Der Aufstieg des Geistes

 
 
   3 Prinzipien für einen Neuaufbau menschlichen
      Strebens

Letztendlich läuft alles darauf hinaus, daß das Ziel der Evolution von spiritueller Natur ist, wobei der Sinn des Spirituellen in seiner rechten Bedeutung verstanden werden muß. Zunächst einmal muß es zu einer Verschmelzung des viergliedrigen Ziels der Existenz, das heißt des moralischen, ökonomischen, vitalen und des unendlichen Wertes (Dharma, Artha, Kama, Moksha) in einem konzentrierten Brennpunkt des Denkens, Redens und Handelns kommen. Nicht selten wird Spiritualität als eine “Phase” des Lebens, als einer von vielen Aspekten menschlicher Bemühung oder gar als anders-weltliches Ziel betrachtet, an das man am Ende seines Lebens denken sollte. Nichts kann die Wahrheit jedoch mehr entstellen, als diese Art falschen Denkens und der Fehleinschätzung. Wie kann der unendliche Wert zu einem begrenzten Aspekt, einer bloßen Phase des Lebens oder einem anders-weltlichen Belang degradiert werden? Beinhaltet das Unendliche nicht alle Dinge, anders-weltliche ebenso wie diesseits-weltliche und jenseitige ebenso wie zeitliche und vergängliche? Wie könnte es ansonsten das “Unendliche” sein? Und wie könnte Spiritualität ein isolierter Aspekt des Lebens sein, wo sie doch der Hinführungsprozeß zum Unendlichen ist? Will sie nicht vielmehr die Gesamtheit des Lebens in sich umfassen, und wäre das Leben als solches ohne Spiritualität nicht gar unmöglich? Ja, der spirituelle Wert ist nicht ein Wert sondern der Wert allen Lebens, ohne den das Leben seine Bedeutung verlieren und in ein essenzloses Phantom verwandelt werden würde.

Wenn das Unendliche die moralischen, ökonomischen und vitalen Werte in sich beinhaltet, so daß Dharma, Artha und Kama in Moksha mit eingeschlossen sind, folgt daraus, daß das Streben nach Ethik, Wohlstand und persönlicher Befriedigung im Leben notwendigerweise in den Versuch, Moksha oder Befreiung von der Sklaverei des Lebens zu erreichen, mit einbezogen werden müssen, was bedeutet, daß das Weltliche im Spirituellen enthalten ist. Der Kritik, die von unseren kommunistischen Freunden und von sozialen Wohlfahrts-Arbeitern an der Religion und an der Spiritualität geübt wird, fehlt somit jegliche Grundlage, da sie auf einer falschen Vorstellung von sowohl dem Spirituellen wie auch dem Religiösen beruht, wobei letzteres tatsächlich nur der äußere Ausdruck des Spirituellen ist. Wie bereits erwähnt, ist der menschliche Geist nicht mit der Fähigkeit ausgestattet, diese gewaltige Wahrheit hinter dem Drama des Lebens zu begreifen, so daß er sich ständig über die existierenden Umstände beschwert und selbst den logisch schlußfolgerbaren Konsequenzen mißtraut, die man aus der Beobachtung des Phänomens namens Leben vernünftig ableiten könnte. Die große Tragödie des menschlichen Lebens besteht in der ungerechtfertigten Isolierung des Spirituellen vom Zeitlich-Vergänglichen und dem daraus resultierenden Festhalten entweder an einer Überbewertung der materiellen Bedürfnisse dieser Welt oder an einem angenommenen religiösen Ideal, das sich auf eine jenseitige Welt beschränkt. Auf Grund einer völligen Fehldeutung der Wahrheit haben wir auf der einen Seite Materialisten, Atheisten und Hedonisten und auf der anderen Seite theoretisch-idealistische Religiöse, Priester und Bischöfe, die, gegeneinander rivalisierend, die Welt in einen Schauplatz der Konflikte verwandeln. Es sollte uns nicht wundern, wenn beide Seiten in ihren Bestrebungen enttäuscht werden, da die Forderungen beider Gruppen dem belustigenden Versuch ähneln, die Hälfte eines Huhnes zum Kochen zu verwenden und die andere Hälfte zum Eier legen.

Wie großartig wäre es doch, wenn die Menschen wenigstens heutzutage begreifen würden, daß die Existenz in dieser Welt nicht von der Existenz des zentralen Zieles des Lebens abgespalten werden kann! Nach dieser Zusammenfassung unserer bisherigen Überlegungen könnten wir nun zu dem kunstvollen Unterfangen weiter schreiten, Dharma, Artha, Kama und Moksha zu einem einzigen Gebäude menschlicher Aspiration zusammenzufügen. Wie bereits angedeutet, ist dies eine schwierige Aufgabe, da wir nicht daran gewöhnt sind, auf derartig integrale Weise zu denken. Und doch muß es getan werden, und niemand kann sich dieser Aufgabe entziehen, wenn das Leben überhaupt irgendeine Bedeutung haben und nicht nur ein andauerndes unstetes Dahintreiben von einem Ziel zum anderen darstellen soll.

Zuerst mag Artha oder das materielle Objekt der eigenen Bestrebungen Berücksichtigung finden, da es das primäre Zentrum der Anziehung im unmittelbar sichtbaren und greifbaren Feld der Lebenserfahrungen zu sein scheint. Objekt ist natürlicher weise das “physische Etwas”, das sich dem jeweiligen Sinnesorgan über das Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken oder Riechen präsentiert. Es ist unmöglich, eine richtige Vorstellung von einem Objekt zu haben, solange man nicht über ein korrektes Verständnis der Struktur der Sinne selbst verfügt. Normalerweise nimmt man an, daß die Sinnesobjekte an verschiedenen Orten im Raum verteilt sind, und daß jeder einzelne Sinn ein bestimmtes Objekt erfaßt. Auch glaubt man, daß sich das Objekt “außerhalb” des entsprechenden Sinnes befindet, von dem es erfaßt wird. Demnach sind in die Sinneswahrnehmung zwei Vorstellungen verwickelt, nämlich erstens, daß verschiedene Objekte außen im Raum verteilt sind, und zweitens, daß sich diese Objekte außerhalb der sie wahrnehmenden Sinne befinden. Ohne diese beiden Vorstellungen würden Sinneskontakte und Sinnesbefriedigungen ihre Bedeutung verlieren, da die Sinne nur auf der Basis dieser Vorstellungen ihre jeweiligen Befriedigungen und Freuden begehren können. Wenn jedoch nachgewiesen werden kann, daß es weder verschiedene Objekte gibt, noch daß sich diese wirklich außerhalb der Sinne befinden, müßte man derartige Bedürfnisse und Sehnsüchte der Sinne automatisch als töricht bezeichnen. Jegliche Befriedigung, die auf einer falschen Vorstellung beruht, kann weder lange andauern, noch kann sie als wahre Notwendigkeit des Lebens angesehen werden. Eine endgültige Untersuchung der Struktur der Dinge darf nicht auf der unreflektierten Berichterstattung der Sinne basieren, da ein klarer Verstand nach genauer Überlegung erkennen wird, daß die Wahrheit der Dinge weit von dem entfernt liegt, was uns die Sinne weis machen wollen. Man kann durchaus behaupten, daß unser Wissen von den Dingen so lange nicht als wahrhaft gültig bezeichnet werden kann, bis es im korrekten Sinne des Wortes wissenschaftlich geworden ist. Man sollte beachten, daß ein Objekt aus einer konzentrierten Gruppe von Wesensmerkmalen besteht, die durch den Einfluß von Faktoren zusammengebracht wurden, die eine universelle Bedeutung haben. Ein Objekt ist nur die äußere Form einer inneren Bündelung von Kräften, die sich zu Knoten verknüpfen, die wir dann Objekte in Raum und Zeit nennen. Die Sinne können jedoch nur die äußere Form und nicht die innere Bedeutung der subtileren Aktivitäten wahrnehmen, die in der Struktur der Dinge jenseits des Fassungsvermögens der Sinne ablaufen. Physiker ziehen es vor, Objekte als Kraftfelder zu bezeichnen und weniger als Dinge oder Substanzen. Was hierbei zum Ausdruck kommen soll ist, daß sich ein Objekt auf andere Objekte ausdehnt, so wie sich zum Beispiel eine Welle im Ozean substantiell auf die Gesamtheit des Ozeans hin erstreckt. Diese Tatsache wird in einer sehr treffenden Weise in einem berühmten Vers der Bhagavadgita  hervorgehoben, wo im Zusammenhang mit einer Beschreibung darüber, wie die Sinne mit Objekten in Berührung kommen, erklärt wird, daß sich “Eigenschaften” unter “Eigenschaften” bewegen. Was dieser Yogatext hiermit meint, ist, daß die “Eigenschaften” oder Gunas der Mutter aller materiellen Formationen, bekannt als Prakriti, in den Sinnen und Objekten gleichermaßen gegenwärtig sind. Oder anders ausgedrückt, daß genau dieselbe Prakriti, die sich aus den Kräften des Gleichgewichts, der Bewegung und der Trägheit (Sattva, Rajas, Tamas) zusammensetzt, sowohl in den Sinnen als auch in den Objekten vorhanden ist. Die Substanz der Struktur der Sinne ist die gleiche Substanz wie die der Struktur der Objekte, so daß nicht behauptet werden kann, daß sich die Objekte außerhalb der Sinne befinden, wie es auch keinen Sinn ergibt zu behaupten, der Ozean sei außerhalb der auf ihm befindlichen Wellen, auch wenn wir uns vorstellen können, daß die Wellen durchaus das Recht dazu haben sich vorzustellen, der Ozean sei außerhalb ihrer selbst. Wie weit dies jedoch von der Wahrheit entfernt ist, bedarf hier keines weiteren Kommentars.

Darüber hinaus ist es nicht schwer festzustellen, daß alles in dieser Welt aus den fünf Elementen (Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther) aufgebaut ist, wenn auch in zahllosen Kombinationen und Proportionen. Auch die Sinnesobjekte und unser Körper, der ja die “Wohnstätte” der Sinne ist, bestehen nur aus diesen Elementen. Selbst oberflächlich gesprochen ist das, was ein Objekt vom anderen trennt, nur Raum, und Raum ist unglücklicherweise ein Bestandteil der Beschaffenheit eines jeden Objektes, einschließlich unserer Körper. Wo aber ist dann noch Platz für die Äußerlichkeit von Objekten oder die Außenbefindlichkeit von irgendwelchen Dingen? Wenn die Dinge nicht außen sind, wie kann man ihnen dann nachlaufen oder sich nach ihnen sehnen? Kama oder das Verlangen nach Objekten entbehrt jeglicher Grundlage, wenn erkannt wird, daß die Struktur der Objekte untrennbar in das Muster des eigenen Körpers und der Sinne verwoben ist. Daß all dies kein Bestandteil der Unterrichtsprogramme unserer Erziehung in den Lehrinstituten ist, belastet das Ruhmeskonto unseres Erziehungssystems, das einen Studenten auf dem stürmischen Meer des Lebens allein läßt, sobald dieser die Hochschule erfolgreich abgeschlossen hat. Sobald der Bildungsweg vervollständigt ist, beginnt den Herangewachsenen das Leben hart ins Antlitz zu starren. Wahrlich, es sieht so aus, als beginne die Erziehung erst dann so richtig! Die Bedeutung von Artha und Kama, den Objekten und dem Verlangen nach ihnen, bedarf keiner langen Kommentare, um sie im Licht der vorangegangenen Analyse zu verstehen. Die Objekte und die Sehnsucht nach ihnen, Artha und Kama, scheinen uns jedoch nur so lange zu quälen, wie wir Dharma oder “das Gesetz der Wahrheit” nicht kennen.

Dharma, die Gerechtigkeit, die in der Struktur aller Dinge im Universum verwurzelt ist, ist der bestimmende Faktor, der die Bedeutung und den Wert sowohl der Existenz der Objekte als auch der eigenen Sehnsucht nach ihnen festlegt. Dies ist vielleicht der Grund dafür, daß Sri Krishna in der Gita  erwähnt, daß er selbst als alles durchdringende Gegenwart Kama oder Verlangen ist, welches Dharma oder der Gerechtigkeit nicht entgegengesetzt ist. Jenes Verlangen kann jedoch nicht als übereinstimmend mit der Gerechtigkeit oder dem Gesetz der Natur erachtet werden, da es Objekte als rein “außerhalb” der Sinne befindlich ansieht. Dies ist eine Vorstellung, die von der Bhagavadgita selbst für ungültig erklärt wurde, indem sie verkündete, daß sich “Eigenschaften” unter “Eigenschaften” bewegen. In ihrem 18. Kapitel erwähnt die Bhagavadgita auch, daß diejenige Vorstellung, die eine einzelne Sache so betrachtet, als wäre sie alles, als die schlimmste Form des Verstehens oder Wissens angesehen werden sollte. Für gewöhnlich weist jedoch jede Form der Begierde dieses Merkmal auf, und zwar insofern, als sich die Begierde entweder an ein einzelnes Objekt klammert und dieses für den höchsten Wert des Lebens erachtet, oder manchmal auch an eine Gruppe von Objekten. Eine derartige Sehnsucht, die als niederste Form des Verstehens bezeichnet wird, nennt man Kama oder Begierde nach Artha, einem Objekt. Eine solche Sehnsucht befindet sich mit Sicherheit nicht in Übereinstimmung mit dem Prinzip des Dharma, das man am ehesten vielleicht als eine Art universelles Gravitationszentrum auffassen kann, das alle Dinge zusammenhält.

Es ist schwer, eine Wörterbuch-Definition für Dharma zu geben oder ein geeignetes Synonym dafür in der deutschen Sprache zu finden, da Dharma jenes alles durchdringende und zusammenfügende Prinzip ist, welches alle Dinge in einem harmonischen Zustand der Integration hält. Diese Harmonie und Integration ist auf jeder Ebene des Lebens zu finden. Physisch ist sie jene Energie, die den eigenen Körper zusammenhält und ihm nicht erlaubt, sich aufzulösen; vital ist sie jene Kraft, die das Prana  in Harmonie mit dem Körper bewegt; mental ist sie jene Kraft, die sowohl die geistige Gesundheit des Denkens aufrecht erhält, als auch den psychologischen Apparat in einer geordneten Weise arbeiten läßt und ihm nicht gestattet, in beliebiger Weise Amok zu laufen; moralisch ist sie der Drang dazu, in anderen ebensoviel Wert zu sehen wie in sich selbst und jedem den entsprechenden Status einzuräumen, den er an seinem eigenen Platz einnimmt; intellektuell ist sie das logische Prinzip des folgerichtigen Urteilsvermögens und der Übereinstimmung von Theorie und Tatsache. Im äußeren Universum wirkt sie physikalisch als Gravitationskraft; chemisch als wechselseitige Reaktion; biologisch als das Prinzip des Wachstums und der Lebenserhaltung; sozial als kooperatives Unternehmen und zu guter letzt ist sie spirituell gesehen das Prinzip der Einheit des Selbst.

Wenn eine Sehnsucht die Sanktion des Göttlichen erhält und, wie es die Bhagavadgita in ihrem 7. Kapitel ausdrückt, folglich mit Dharma in Einklang steht, dann kann sie keine gewöhnliche Sehnsucht nach Objekten der Sinne sein, da sie die Zustimmung des Göttlichen nur dann erhält, wenn sie sich mit dem Prinzip des Dharma in Einklang befindet. Wie wir bereits gesehen haben, ist Dharma so groß und umfassend, daß es, wenn es zu einem göttlich akzeptierbaren Grundzug im menschlichen Wesen wird, keine übermächtige Leidenschaft mehr ist, wie im Falle sterblicher Begierden, sondern vielmehr dazu anregt, in allen endlichen und begrenzten Werten des Lebens das Unendliche zu erkennen.

Diese majestätische Schau des Lebens manifestiert sich in der menschlichen Gesellschaft als die Ordnung von Varna und Ashrama, zwei Begriffe, die ebenso schwer zu verstehen sind wie das Wort Dharma. Für gewöhnlich werden Varna und Ashrama als das “Kastensystem” und die “Tradition der vier Ordnungen” des Lebens übersetzt. Diese freizügige und spontane Definition hat zu vielen falschen Vorstellungen über die Bedeutung dieser Abschnitte der Lebensführung beigetragen, so daß Varna auf Grund dieser Interpretation zu einem trennenden, äußerst unerwünschten und schädlichen Störfaktor im allgemeinen Leben wurde und Ashrama zu einem bedeutungslosen und großmütterlichen Aberglauben vorsintflutlicher Art verkommen ist. In Wahrheit liegen die Dinge jedoch anders.

Varna bedeutet weder “Farbe”, was auf den Unterschied der Hautfarbe von beispielsweise Ariern und Draviden  hinweisen würde, noch deutet es auf eine Vorrangstellung in der sozialen Organisation der menschlichen Wesen hin. Dies zu denken wäre ein völliges Mißverständnis des tatsächlichen Sachverhalts. Varna ist keine für die Augen sichtbare Farbe, sondern ein geistig vorstellbarer “Grad”, womit ausgedrückt sein soll, daß wir unter dem Begriff Varna die Ausdrucksgrade von Dharma in der menschlichen Gesellschaft in solcher Weise zu verstehen haben, daß deren Koordination oder Zusammentreffen die menschliche Gesellschaft und Existenz aufrechterhält. Obwohl das Leben ein ununterbrochenes und einheitliches Ganzes ist, das in seinem Herzen Wissen, Macht, Reichtum und Energie zugleich beherbergt, kann sich all dies in derart umfassender Weise in einem einzelnen menschlichen Individuum nicht manifestieren, es sei denn, es handle sich um einen Übermenschen . In gewöhnlichen menschlichen Wesen ist eine solche Vereinigung dieser vier Faktoren jedoch nicht möglich. Bei diesen ist entweder der Verstand, die Willenskraft, die emotionale Seite oder der Tätigkeitsdrang dominant ausgeprägt, wobei dies die praktischen Entsprechungen der vier wesentlichen Grundbausteine des Lebens sind, das keinen dieser vier Faktoren ignorieren kann. Da diese Faktoren des Wachstums und der Erhaltung des Lebens in verschiedenen Individuen in unterschiedlicher Gewichtung vorgefunden werden, hat sich die Notwendigkeit ergeben, die verschiedenen Gruppen von Individuen zu koordinieren, in denen je einer dieser vier Faktoren besonders stark ausgeprägt ist. Ebenso wie der Kopf nicht die Arbeit der Beine ausführen kann, die Augen nicht hören, die Ohren nicht sehen können und so weiter - was ja alles zur Aufrechterhaltung der Vollkommenheit des Organismus beiträgt -, so wird auch die menschliche Gesellschaft als ein einziger wachsender und gedeihender Organismus durch die Zusammenarbeit jener Individuen zusammengehalten, in denen eine ausgeprägte Manifestation von je einem der erwähnten Faktoren anzutreffen ist. Die Frage nach dem “höheren” oder “niedrigeren” Rang unter den Individuen stellt sich hier gar nicht, da es ja vielmehr darum geht, das Wachstum eines jeden menschlichen Individuums in Richtung einer vollständigen Lebensschau und der Errungenschaft des gesamten Lebenswertes zu unterstützen, damit jeder für sich dazu befähigt wird, an all den vier Wertfaktoren Teil zu haben, deren Verbindung allein als die komplette Erfüllung des Lebens betrachtet werden kann. Das Fehlen irgendeines dieser Faktoren oder Werte würde einen ernsthaften Defekt im Organismus der menschlichen Gesellschaft und im Organismus des einzelnen Individuums bedeuten, und wahre Glückseligkeit kann nirgends gefunden werden, wo Vollkommenheit fehlt.

Die psychische und spirituelle Persönlichkeit eines Individuums versucht, sich im Evolutionsprozeß auszudehnen und zu wachsen. Dieser wachsende und sich intensivierende Vorgang nimmt auf bestimmten Stufen deutliche Färbungen an, so daß das Individuum dem Leben gegenüber dann jeweils eine charakteristische Form des Denkens und Verhaltens zur Schau stellt. Von diesen Stufen, die als Ashramas bekannt sind, gibt es hauptsächlich vier: Die Stufe der Überschwenglichkeit und Energie der Jugend, die Ausbildung und Disziplin benötigt und die nach Wissen sucht; die Stufe der äußeren Aktivität und der sozialen Beziehungen, in der man die normalen menschlichen Sehnsüchte erfüllt und als ein Teil der großen Menschengesellschaft seinen entsprechenden Pflichten nachgeht; die Stufe der größeren Denkreife, in der man die Vergänglichkeit der zeitlichen Werte und des materiellen Besitzes entdeckt und danach strebt, sich in die Wahrheit hinter den Erscheinungen zu vertiefen; die Stufe der Erleuchtung, in der man ein Leben der Vereintheit mit der höchsten Wirklichkeit lebt. Diese “Stufen” sind die “Ordnungen des Lebens”, die von den sich wandelnden Schwerpunkten notwendig gemacht werden, die das Leben im Verlauf der sich entfaltenden Evolution setzt.

Yoga wurde als die Vereinigung mit der Wahrheit in ihren verschiedenen inneren und äußeren Offenbarungsstufen definiert. Indem man die eigenen Funktionen im Sinne der Gesetze und Disziplinen von Varna und Ashrama ausübt, bewegt man sich schrittweise vom äußeren zum inneren, das heißt, von den äußeren Formen zu den tieferen Bedeutungen der Dinge, und erhebt sich so vom Groben zum Feinen und vom Feinen zur letztendlichen Essenz der Existenz. Die Konzepte der vier Purusharthas (Kama, Artha, Dharma, Moksha), der vier Varnas (Klassen der Gesellschaft, die die spirituelle, politische, ökonomische und manuelle Macht verkörpern) und der vier Ashramas (die Stufen des Studiums und der Disziplin; der Erfüllung sowohl der individuellen als auch der sozialen Pflichten; des Rückzugs von der Anhänglichkeit an vergängliche Dinge; und der Vereinigung mit der höchsten Wirklichkeit) fassen die Gesamtstruktur des Lebens in seiner Integralität zusammen, wobei alles in seiner äußersten Ausdehnung mit einbezogen und nichts ausgeschlossen ist.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß man sich dieses allumfassende Bild des Lebens auf einen Schlag nur schwer vorstellen kann, und so haben die Eingeweihten aus alter Zeit eine dreigeteilte Annäherung an diese Lebenswahrheit aufgestellt: Die Betrachtung des Lebens über die Konzepte des objektiven (adhibhuta), des subjektiven (adhyatma) und des übernormalen Gottheitsaspekts (adhidaiva) der Wirklichkeit, wobei letzterer sowohl die objektiven als auch die subjektiven Aspekte der Erfahrung transzendiert. Auch hier wäre es wiederum richtig, sich von außen nach innen zu bewegen, um dann nach oben weiter zu schreiten. Dies bedeutet, daß wir zunächst einmal die äußere physische und soziale Realität berücksichtigen müssen, dann unser individuelles Leben und unsere Persönlichkeit studieren und disziplinieren und schließlich zu der höheren, aufsichtsführenden und kontrollierenden Kraft emporsteigen, was dem Aufstieg zum eigentlichen Lebensziel entspricht. In unserer Eigenschaft als Inhalte der physischen Welt und als Teile der menschlichen Gesellschaft wäre es ratsam, uns auf solche Art und Weise zu verhalten, daß wir weder die Gesetze der Natur um uns herum verletzen noch die Regeln der Gesellschaft und Gemeinschaft, in der wir leben. Die Gesetze der Gesundheit und Hygiene, sowie die der Ethik und Moral in der Gesellschaft sind demnach vorbereitende Voraussetzungen in diesem großartigen evolutionären Prozeß des menschlichen Strebens. Die fünf Elemente (Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther) haben ihre eigenen Gesetze und Wirkungsprinzipien, mit denen sie unser Leben auf ihre Arbeitsweisen einschränken und von uns in bezug zu ihren natürlichen Funktionen Gehorsam verlangen. Zur Aufrechterhaltung der Gesundheit bedarf es unter anderem der Reinheit von Nahrung, Wasser und Luft. Beseitigung von Hunger und Durst, Schutz vor Hitze und Kälte sowie vor den Naturgewalten sind die Grundbedürfnisse eines jeden, um ein einigermaßen behagliches Leben führen zu können. Ohne dieses Minimum an Hilfsmitteln würde die bloße Grundlage der körperlichen Existenz unsicher werden. Darüber hinaus stellt auch die Gesellschaft ihre Anforderungen an das Individuum, nämlich Loyalität und Treue gegenüber ihren Bräuchen, Verhaltensregeln und Traditionen, ganz abgesehen von einem humanen Verhalten und Benehmen gegenüber anderen im Umfeld befindlichen Individuen. Dies schließt die Erfordernisse von Varna und Ashrama mit ein und darüber hinaus auch noch die Einhaltung der Regeln, andere nicht zu verletzen, anderen gegenüber aufrichtig zu sein, die Besitztümer anderer nicht anzutasten, nicht über ein gesundes Maß hinaus in sinnlichen Vergnügen zu schwelgen und keiner Form von Gier zu verfallen. Während diese Regeln als Übungen angesehen werden können, die dem eigenen Leben in der “objektiven Welt” angehören, haben sie auch für das eigene “subjektive Leben” einige Bedeutung, da diese äußeren Verhaltensmaßnahmen den eigenen Charakter stark beeinflussen und offenbaren. Das Studium erhebender Literatur wie der Veden , der Upanishaden, der Bhagavadgita und anderer solch machtvoller Offenbarungen der höheren Weisheit; ein Leben in Einfachheit, hohem Denken und Hilfsbereitschaft, sind weitere regulierende Übungen im persönlichen und subjektiven Leben. Jenseits der subjektiven und objektiven Ebenen liegt die transzendentale (adhidaivika) Kontrolle, die von dem allgegenwärtigen und allmächtigen Sein durch dessen “Manifestationen” ausgeübt wird, die im religiösen Sprachgebrauch für gewöhnlich als “Götter” bezeichnet werden. Diese Götter haben ihre eigene Hierarchie und unterscheiden sich im Grad der allmächtigen Kraft voneinander, die sie durch ihre Manifestationsformen zum Ausdruck bringen. Um eine grobe Vorstellung davon zu vermitteln, wie eine solche Hierarchie aussehen könnte, sei die Taitiriya-Upanishad zitiert, in der folgende Namen für die immer umfassender werdenden Offenbarungen der Wahrheit in ihren schrittweise zunehmenden Intensitäten und in ihren aufeinanderfolgenden Stadien gegeben werden: die Reiche der “Gandharva”, “Pitri”, “Deva”, von “Indra”, “Brihaspati” und “Prajapati”. Die höchsten kosmischen Manifestationen werden Virat, Hiranyagarbha und Ishvara genannt, die den physischen, subtilen, und kausalen Zustand der Schöpfung darstellen. Das letztendliche Ziel ist das Absolute - Brahman.