Sei ehrlich zu dir selbst

Die Psychologie der Meditation

 Die normale Gewohnheit des Geistes, nur in eine bestimmte Richtung zu denken, bleibt uns während des ganzen Lebens erhalten. Eine völlige Umwandlung des Denkprozesses ist für den menschlichen Geist unmöglich. Daher sollte man schrittweise, mithilfe der Visualisierung eines Meditationsobjektes, voranschreiten.

Welchen Gedanken wir auch immer nachgehen oder wieweit unsere Ausbildung gediehen sein mag, der Geist wird immer und immer wieder behaupten, dass sich unsere Gottheit, unser Gott bzw. unser Meditationsobjekt vor uns befindet. Einige Menschen versuchen ein vor sich befindliches Meditationsobjekt zu vermeiden, indem sie sich vorstellen, dass es ein Teil ihres Körpers ist, oder dass es sich in der Mitte zwischen den Augenbrauen oder in der Herzgegend usw. befindet. Selbst in der Absicht, es in dem eigenen Körper zu platzieren, so bleibt es doch ein äußeres Objekt. Es wird niemals mit dem eigenen Selbst identifiziert. Man fühlt etwas zwischen den Augenbrauen in einer Haltung stehend, sitzend oder platziert, aber nicht völlig mit dem eignen Selbst vereint.

Um den Geist nicht zu zwingen, unnatürlich zu denken, ist es besser, ihn an der langen Leine zu halten. Beginne mit der angestammten Denkgewohnheit und führe ihn schrittweise mit dem Objekt in die gewünschte Richtung. Es gibt da eine sehr bekannte Illustration, die als shakha-chandra nyaya bekannt ist, was soviel wie die ‚Richtung‘ bedeutet, wo man einen Stern oder einen Sternhaufen am Himmel ausmacht. Es gibt beispielsweise ein Sternenbild, das als der ‚Große Bär‘ bekannt ist, und ich möchte zeigen, wo es sich genau befindet. Bei klarer Nacht kann man Tausende von Sternen und Sternenbilder am Himmel sehen. Wo befindet sich nun der ‚Große Bär‘? Wenn ich nun sage: „Schau dahin,“ und mit dem Finger zu dem Sternenbild zeige, dann kann mein Finger dieses Bild nicht direkt berühren, und man kann nicht erkennen, wo sich das Sternenbild wirklich befindet. Dann versuche ich einen anderen Weg: Seht ihr den Baum dort drüben? Seht ihr den einen Ast, der in östliche Richtung zeigt? Seht ihr den kleinen Zweig, der von diesem Ast direkt nach oben strebt? Eine Handbreit oberhalb dieses kleinen senkrechten Zweiges trefft ihr auf den ‚Großen Bären‘? Nun könnt ihr sehen und wisst, wo sich das Sternbild befindet.

Man muss soviel Zeit aufwenden, um das entfernte Sternbild auszumachen und richtig wahrzunehmen. Auf ähnliche Weise muss man viele Techniken anwenden, wenn man richtig meditieren möchte. Der Geist hat immer etwas an der Vorgehensweise auszusetzen. Er behauptet, dass das Objekt zu weit entfernt sei und sich nur an einem Platz befindet. Lasst es geschehen. Lasst das Objekt an einem Ort sein. Um welches Objekt handelt es sich?

Lasst uns daran erinnern, dass ein Objekt etwas sehr Wünschenswertes ist, doch es befindet sich nur an einem bestimmten Ort. Draußen in der Welt existieren außerdem noch viele weitere Dinge, die anders sind, als wünschenswerte Objekte. Der Geist sagt euch, dass es auch noch viele andere Dinge gibt. Wenn der Geist zu anderen Dingen hinwandert, öffnet ihr die Augen. Wo der Geist ist, sind auch die Augen. Wenn sich der Blick auf irgendetwas richtet, wandert der Geist ebenfalls dorthin. Bewahrt den auserwählten Gegenstand vor euch, vor euren Augen. Es kann sich bei diesem auserwählten Objekt um ein Gemälde, eine Fotografie, ein Idol, ein Symbol oder eine schematische Darstellung handeln, die euer Herz erfüllt. Ihr öffnet die Augen und schaut so lange auf diesen Gegenstand, bis sich der Geist darüber freut, dass es da ist: „Mein Wunsch befindet sich vor meinen Augen. Ich freue mich, es anzuschauen! Komm, komm!“

Nach ein paar Minuten will sich der Geist wieder mit etwas Anderem beschäftigen. Er will sich nicht fortwährend mit demselben Gegenstand befassen, auch wenn es sich dabei um das wünschenswerteste Objekt handelt, weil für den Geist diese Konzentration mit geöffneten Augen auf der bewussten Ebene stattfindet, wo der Geist arbeitet. Die menschliche Psyche arbeitet aber nicht nur auf der bewussten Ebene des Geistes. Selbst wenn ihr etwas anschaut und bewusst darüber nachdenkt, fühlt ihr euch nicht wirklich wohl, weil Empfindungen aus anderen tieferen Schichten der Persönlichkeit mit unbeschreiblichen Täuschungs­manövern auf die bewusste Ebene einwirken können.

Selbst das wünschenswerteste Objekt kann aus bestimmten Gründen, die dem Geist in diesem Augenblick unbekannt sind, unsere Persönlichkeit innerlich stören. Wir fühlen uns über einen langen Zeitraum in Gegenwart von was-auch- immer unwohl, weil sich unsere Gedanken nur an der Oberfläche des Bewusstseins bewegen. Wir kommen nicht darauf, dass es auch noch unbewusste Ebenen und darunter wiederum noch tiefere Schichten potenzieller Zwänge gibt.

Wenn ein Objekt vor der Bewusstseinsebene des Geistes platziert wurde, scheint er zunächst einmal zufrieden gestellt zu sein. Solange wie der Geist vorübergehend zufrieden gestellt ist, greifen die tieferen Bewusstseinsschichten nicht ein, genauso wie eine Mutter ihr davonkriechendes Baby erlaubt, sich gefahrlos in irgendeine Richtung zu bewegen, ohne das Baby aus dem Auge zu verlieren. Dem davonkriechenden Baby wird ein wenig Freiheit gewährt, doch wenn es sich irgendwelchen Gefahrenpunkten nähert, schreitet die Mutter ein und holt es zurück. Ähnlich wie die Mutter verhält sich das Unterbewusstsein, das auch nicht plötzlich in die bewusste Ebene des Geistes einschreitet. Wir können mit unserem bewussten Geist überall umherziehen, Dinge anschauen und uns an ihnen erfreuen, doch wenn wir uns nur auf eine Sache konzentrieren wollen und dabei die möglichen anderen Dinge in der Welt vergessen, wird das Unterbewusstsein sagen: „Bis hierher und nicht weiter.“ Sofort wird sich der Geist in eine andere Richtung bewegen. In welche Richtung wird er sich bewegen? Er wird sich dorthin bewegen, wo jene Dinge sind, die zuvor in unserer bewussten Visualisierung des Objektes unterdrückt wurden.

Erinnert euch an dieselbe Analogie, die ich letztes Mal bzgl. eurer Persönlichkeit erwähnte, die sich nicht nur an einem Ort befindet. Es handelt sich um ein Zusammentreffen von Kräften, die aus verschiedenen Ebenen, von früheren und möglichen zukünftigen Geburten zusammenkommen. Auf diese Weise erlauben euch die Vergangenheit und die Zukunft nicht fortwährend bewusst auf eine Sache allein zu konzentrieren. Ihr werdet aus verschiedenerlei Richtungen gezogen und geschoben. Darum weisen die Schriften im Yoga darauf hin, dass wir uns selbst gut kennen müssen, bevor wir von ganzem Herzen mit der Yogameditation beginnen. Wir müssen möglichst alles, was an Gedanken tief in uns verborgen ist, an die Oberfläche unseres Bewusstsein bringen. Es sollte nichts in euch verborgen bleiben, was dann plötzlich und unverhofft an die Oberfläche kommt. Wenn euch etwas tief im Herzen bewegt, so muss dies an die Oberfläche gebracht werden, damit es richtig verstanden wird. Ihr müsst es so behandeln, wie ihr euer Meditationsobjekt behandelt.

Wenn das Meditationsobjekt nur mit Willenskraft, ohne richtiges Verständnis, betrachtet wird, gerät das Herz in Aufruhr. Einen Monat lang merkt ihr nicht, dass überhaupt irgendetwas geschieht. Fahrt mit eurer Meditation weitere drei oder sechs Monate, jeden Tag zu gleicher Stunde, und mit intensiver Konzentration fort. Dann steht die ganze, zuvor ignorierte Persönlichkeit auf und tritt in Aktion. Ein vernachlässigtes Individuum kann irgendetwas tun; eine ignorierte Krankheit kann urplötzlich in irgendeiner Form wieder auftreten und ein vernachlässigter Gläubiger kann jede Art von Ärger bereiten. Alles, was unterdrückt wurde, als wäre es nicht vorhanden, obwohl es doch vorhanden ist, kann einen unvorhersehbaren Ärger bereiten.

Ihr seid eure eigene Gefahr. Ihr ladet den Ärger dadurch ein, indem ihr bestimmte Ebenen vernachlässigt und euch dabei vorstellt, dass es nur eine Seite oder einen Aspekt des Lebens gibt. Ihr glaubt, dass ihr keine Wünsche hättet, weil ihr euch an einem heiligen Ort befindet und an heilige Dinge denkt. Dies scheint richtig zu sein, doch dies ist nicht die ganze Wahrheit. Wenn ihr diesen heiligen Platz verlasst, zur Bahn, zum Bus oder zum Markt geht, seid ihr nicht auf plötzlich auftretende negative Gedanken, die jederzeit aufkommen und eure ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen können, vorbereitet und bekommt Probleme. Darum ist es besser, bevor ihr mit der Meditation beginnt, euch auf mögliche aufkommende Problemfelder einzustellen. Wir sollten deshalb nicht zu Heimlichtuern werden. Verbergt ihr irgendetwas in euch? Ihr mögt euch fremden Menschen gegenüber nicht offenbaren, doch wollt ihr euch selbst gegenüber keine Klarheit schaffen? Sagt selbst ehrlich zu euch, wer ihr seid. Wird euch euer Herz flüstern, dass ihr Gottesmenschen oder spirituelle Sucher seid? Wenn ihr euch selbst gegenüber ehrlich seid, dann müsst ihr euch eingestehen, Mülleimer voll von unendlicher Gier, voller verborgener Wünsche und gestörter Emotionen zu sein. Wenn ihr euch selbst gegenüber nicht ehrlich seid, werdet ihr keine Fortschritte machen.

Die meisten Menschen wissen, wie es in ihnen aussieht. Wenn ihr im Tempel seid oder bei einem Satsanga, in der Gemeinschaft großer Seelen, wird das, was in eurem Unterbewusstsein ist, nicht an die Oberfläche kommen. Wenn ihr jedoch wissen wollt, wer ihr wirklich von Grund auf seid (nicht, wie ihr nach außen in der Öffentlichkeit erscheint), müsst ihr euer Zuhause für längere Zeit verlassen, denn eure häusliche Umgebung lässt euch nur in ein und dieselbe Richtung denken. Entfernt euch einige hundert Kilometer von zu Hause und geht zu einem heiligen Schrein, beispielsweise nach Indien, Gangotri, Rameshwaram, Varanasi. Wenn ihr dort seid, schreibt nicht nach Hause. Nehmt euch vor, dort einen Monat zu bleiben. Ihr solltet keine Verbindungen nach Hause aufnehmen. Schreibt keine Briefe, denn sonst erhaltet ihr Antworten; schreibt nichts. Geht an einen Ort, wo euch niemand kennt, sodass euch niemand aufsuchen kann, um mit euch zu plaudern. Lebt in einer fremden Atmosphäre. Wenn ihr in eine große Stadt geht, werden euch die Menschen dort nicht erkennen. Ihr seid dann einer unter vielen. Lebt an einem Ort, wo ihr weitestgehend abgeschottet seid. In den ersten Tagen fühlt ihr euch wie ein Fisch ohne Wasser. Ihr werdet ruhelos, wenn ihr zu niemanden sprechen könnt. Ihr seid allein.

Euer Inneres, das die Gesellschaft gewohnt ist, wird sich gegen die Einsamkeit auflehnen. Die meisten Menschen bewegen sich in einem gesellschaftlichen Umfeld. Wenn ihr aus eurer gesellschaftlichen Gemeinschaft herausgerissen werdet und die Einsamkeit aufsucht, fühlt ihr euch schlecht. Man kann sich nur schwerlich vorstellen, wirklich allein zu sein, doch ist es notwendig, diese Erfahrung zu machen. Könnt ihr allein sein?

Geht an einen Ort, wo ihr für einen Monat allein sein könnt, wo euch niemand kennt, und wo ihr keinen Kontakt zu anderen aufnehmen könnt. Jetzt habt ihr viel Zeit für euch selbst. Niemand wird euch stören. Wenn ihr euer Frühstück oder Mittagessen zu euch nehmt, denkt darüber nach, was in eurem Kopf abläuft. Zuerst glaubt ihr, ihr hättet etwas verloren. Ihr empfindet Schmerzen oder ihr glaubt, ihr könntet dieses oder jenes unternehmen, um eure Wünsche zufrieden zu stellen. Ihr fühlt euch nicht wohl, so, als wäre etwas nicht in Ordnung.

All die unterdrückten Wünsche kommen langsam an die Oberfläche. Könnt ihr euch vorstellen, wie viele Wünsche ihr habt? Sie sind so vielfältig, wie die Zweige eines Baumes, doch sie können alle auf bestimmte Grundmerkmale beschränkt werden. So, wie in der Medizin die Krankheiten auf drei Grundarten beschränkt werden können, die als vata, pitta und kapha bezeichnet werden, - ängstlich (blähend), reizbar (gallisch) und phlegmatisch (träge). Dieses sind die drei Launen des Körpers. Wenn diese drei Eigenschaften in einer Balance sind, fühlen wir uns wohl. Doch wenn irgendeine Eigenschaft überhand nimmt, fühlen wir uns schlecht. Obwohl es die verschiedensten Krankheiten gibt, so erheben sie sich doch von einer dieser drei Grundeigenschaften im Körper.