Hatha-Yoga, der Yoga der Körperschulung, ist im Westen sicher am meisten verbreitet. Hatha-Yoga umfasst seinerseits wieder verschiedene Praktiken. Grundlegende Vorraussetzungen sind auch hier die Yamas und Niyamas, die ethische Einstellung und geistige Schulung. Ebenso sind im Hatha-Yoga Meditationstechniken enthalten. Ein Viertel der Hatha-Yoga-Pradipika, des klassischen Grundlagentextes spricht über Meditationstechniken.
Hatha-Yoga wurzelt in drei verschiedenen Traditionen, nämlich Ayurveda, Raja-Yoga und Kundalini-Yoga. Swatmarama schreibt in den ersten Versen der Hatha-Yoga-Pradipika, dass er Hatha-Yoga insbesondere als Hilfe für Raja-Yoga lehrt. Dafür beschreibt er die geistigen Wirkungen der Praktiken. Er geht aber auch immer wieder aus ayurvedischer Betrachtungsweise auf den Gesundheitsnutzen der Hatha-Yoga-Übungen ein. Am intensivsten beschreibt er die energetischen Wirkungen der Hatha-Yoga-Übungen aus tantrischer Sicht, er schreibt ausführlich über Prana, Nadis, Chakras und Kundalini.
Im Ayurveda (indische Heilkunde) werden die Hatha-Yoga-Übungen zur Gesunderhaltung und Heilung eingesetzt. Diese Zielsetzung hat auch im Westen ein Großteil der Hatha-Yoga-Übenden. Grob gesagt, gibt Ayurveda drei Hauptgründe für Krankheit an und beschreibt, welche Hatha-Yoga-Übung diese Gründe beseitigen kann:
Wen die ayurvedischen Wirkungen des Hatha-Yoga interessieren, muss beim Studium der Hatha-Yoga-Pradipika Folgendes beachten: In den meisten Übersetzungen (beispielsweise der Übersetzung von Swami Vishnu-devananda) wird statt Verdauungsfeuer oft „Appetit“ geschrieben, statt Amas (Unreinheiten/Schlacken) „Krankheiten“, statt Vata „Wind“ oder „Luft“, statt Pitta „Galle“ und statt Kapha „Schleim“. Wenn man dies beachtet, wird man viel über die Wirkung des Hatha-Yoga aus ayurvedischer Sicht erfahren.
Im Raja-Yoga werden die Körperübungen als Hilfe für die Kontrolle des Geistes eingesetzt. Patanjali empfiehlt in seinem Grundlagenwerk „Yoga Sutra“ an diversen Stellen Atemübungen zur Ruhe des Geistes, gibt Tipps für die Ausführung der Asanas und beschreibt im dritten Kapitel die Wirkung von verschiedenen Körperkonzentrationen auf den Geist. Folgende Beispiele können dabei gut in die Hatha-Yoga-Praxis eingebaut werden (ich zitiere aus meiner eigenen Übersetzung aus dem Buch „Die Yoga-Weisheit des Patanjali für Menschen von heute“): „Konzentration auf das Nabelzentrum verhilft zu Wissen um Aufbau, Struktur und Bedürfnisse des Körpers“ (Yoga Sutra III. 30). „Konzentration auf die Kehlhöhle verhilft zum Aufhören von Hunger und Durst beziehungsweise Gier“ (Yoga Sutra III 31). „Konzentration auf die Wirbelsäule verhilft zu Festigkeit“ (Yoga Sutra III 32). „Durch Konzentration auf das Licht am Scheitel des Kopfes erhält man die Vision vollkommener Meister“ (Yoga Sutra III.33). „Durch Konzentration auf das Herz kommt Verstehen des Geistes“ (Yoga Sutra III 35).
Im Kundalini-Yoga dienen die Körperübungen als Hilfe für die Steuerung des Pranas. Diesen Aspekt will ich im Folgenden etwas detaillierter erläutern. Die wichtigsten Energiepraktiken des Hatha-Yoga:
Asanas haben verschiedene Funktionen. Durch das Dehnen der Körperteile werden die Nadis, die Energiekanäle, geöffnet. Durch das Drücken und Dehnen an den Stellen, wo sich die Chakras (Energiezentren) befinden, werden diese aktiviert. Auf verschiedene Weise wird die Wirbelsäule gedehnt und gedreht. Dies öffnet den wichtigsten Energiekanal, die Sushumna (im Rückenmarkskanal) und erweckt schließlich die Kundalini. Wichtig für diese tiefer gehende energetische Wirkung der Asanas ist vor allem das lange Halten der Stellungen. Je länger eine Stellung gehalten wird, umso machtvoller wird sie. Energetisch wird eine Asana ab drei Minuten Bewegungslosigkeit interessant, ab fünf Minuten wird die Wirkung tief, ab zehn Minuten machtvoll.
Mein Meister, Swami Vishnu-devananda, empfahl, dass man mindestens die wichtigsten Asanas (Kopfstand, Schulterstand, Vorwärtsbeuge, Kobra, Drehsitz) zumindest ein Mal im Leben mindestens 20 Minuten halten sollte, um zu verstehen, was Asana überhaupt heißt. So führt langes Halten der Stellungen zu Erfahrungen jenseits des Körperbewusstseins. Man gelangt auf eine ganz andere Ebene. Asanas können uns vom Irdisch-Materiellen lösen und in höhere Bewusststeinzustände hineinführen. Umgekehrt helfen sie aber auch, einen transzendentalen Aspekt in das Körperlich-Materielle hineinzubringen.
Shavasana (Tiefenentspannung) lässt Energien im Körper frei fließen und die Aura erstrahlen. Manche Tiefenentspannungstechniken des Kundalini-Yoga können sehr machtvoll auf das Energiefeld wirken.
Pranayama (Herrschaft über das Prana mittels Atemübungen) ist eine besondere Schlüsseltechnik, mit der man an seinen Energien arbeiten kann. Es gibt vorbereitende, reinigende, energieerweckende, kühlende und harmonisierende Atemübungen. Fortgeschrittenes Pranayama ist immer verbunden mit Bandhas, bestimmten Verschlüssen, die man richtig erlernen und setzen können muss. So fließt die Energie, die man erweckt, nicht weg, sondern reinigt stattdessen die Nadis und Chakras.
Ein wichtiger Aspekt im Hatha-Yoga sind die Kriyas. Das Wort Kriya an sich heißt einfach „Handlung“ und es bedeutet in verschiedenen Yoga-Systemen jeweils etwas anderes. Im Hatha-Yoga sind die Kriyas die Reinigungstechniken: Augen-, Nasen-, Magen-, Darmreinigung, Reinigung der Atemwege. Mit den Kriyas kann man den Körper rein und stark machen, damit die immer stärker werdende Energie frei und ohne Blockaden fließen und der Prozess der Energieerweckung harmonisch verlaufen kann. Und natürlich kann durch gereinigte Nadis das Prana viel besser fließen.