15. Kapitel Dattatreya Jayanthi

Om Namo Bhagavate Dattatreyaya

Der Geburtstag (Jayanthi) von Dattatreya fällt auf den Vollmondtag des Monats Margasîrsha (Dezember/Januar). Dem Tag liegt folgende mythologische Geschichte zugrunde:

Anusuya
war die Frau von Atri Maharishi45, eines der sieben größten Seher und Propheten. Sie gilt als Vorbild von Treue und Reinheit, denn sie hielt sich strikt an die ethischen Grundgesetze der Ehe (Pativrata Dharma), wie Treue und Ergebenheit gegenüber dem Ehemann und ihn zu respektieren wie Gott selbst. Sie übte lange Zeit strenge Askesepraktiken, um Söhne zu bekommen, die Brahma (Schöpfergott), Vishnu (Erhalter) und Shiva (Prinzip der Zerstörung und des Wandels), der hinduistischen Trinität, ebenbürtig wären46.

Eines Tages baten Saraswati47, Lakshmi48 und Parvati49 ihre Ehemänner50, Anusuyas eheliche Treue zu testen.

Brahma
, Vishnu und Shiva kannten Anusuyas harte Askeseübungen und ihren Wunsch nach einem Sohn. So kamen sie den Bitten ihrer Frauen nach in dem Bewusstsein, dass damit auch Anusuyas Wunsch in Erfüllung gehen würde. In Gewänder von Sannyasins (Mönche, Entsagte) gehüllt, kamen sie zu Anusuya und baten sie um Almosen. Sie könnten jedoch diese Almosen nur entgegennehmen, wenn sie sie ihnen unbekleidet geben würde. Anusuya befand sich in einem großen Zwiespalt. Sie konnte die Sannyasins nicht abweisen51, aber sie musste auch ihr Pativrata Dharma (eheliche Moral) bewahren. Wenn sie sich jemand anderem als ihrem Mann nackt zeigen würde, würde sie gegen die eheliche Moral verstoßen. Sie meditierte auf die Gestalt ihres Gatten und bespritzte die Sannyasins mit ein paar Tropfen des Wassers, mit dem sie am Morgen die Füße ihres Mannes gewaschen hatte. Die Trimurtis verwandelten sich auf der Stelle in drei Säuglinge. Gleichzeitig bildete sich in Anusuyas Brüsten Milch. So nahm sie diese Kinder als ihre eigenen an, gab ihnen in unbekleidetem Zustand Milch und wiegte sie 52. Ungeduldig wartete sie auf die Rückkehr ihres Mannes, der hinausgegangen war, um sein rituelles Bad zu nehmen.

Sowie er zurückkehrte, berichtete Anusuya ihm, was sich während seiner Abwesenheit ereignet hatte, setzte ihm die drei Kinder zu Füßen und verehrte ihn. Aber dank seiner göttlichen Seherkraft wusste Atri bereits, was geschehen war. Er umarmte alle drei Kinder, die nun zu einem Kind mit zwei Füßen, einem Leib, drei Köpfen und sechs Händen wurden. Atri segnete seine Frau und erklärte ihr, dass die höchsten Götter selbst die Gestalt dieser drei Kinder angenommen hätten, um ihren Wunsch nach einem gottgleichen Sohn zu erfüllen.

In der Zwischenzeit ging Narada, ein anderer Weiser, zu Saraswati, Lakshmiund Parvati und informierte sie darüber, dass ihre Ehemänner durch die Kraft von Anusuyas Reinheit und Treue in drei Kinder verwandelt worden seien und nicht zu ihnen zurückkehren könnten, es sei denn, sie bäten Anusuya und Atri um ihre Ehemänner als Gabe. So nahmen Saraswati, Lakshmi und Parvati die Gestalt einfacher Frauen an, kamen ins Haus von Atri und baten um ihre Männer als Almosen. Atri verehrte die drei Göttinnen gebührend und betete mit gefalteten Händen zu ihnen, dass sein und Anusuyas Wunsch nach einem Kind sich erfüllen möge.

Daraufhin erschienen die drei Götter in ihrer wahren Gestalt vor Atri und sagten: „Dieses Kind wird ein großer Weiser werden, wie du es gewünscht hast, und es wird uns drei Göttern ebenbürtig sein, gemäß dem Wunsch von Anusuya. Es soll den Namen Dattatreya tragen.“ Nach diesen Worten verschwanden sie.

Dattatreya
(wörtl.: das dreifache Geschenk) wuchs heran. Er trug das Licht der Trimurtis in sich und wurde einer der größten Weisen, so dass Seher und Asketen ihn verehrten. Er war freundlich, friedliebend und liebenswürdig. Er war ein Avadhuta 53. Er predigte die Wahrheit des Vedanta.

Dattatreya lehrte Subramanya seine Avadhuta Gita. Dieses wunderbare Buch enthält die Wahrheit und die Geheimnisse des Vedanta sowie die Erfahrungen der Selbstverwirklichung.

Eines Tages, als er glücklich im Wald umherstreifte, traf Dattatreya König Yadu, der ihn nach dem Geheimnis seines Glücks und nach dem Namen seines Gurus fragte.

Dattatreya antwortete: „Das Selbst allein ist mein Guru. Aber vieles habe ich auch von 24 anderen Wesen und Dingen gelernt. Diese sind daher auch meine Lehrer.“ Und Dattatreya beschrieb nun, von wem er welche Weisheit erworben hatte:

„Die Namen meiner 24 Gurus sind Erde, Wasser, Luft, Feuer, Himmel, Mond, Sonne, die Taube, die Pythonschlange, das Meer, der Nachtfalter, der Honigsammler (Schwarze Biene), die Bienen, der Elefant, der Hirsch, die Fische, die Prostituierte Pingala, der Rabe, das Kind, das Mädchen, die Schlange, der Pfeilmacher, die Spinne und der Käfer.

1. Von der Erde lernte ich Geduld und anderen Gutes zu tun.

2.
Vom Wasser lernte ich die Eigenschaft der Reinheit.

3.
Von der Luft lernte ich, ohne Anhaftung zu sein, obwohl ich in dieser Welt mit vielen Menschen zusammenkomme.

4.
Vom Feuer lernte ich, den Glanz der Selbsterkenntnis und der Askese scheinen zu lassen.

5.
Vom Himmel lernte ich, dass das Selbst alldurchdringend ist und dennoch keine Verbindung mit irgend einem Objekt hat.

6.
Vom Mond lernte ich, dass das Selbst immer vollkommen und unveränderlich ist und dass nur durch die begrenzenden Attribute Schatten darauf geworfen werden.

7.
Wenn das Sonnenlicht sich in mehreren Wassergefäßen widerspiegelt, erscheint es als viele verschiedene Spiegelungen. Genauso scheint auch Brahman (das Absolute, das Göttliche) unterschiedlich zu sein wegen der verschiedenen Körper, in denen es sich durch das Gefäß des Geistes widerspiegelt. Das ist die Lektion, die ich von der Sonne gelernt habe.

8.
Einst sah ich zwei Tauben mit ihren Jungen. Ein Vogelfänger breitete sein Netz aus und fing die jungen Vögel. Die Mutter hing sehr an ihren Jungen. Sie fiel ebenfalls ins Netz und wurde gefangen. Daraus habe ich gelernt, dass Anhaften die Wurzel aller irdischen Bindungen ist.

9.
Eine Python bewegt sich nicht, wenn sie etwas zu essen braucht. Sie bleibt an ihrem Platz liegen und ist zufrieden mit dem, was sie bekommt. Von ihr habe ich gelernt, mir über das Essen keine Gedanken zu machen und mit dem zufrieden zu sein, was ich bekomme.

10.
Wie das Meer unverändert bleibt, auch wenn Hunderte von Flüssen in es münden, so sollte auch ein Weiser unberührt bleiben inmitten aller möglichen Versuchungen, Schwierigkeiten und Probleme.

11.
Vom Nachtfalter lernte ich die Lektion, den Sehsinn zu beherrschen und den Geist fest auf das Selbst zu richten (denn der Nachtfalter wurde, angezogen vom Licht des Feuers, von der Flamme verbrannt).

12.
Ich stille meinen Hunger, indem ich in einem Haus um ein wenig Essen bitte und ein wenig in einem anderen. Ich bin keinem Haushalt eine Last. Das lernte ich von der schwarzen Biene, die Honig von verschiedenen Blüten sammelt.

13.
Die Bienen sammeln ihren Honig mit großer Mühe, doch dann kommt ein Jäger des Wegs und nimmt ihnen den Honig einfach weg. Das lehrte mich, dass es sinnlos ist, Dinge anzuhäufen.

14.
Der Elefantenbulle fällt blind vor Lust in die grasbedeckte Falle, nur weil er einen weiblichen Elefanten sieht. Daher sollte man sinnliches Begehren ausschalten.

15.
Durch seine Liebe zur Musik lässt sich der Hirsch vom Jäger anlocken und fangen. Deshalb sollte man keine oberflächlichen Lieder anhören.

16.
Der Fisch, der gierig nach Futter schnappt, wird leicht zum Opfer des Köders. So verliert auch der Mensch, für den Essen und sinnliche Genüsse sehr wichtig sind, seine Unabhängigkeit und richtet sich zugrunde.

17. Die Prostituierte Pingala war es eines Nachts müde, weiter nach Kunden Ausschau zu halten und gab die Hoffnung auf. Sie musste mit den Geschäften des Tages zufrieden sein. Sie zog sich zurück und schlief tief und fest. Von ihr lernte ich, dass Zufriedenheit kommt, wenn man die Hoffnung (auf mehr, auf etwas Bestimmtes) aufgibt.

18.
Ein Rabe ergatterte ein Fleischstückchen. Andere Vögel verfolgten ihn und griffen ihn an. Er ließ das Stück Fleisch fallen und hatte sofort Ruhe.
Von ihm lernte ich, dass ein Mensch allen möglichen Schwierigkeiten, Sorgen und Leid ausgesetzt ist, wenn er sinnlichen Vergnügungen nachjagt.
Sobald er davon ablässt, ist er frei und glücklich wie ein Vogel.

Dattatreya Jayanthi19. Ein Kind, das von der Mutter ernährt wird, ist frei von allen Sorgen und Ängsten. Es ist immer fröhlich. Vom Kind lernte ich die Tugend der Fröhlichkeit.

20. Ein Mädchen schälte rohen Reis. Ihre Armreifen klapperten dabei laut. Die Familie hatte Besuch von Verwandten des Mannes. Um das Klappern zur Ruhe zu bringen, nahm sie einen Reifen nach dem anderen ab. Selbst als sie nur noch zwei trug, gab es noch ein Geräusch. Erst als sie nur noch einen umhatte, hörte man nichts mehr und sie war zufrieden. Ich lernte von diesem Mädchen, dass Zusammenleben mit vielen Menschen Uneinigkeit, Unruhe, Zank und Streit mit sich bringt. Selbst zwischen zwei Menschen können unnötige Worte und Hader entstehen. Ein Asket, ein Sannyasin (Entsagter), sollte deshalb allein in der Einsamkeit bleiben.

21.
Eine Schlange baut sich ihre Höhle nicht selbst. Sie wohnt in einem Bau, der von anderen gegraben wurde. So sollte auch ein Asket sich kein Heim bauen, sondern in einem Tempel oder in einer Höhle wohnen, die schon vorhanden sind.

22.
Vom Pfeilschnitzer lernte ich die intensive Konzentration des Geistes.

23.
Die Spinne produziert lange Fäden und verwebt sie zu einem Spinnennetz. Dann verwickelt sie sich selbst darin. Der Mensch webt ein Netz aus seinen eigenen Gedanken und Vorstellungen und verfängt sich darin. Wer weise ist, sollte daher alle weltlichen Gedanken verbannen und nur an Brahman denken.

24.
Der Käfer fängt einen Wurm, legt ihn in sein Nest und betäubt ihn mit einem Stich. Der arme Wurm hat nun ständig Angst vor der Rückkehr des Käfers und vor dem Stich und wird schließlich selbst zum Käfer, weil er dauernd an ihn denkt. Vom Käfer und vom Wurm lernte ich, mich durch tiefe Meditation in das Selbst zu versenken. So löste ich jegliches Anhaften an den Körper und erreichte die Befreiung.

Diese erhebenden Worte Dattatreyas beeindruckten den König sehr. Er entsagte der Welt und praktizierte fortan tiefe Meditation auf das Selbst.

Dattatreya
kannte weder Intoleranz noch Vorurteile. Er nahm Lektionen an aus jeder Quelle an. Wer nach Weisheit strebt, sollte dem Beispiel Dattatreyas folgen.

Stehe an Dattatreya Jayanthi zu Brahmamuhurta (Zeit vor Sonnenaufgang, etwa 3.00 bis 6.00 Uhr morgens) auf und meditiere. Faste und bete tagsüber. Ziehe dich zurück. Vergiss den Körper. Identifiziere dich mit dem wonnevollen Selbst. Lies Dattatreyas glorreiche Werke, besonders die Avadhuta Gita und die Jivanmukta Gita. Verehre Dattatreya oder deinen eigenen Lehrer. Fasse den nützlichen Vorsatz, den Lehren Dattatreyas zu folgen. So wirst du das Selbst bald verwirklichen.

Im Sivananda Ashram in Rishikesh wird dieser Tag jedes Jahr im Dattatreya-Tempel auf dem Hügel neben dem Hauptashram gefeiert:

1. Das wunderschöne Standbild Dattatreyas wird mit rituellem Baden und Blumengaben gebührend verehrt.

2.
Bewohner und Besucher versammeln sich dort und singen den Namen
und den Ruhm Gottes.

3.
Bei dieser Zusammenkunft und auch beim Abendsatsang im Ashram halten Yogis (Yoga-Praktizierende) und Sannyasins (Mönche, Entsagte) Vorträge über das Leben und die Lehren Dattatreyas. Auch die Avadhuta Gita und die Jivanmukta Gita werden gelesen und erläutert.

Es ist ein Tag großer Freude.
Möget ihr alle den Segen Dattatreyas genießen. Möget ihr alle nochin diesem Leben das höchste Ziel, die Selbstverwirklichung, erreichen.

45.maha = groß, rishi = Seher, Weiser
46. Bis jetzt war ihre Ehe aber kinderlos geblieben.
47. Weibl. Aspekt von Brahma, Göttin der schönen Künste und der Weisheit.
48. Weibl. Askpekt von Vishnu; Göttin des Wohlergehens, der Fülle, des Gebens und Nehmens
49. Weibl. Aspekt von Shiva; Göttin der Schönheit und Mütterlichkeit
50. Die Trimurtis, die „Dreigestalten“, nämlich Brahma, Vishnu undShiva
51. Denn das wäre eine Verletzung des Gastrechts und der Pflicht eines Haushälters/einer Hausfrau gewesen.
52. Somit hatte sie beide Pflichten erfüllt, nämlich den Gästen Essen zu geben und gleichzeitig ihre eheliche Reinheit zu wahren.
53. Unbekleideter Asket, das heißt frei von Anhaftung und äußerer Bindung.