Bholanaths Tod

Am 13. April, dem letzten Tag der Kumbha Mela, ging Bholanath mit einer großen Schar von Devotees zum Brahma-Kund, um dort das rituelle Bad zu nehmen. Spontan begrüßten ihn die anderen zum gleichen Zweck dort versammelten Asketen mit Beifall. Sie wußten nicht, wer er war, aber sie müssen in ihm eine hochstehende, respektgebietende Persönlichkeit erkannt haben. Als er Ma davon erzählte, sagte sie: »Du lebst in Selbstvergessenheit, aber andere erkennen dich als das, was du bist!« Ohne Wissen der anderen führte Bholanath bei seinem Bad im Fluß einige Riten aus, mit denen er förmlich in ein Leben der Entsagung eintrat. Sein Sannyasa Mantra hatte er schon am Ufer des Manasarovar im Himalaya von Ma erhalten. Er hatte ihr gegenüber den Wunsch geäußert, förmlich in Sannyasa einzutreten, und Ma hatte zugestimmt. Daraufhin hatte er mit einem angesehen Ashram Verbindung aufgenommen, wo er initiiert werden konnte. Es war jedoch nicht die richtige Jahreszeit, und man ließ ihn wissen, daß alle Vorbereitungen einige Monate zu ruhen hätten.
      Zu Holi war die Menge in Hardwar in ausgelassener Stimmung. Sie wollten Ma und Bholanath fotografieren. Übermütig baten sie Ma, Bholanath, zu ihren Füßen sitzend, als ihren Hauptschüler zu segnen. Bholanath und Ma ließen sich von der fröhlichen Menge anstecken. Bholanath lächelte und setzte sich zu Ma‘s Füßen, die auf einem erhöhten Sitz Platz nahm. Ma legte ihm die Hand aufs Haupt, wie man einem Kind den Kopf tätschelt. Sie sagte: »Möge deine Entsagung Segen bringen!«
      Niemand achtete auf diese Worte, die sie leise zu Bholanath sprach. Es scheint, als deutete sie auf ihre diskrete Weise die zukünftigen Ereignisse an, die die ganze Familie der Devotees bald tief erschüttern sollten.
      Zum Abschluß der Kumbha Mela sind die Pilger immer in Eile, die Stadt zu verlassen, was zu einem Verkehrschaos führt. Die Devotees rieten Ma, sofort mit dem Auto nach Dehra Dun abzureisen. Am Ende einer Feier verläßt Ma normalerweise als erste das Haus, denn solange sie dort ist, bleiben auch die Gäste und stehen denjenigen im Weg, die für Unterkunft und Verpflegung zuständig sind. Bei Ma galten alle Vorkehrungen immer nur vorläufig; die Verantwortlichen hofften einfach das Beste, und es mangelte ihnen in der Tat nie an Geld, obwohl es strikt verboten war, irgendeinen Besucher um Geld zu bitten. Genauer gesagt wußten die Leute in Ma‘s Umgebung nie, woher das Geld für den nächsten Tag kommen sollte, wie hoch die Unkosten wären und ob irgend etwas für die nächste Etappe ihrer Reise übrigbliebe! Bis heute kann niemand genau sagen, wie die enormen Summen zusammenkamen und wie Ma‘s Kheyala immer zu ihrer Zufriedenheit ausgeführt wurde.
      Bholanath blieb zurück, um mit allen anderen, die Ma begleiten wollten,im Bus nach Dehra Dun zu fahren. Am 24. April wollte er wieder nach Hardwar reisen, um bei der Sannyasa-Einweihung von Didis Onkel Kunja Mohan anwesend zu sein. Bholanath fühlte sich nicht wohl, aber er nahm das nicht ernst. Ma sagte zu Didi: »Bholanath wird sehr schwer erkranken.« Erschreckt von diesen Worten wollte Didi Bholanath von dieser Fahrt abbringen, doch Ma sagte: »Du kannst es versuchen, aber er wird darauf bestehen zu fahren, und auch die Krankheit ist unvermeidlich.«

Bholanath kam mit hohem Fieber aus Hardwar zurück und klagte über Bauchschmerzen. Das Fieber klang nicht ab. Die Ärzte diagnostizierten Windpocken. Ma sagte leise zu Didi: »Ich glaube nicht, daß es Windpocken sind. Siehst du, Krankheiten offenbaren sich mir ebenso wie Menschen. Von der personifizierten Krankheit, die ich sah, hörte ich, daß sie viel schlimmer ist als Windpocken.«
      Nach kurzer Zeit gab es keinen Zweifel mehr, daß Bholanath an den gefürchteten Blattern erkrankt war. Er bekam die bestmögliche ärztliche Behandlung und wurde von den Devotees liebevoll versorgt, aber die schreckliche Krankheit quälte ihn grausam. Ma kam oft zu ihm ins Zimmer und gab Anweisungen zu seiner Pflege, wie nur sie es konnte.
      Bholanaths Zustand verschlimmerte sich schnell. Das plötzliche Unglück stürzte alle in Verzweiflung. In diesem kritischen Moment bat Ma Didi und ihren Vater unerwartet, sofort aus Dehra Dun abzureisen und Didima mitzunehmen. Schon vorher hatte sie Abhaya zum Raipur Ashram geschickt. Ma hatte leise gesprochen. Allen Versuchen, sie umzustimmen, kam sie mit den Worten zuvor: »Entweder ihr alle oder ich selbst. Wenn ihr nicht geht, gehe ich.« Didi wußte, daß sie ohne Ma‘s Führung für Bholanath nichts tun konnten, und so begann sie schweren Herzens zu packen. Swami Akhandananda machte seiner Bestürzung mit folgenden Worten Luft: »Ma, warum schickst du uns fort, wenn so viele von uns wie möglich gebraucht werden, um für Bholanath zu sorgen?«
      Ma antwortete sanft: »Du bist ein Sannyasi. Von dir wird nicht erwartet, daß du körperlich etwas für Bholanath tust. Du kannst ihm nur helfen, indem du dich beharrlich deinem eigenen kontemplativen Leben widmest.« Zu Didima sagte sie: »Quält es dich nicht zuzusehen, wie Bholanath leidet? Jetzt braucht er deine physische Anwesenheit nicht. Du kannst ihm nur mit deinen Gebeten und heilenden Gedanken helfen. Tu das jetzt für ihn.« Didi, der außer Ma nichts im Leben wichtig war, konnte sie nur zu Geduld und Seelenstärke mahnen. Didi schreibt in ihrem Tagebuch, es schien, als ob Ma sich achselzuckend über alle Behinderungen hinwegsetzte, um ganz für den Kranken da sein zu können, der jetzt wie ein epeinigtes Kind ständig nach ihr rief: »Ma, Ma.«
      Als Bholanath bemerkte, daß Didi und die anderen nicht mehr da waren, erkundigte er sich nach ihnen. Ma antwortete: »Ich habe sie nach Varanasi geschickt. War das nicht richtig?« Darauf erwiderte er sofort: »Doch, du hast das Richtige getan.«

Ma war während seiner letzten Lebenstage fast ununterbrochen bei ihm und erfüllte ihm jeden Wunsch, den er äußerte. Einmal bat er sie um Prasad. Als ihm dünner Haferschleim gebracht wurde, nahm Ma ein wenig davon und gab ihm dann Löffel für Löffel den Rest. Einmal wollte er eine Weile Ihre Hand halten. Bholanath schien jetzt überhaupt nicht mehr verlegen, seine totale Hingabe zu ihren Füßen zu zeigen.
      Als sie an seinem letzten Lebenstag neben seinem Bett saß, fragte Ma ihn: »Hast du große Schmerzen?« Bholanath bestätigte das, sagte aber, er könne den Schmerz nicht recht lokalisieren. Die scheckliche Krankheit hatte seinen ganzen Körper befallen, und er litt sehr. Er lag auf der Seite und sah Ma an. Sie stand auf und strich mit ihren Händen dreimal über seinen ganzen Leib, vom Kopf bis zu den Zehen. Sie führte auch gewisse Kriyas mit ihren Händen aus. Dann setzte sie sich wieder. Bholanath schien sich zu entspannen. Auf ihre Frage, wie es ihm gehe, sagte er, er habe keine Schmerzen mehr und fühle sich ganz behaglich. Seit dem Beginn seiner Krankheit war dies das erstemal, daß er Frieden hatte. Alle hörten ihn deutlich flüstern: »Ananda, Ananda [Glückseligkeit].«
      Einige Zeit später sagte er: »Ich gehe.« Ma entgegnete: »Warum denkst du das? Es gibt kein Kommen und Gehen, sondern nur die eine Ganzheit des Seins, in der für Trennung kein Raum ist.« Bholanath schien zuzustimmen und sagte leise: »Ja, das hast du immer gesagt.«
      Ma‘s Hand lag auf Bholanaths Kopf, als er in der Nacht vom 7. zum 8. Mai 1938 seinen letzten Atemzug tat. Er starb so ruhig und friedlich, daß die Brahmacharis, die ihn pflegten, und ein aus Varanasi gekommener Kaviraj [Heilkundiger der traditionellen indischen Medizin] das Dahinscheiden einer großen Seele gar nicht bemerkten. Sie meditierten und empfanden dabei eine große innere Erhebung. Die Stille dauerte an, bis Ma selbst leise zum Kaviraj sagte: »Sieh nach, Pitaji, ob nicht alles vorbei ist, soweit deine Wissenschaft reicht.« Das brachte allen Anwesenden das letzte Geheimnis des Lebens zu Bewußtsein. Der Mann, der sich so freudig und rückhaltlos in den Dienst der Gemeinde von Devotees gestellt hatte, lebte nicht mehr.
      Wie gelähmt schauten Bholanaths Pfleger nun Ma an; sie warteten auf weitere Führung. Ma sagte, Bholanath sei ein Sannyasi gewesen, und gab den Namen bekannt, den er gewählt hatte: Tibbatananda Tirtha. Die Devotees aus Dehra Dun brachten ihren geliebten Pitaji nach Hardwar, um dort die altehrwürdigen Begräbnisriten für einen Sannyasi zu vollziehen.
      Bholanaths Tod brachte viele Veränderungen im Leben der Devotees mit sich. Erstens war es für sie alle ein unersetzlicher persönlicher Verlust, und zweitens mußten sie ihr Verständnis von Ma in gewissem Sinne korrigieren.
      Wie bei Todesfällen üblich, wollten die Devotees Ma anfangs nicht mit Besuchen belästigen, doch bald erkannten sie, wie absurd ihre Vorstellung war, Ma betrauere den Tod ihres Ehemanns. In anderem Zusammenhang hatte sie einmal gesagt: »Welchen Anlaß zur Trauer gibt es? Für mich ist niemand verloren. Seid ihr traurig, wenn ihr aus einem Zimmer in ein anderes geht?« Die Frauen aus Dehra Dun schämten sich ein wenig, daß sie Ma ihre eigenen emotionalen Reaktionen unterstellt hatten. Eine von ihnen gab der allgemeinen Stimmung Ausdruck, als sie sagte: »In unserer eigenen Begrenztheit sehen wir dich dem Wechsel von Zeit und Zuständen unterliegen, du wächst auf, du heiratet und wirst Witwe. Aber du bist immer dieselbe, du bist, was du in dir selbst bist. Handle bitte weiterhin, jetzt und immer, nach deinem Kheyala.«
      In Ma‘s Lebensstil traten also keine drastischen Veränderungen ein. Didi, die in Varanasi ungeduldig auf Neuigkeiten von Ma wartete, erhielt die beruhigende Nachricht, alles sei in Ordnung. Ma blieb eine Zeitlang still in Dehra Dun. Ruma Devi kümmerte sich um ihre bescheidenen Bedürfnisse. Abhaya, ein junger Neuling im Ashram, war in diesen Tagen der beständigste Gefährte. Didi fuhr nach Calcutta und weiter nach Dacca. Zu Ma‘s Geburtstag waren die Devotees in Dacca froh, Didi bei sich zu haben. Der Schock über Bholanaths Tod wurde durch Didis Anwesenheit erheblich gelindert.