Die Essenz der Brahma Sutras


Brahman und die Verwirklichung Brahmans

Ich komme nun zu dem Thema über das Schicksal der Seele im Augenblick ihrer Befreiung. Dieses Thema ist widersprüchlich: Was geschieht mit der Seele, wenn sie befreit wird? Ich bin vielen gebildeten Menschen und Philosophieprofessoren begegnet. Zu Gurudevs Zeiten besuchte uns der Leiter der Philosophiefakultät der Cornwall-Universität aus New York. Er blieb ca. 21 Tage. Er kam jeden Tag, und wir saßen gemeinsam seiner Frau zusammen, die eine Doktorin war. Er wollte alle möglichen Themen diskutieren und war im Beisein von Gurudev der Wortführer bei den alltäglichen Satsangas bzgl. westlichen Gedankengutes.

Während unserer Gespräche fragte mich der Professor: „Wo nach strebst du letztendlich?“ – Ich sagte: „Wir streben nach der Befreiung des Geistes in Gott!“ – „Was bedeutet das?“ – Ich sagte: „Sich mit Gott zu identifizieren.“ – „Was geschieht, wenn wir dies erreicht haben?“ – „Du verlierst deine Individualität und wirst zu allem.“ – Er sagte: „Oh, ich verliere mich selbst? Wenn ich nicht mehr bin, wer wird Gott dann erfahren? Wie du sagst, ist der Erfahrende nicht mehr da. Wer wird dann die Befreiung erfahren?“ – Ich sagte: „Gott erfährt die Befreiung.“ – „Oh, was ist dann mit mir?“ – „Du bist derart auf die Existenz Gottes eingestimmt, dass sich die Frage darüber nicht mehr stellt. Wenn Mutter Ganga‘ in den Ozean fließt, stellt dann Mutter Ganga‘ die Frage: Was geschieht mit mir im Ozean?‘ Welche Antwort wirst du ihr geben? Wird sie darauf bestehen, weiterhin zu existieren? Und wenn du sagst, dass die Ganga nicht weiter als Ganga im Ozean existieren wird, wird dies irgendein Verlust für Mutter Ganga‘ zur Folge haben? Ganga wird zum Ozean. Nun gut, es gibt dann Mutter Ganga‘ nicht mehr. Kann man sagen, dass sie nicht mehr existiert? Ähnlich verhält es sich mit allem. Einerseits sind wir nicht mehr da, doch andererseits kann man nicht behaupten, dass wir nicht da sind. Mutter Ganga‘ wird Teil des Ozeans und doch auch wiederum nicht. Kannst du diese Feinheit verstehen?“ – Er sagte: „Schlimm! Westler können das nicht verstehen. Vermischen‘ ist ein schlimmes Wort.“

Man kann Gott erreichen, das Himmelreich regieren. All diese Dinge sind gut zu verstehen; doch Vermischen‘ ist ein zerstörendes Wort! Die Brahma Sutra greift dieses Thema auf. Es gibt dabei eine menge Widersprüche. Wenn man ehrlich die Sutras liest, wirst man feststellen, dass dieses Thema von Anfang bis Ende kontrovers besprochen und argumentiert wird.

Bei genauer Analyse der wirklichen Bedeutung der Sutras scheint es, dass Acharya Ramanujas und nicht Sankaracharyas Interpretation über Gott und die Welt favorisiert wird, auch wenn man Sankaracharyas Gedankengut wieder findet.

Gemäß Ramanuja vermischt sich die Seele nicht mit Gott, sondern sie erfreut sich der Schönheit Gottes. Unser Körper besteht aus so vielen Zellen. Kann man sagen, dass diese Zellen du selbst sind? Oder unterscheidest du dich von den Zellen? Wenn es die Zellen nicht gäbe, dann wäre der Kör­per nicht da; doch bist du selbst die Zellen? Wenn du sagst: Ich komme aus meinem Zimmer und sitze hier‘, wer ist dann dieses Ich‘? Ist dies ein Bündel von Zellen, was dort spricht? Der aus Zellen bestehende Körper ist von dem zu unterscheiden, was die Zellen verkörpern. Und Ramanuja schließt daraus, dass alles Weltliche und Individuelle, Zellen bzw. Teile eines göttlichen Körpers sind. Man kann zwischen dir und dem aus Zellen bestehenden Körper unterscheiden; und doch bist du nicht die Zellen. So verhält es sich auch mit den Individuen, die Gott erreichen. Sie sind von Narayana, Vishnu und dem allmächtigen Gott nicht trennbar, doch sind sie nicht Narayana selbst. Die Zellen des Körpers sind vom Körper nicht trenn­bar, doch der Körper ist selbst eine Vereinigung und kann nicht als Mischmasch von Zellen angesehen werden. Hier liegt der Unterschied. Gemäß Ramanujas Doktrin ist die Beziehung zwischen Gott und der Welt eine Seelenkörper-Beziehung.

Doch Acharya Sankara stimmte nicht mit dieser Entscheidung überein. Sei Standpunkt ist, dass man das Wort Beziehung‘ an dieser Stelle nicht anwenden darf. Beziehung‘ heißt, dass man die Existenz zweier unterschiedlicher Dinge akzeptiert. Zwei unterschiedliche Dinge können nicht eins werden. Und wenn zwei Dinge nicht zusammenkommen können, besteht Dualität. Wenn jedoch Dualität besteht, gibt es keine universale Erfahrung. Darum hat Ramanuja nicht Recht. Sankara tritt dafür ein, dass die Brahma Sutra aussagt, dass sich die Seele mit Gott in einer Identität von Universalität vermischt.

Die Schwierigkeiten ergeben sich bei der Definition von Gott (Brah­man), die zu Anfang der Brahma Sutra gegeben wird. Wer ist Gott? Es heißt dort nicht, dass Gott das Absolute ist, nicht eingeordnet werden kann oder unsichtbar ewiges Sein ist. Die Definition ist viel genauer: Gott ist der, der die Welt erschafft, erhält und zerstört. Diese Definition ist als vorläufige Definition‘ bekannt. Es gibt einen Unterschied zwischen wesentlicher und vorläufiger Definition‘. Wo ist das Haus von Herrn John? Wenn man sagt: Es ist das Haus, worauf die Krähe sitzt‘; so mag dies im Augenblick zutreffen, doch heißt dies nicht, dass die Krähe immer dort ist. Die Definition ist unvollständig, wenn man sich auf die dort sitzende Krähe bezieht.

Genauso unbefriedigend ist es, Gott als Schöpfer zu bezeichnen, denn Gott ist nicht daran gebunden, immer nur die Welt zu erschaffen. ER kann damit aufhören. Wenn ER damit aufhört, welche Wesensart hat ER dann? Die Brahma Sutra gibt die Definition Tatastha Lakshna‘. Dies ist eine unglückliche Beifügung, die nicht die wesentliche Natur Gottes wieder gibt. Worin liegt der Sinn, Gott in einer Weise zu definieren, die Seiner wahren Natur nicht entspricht!? Doch der Respekt der gebildeten Leute in Indien gegenüber der Brahma Sutra verbietet, gegen die Auffassung der Brahma Sutra zu argumentieren. Was auch immer die Sutra sagt, muss akzeptiert werden. Wenn man der wahren Bedeutung der Sutra widerspricht, geht man das Risiko ein, als Ketzer verschrien zu werden. Alle Kommentatoren, wiederholen, was die Sutra sagt. Und dies ist der Anfang der Sutra, doch was ist das Ende? Anavrittih shabdat, Anavrittih shabdat‘ – nach dieser Aussage, kehrt jemand, nachdem er Gott (Schöpfer, Erhalter, Zerstörer) und Befreiung erreicht hat, aus diesem Zustand nicht wieder zurück.

Wenn die Seele mit dem Absoluten Sein eins geworden ist, wird sie nicht mehr zurückkehren. Doch Acharya Sankara versucht uns zu erklären, dass der Gott, wie er in der Brahma Sutra beschrieben wird, ein Gott mit vielen Gesichtern (Saguna Brahman) ist, denn er ist ein Gott, der erschafft, bewahrt und zerstört. Doch die Schrift sagt nicht, wer Gott, unabhängig von seiner Aktivität als Schöpfer, Erhalter und Zerstörer, wirklich ist. Die Beschreibung des wirklichen Wesen Gottes wird vermisst. Doch niemand traut sich zu sagen, dass die Brahma Sutra hier keine richtige Auskunft gibt!

Die orthodoxen Kommentatoren tun sich an dieser Stelle schwer. Sie können offensichtlich weder der Sutra zustimmen, noch können sie sagen: Ich stimme nicht zu!‘ Wenn sie nicht zustimmen, sind sie Ketzer; wenn sie zustimmen, widersprechen sie sich selbst. Acharya Sankara weiß dies nur zu gut. Darum hält er nur an Anavrittih Shabdath‘ fest, was so viel heißt wie du kommst nicht zurück, solange Brahma Loka sich nicht auflöst‘. Dieses wäre nur eine bedingte, jedoch keine absolute Befreiung. Was ist dann absolute Befreiung?

Gemäß Sankara ist der in der Brahma Sutra beschriebene Gott als Schöpfergott, eine Funktion, von der man annimmt, dass sie bei allen anderen Interpretationen der Acharyas (Ramanuja, Madhva, Nimbarka, Vallabha, Chaitanya, Mahaprabhu, den Sakta und Saiva Philosophen) beibehalten wurde. Im Gegensatz zu Sankara, haben all diese Philosophen meistens die gleiche Sichtweise.

Die Schwierigkeit liegt in der Definition von Brahman. Die Brahma Sutra hätte folgende Aussage treffen können: Gott ist existierende bewusste Glückseligkeit, Satchidananda‘. Worin liegt der Fehler in dieser Definition? Reines Sein, reines Bewusstsein, reine Freiheit‘, an Stelle der Aussage der Brahma Sutra: Gott ist derjenige, der erschafft, bewahrt, zerstört‘ – Warum diese Definition? Entsprechend dieser Sichtweise, müssen wir bei der Befreiung unbedingt nach Brahma Loka gehen, haben kosmisches Bewusstsein, werden jedoch nicht zu Brahma selbst. Es gibt eine besondere Sutra: Jagat Vyaparavarjam‘ – die befreite Seele wird alle Freiheiten mit Ausnahme der Schöpferkraft haben. Es ist so, als würde jemand mit allen Annehmlichkeiten und Freuden, die ein Präsident hat, im Weißen Haus‘ leben, jedoch nicht der Präsident selbst sein. Wenn man in Brahma Loka ist, wird man nicht Brahma selbst sein. Das Erreichen von Brahma Loka ist ein Thema, das einen Rückschluss auf die Bhagavadgita zulässt. Warum sagt dann die letzte Sutra, dass man nicht zurückkehrt?

Sankara ist hier in Argumentationsnöten. Er argumentierte wie ein scharfsinniger Advokat. Du kehrst nicht zurück‘, bedeutet, so lange der Schöpfer wirkt und Brahma Loka bestehen bleibt, wirst du dort sein und nicht zurückkehren‘ – Anavrittih. Doch was geschieht, wenn sich das Universum auflöst?

Die Gegenwart eines zweiten Universums begrenzt die Freiheit. In einer Demokratie ist jedermann frei und doch wiederum nicht frei. In einem Land haben alle Mitbürger die gleichen Freiheiten. Es herrscht jedoch keine völlige Freiheit, wenn die Freiheit Einzelner eingeschränkt ist. Das Vorhandensein anderer Menschen und die Notwendigkeit allen Menschen die gleiche Freiheit zu gewähren, schränkt die eigene Freiheit ein. Die Freiheit aller ist durch die Anwesenheit anderer Menschen eingeschränkt, die ebenfalls die gleiche Freiheit haben. Doch dies kann man nicht als absolute Freiheit bezeichnen.

Absolut heißt: Ohne jede Vorbedingung. Man ist insoweit in seiner eigenen Freiheit eingeschränkt, wie man anderen Menschen Freiheit zugesteht. Doch ich möchte bedingungslose Freiheit. Dies ist nur in einem zeitlosen Zustand möglich. Unter zeitlos‘ ist keine bestimmte Zeitspanne zu verstehen. Selbst wenn man Millionen von Jahren leben würde, befindet man sich nur innerhalb einer Zeitspanne. Doch wenn Freiheit zeitlos ist, dann ist sie ewig. Dieser Zustand ist unvorstellbar. Kein Mensch kann sich vorstellen, was Ewigkeit ist, denn unser Geist-Körper-Komplex ist in Raum und Zeit verstrickt. All unser Denken ist räumlich oder zeitlich bedingt. Selbst wenn man seine Vorstellungen jenseits von Raum und Zeit ausdehnen würde, so ist selbst dieser Gedanke von Raum und Zeit bestimmt. Darum ist es vergebliche Liebesmühe, sein Bewusstsein von Raum und Zeit zurückzuziehen. Darum kann sich niemand vorstellen, was Ewigkeit oder Gott ist, und auf Grund des bestehenden Egoismus weiß auch niemand, was Freiheit ist.

Fürchtet euch nicht, denn ihr müsst eure Hinwendung zu Gott genauso aufgeben, wie Ganga, Yamuna, Mississippi, Missouri, Wolga usw., die ihre Identität im Ozean ebenfalls verlieren. Sie verlieren sich eigentlich nicht im Ozean, sondern werden zu ihm selbst. Warum fürchtet man sich vor dem Wort verlieren‘? Die Ganga hat sich nicht in der Weite des Ozeans verloren, sondern sie ist zu einem größeren Sein geworden. Darum bedeutet die Auflösung der eigenen Identität nicht gleichzeitig ein Verlust der Existenz, sondern es ist die Ausdehnung der Existenz in einer unvergleichlichen Freiheit. Dies ist Moksha. Die Menschen sind bei diesem Gedanken verwirrt, denn alle Gedanken sind ursächlich durch Raum und Zeit bestimmt.

Diese Argumente, Fragen, Widersprüche entstehen auf Grund der Tatsache, weil es für den menschlichen Geist unmöglich ist, in der Dimension von Ewigkeit und Unendlichkeit zu denken. Da die Gedanken nicht jenseits von Raum und zeit gehen können, kann niemand verstehen, was Moksha ist.

Meditation ist der Weg zur Befreiung. Widerspruch ist zwecklos, akademische Streitereien helfen keinem spirituellen Sucher. Meditiere gemäß den Vorgaben der Upanishaden, die als Vaishvanara Vidya oder Bhuma Vidya bekannt sind.