben hat, kann durch solche Praktiken wieder verloren gehen. Aus einem Enthusiasmus heraus kann man leicht die eigenen Tapas wieder vergeuden. Im fortgeschrittenen Stadium, wenn man voller Kraft ist, entsteht solche Gefahr nicht, denn man kann den Ozean nicht leeren, wenn man ein wenig Wasser verschüttet, - dies geschieht nur, wenn die Wasservorräte klein sein. Dies ist der Grund, warum viele Sucher den Menschen nicht gestatten, sich vor ihnen auf den Boden zu werfen und ihre Füße zu berühren. Diese Regel gilt nicht für fortgeschrittene Seelen, doch Sadhakas sollten unbedingt Vorsicht walten lassen. Die Erdanziehungskraft zieht das Prana herunter und sie neigt dazu, den Körper durch die Extremitäten zu verlassen. Man kann beobachten, dass Brahmacharins und manchmal auch Sannyasins Holzsandalen zum Schutz gegen einen Abfluss der Elektrizität tragen. Wenn man die Füße eines Schülers berührt, kann die aufgebaute Energie durch die Berührung auf eine andere Person übertragen werden. Prana kann durch eine Fehlleitung oder Überforderung abfließen. Lass Pranayama sich langsam entwickeln, und lass niemand überhastet voranschreiten.

Pranayama sollte nicht unmittelbar nach den Mahlzeiten praktiziert werden. Es wäre besser vor dem Essen mit leerem Magen zu üben. Während der Ein- bzw. Ausatmung sollte kein Atemgeräusch wahrnehmbar sein. Das Gesicht sollte beim Sitzen in Richtung Norden oder Osten gewandt sein. Es gibt bestimmte Anzeichen, die den Fortschritt im Pranayama verraten. Diese Zeichen sind allerdings nicht schon nach einer kurzen Übungsdauer erkennbar. Ein positives Körpergefühl, neue Energie, ungewöhnliche Stärke und geringere Ermüdungserscheinungen sind ein Indiz für den Fortschritt im Pranayama.