Goraksha Shataka

 

Vers 85: Nirguna Dhyana

 

Indem (der Yogi) im leeren Raum (in der Mitte der Augenbrauen) auf den eigenschaftslosen, (vollkommen) stillen Shiva, dessen Gesicht überallhin gewandt ist, meditiert, und seinen Blick dabei auf die Nasenspitze gerichtet hält, wird er frei von Leid.


    निर्गुणं च शिवं शान्तं गगने विश्वतोमुखम् |
    नासाग्रे दृष्टिमादाय ध्यात्वा दुःखाद्विमुच्यते || ८५ ||


    nirguṇaṃ ca śivaṃ śāntaṃ gagane viśvato-mukham |
    nāsāgre dṛṣṭim ādāya dhyātvā duḥkhād vimucyate || 85 ||

    nirguam cha shivam shantam gagane vishvato-mukham |
    nasagre drishtim adaya dhyatva duhkhad vimuchyate || 85 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

    nirguṇam : auf den eigenschaftslosen (Nirguna)
    ca : und (Cha)
    śivam : Shiva ("den Gütigen")
    śāntam : (vollkommen) ruhigen, stillen (Shanta)
    gagane : im Himmel, im leeren Raum (Gagana)
    viśvato-mukham : dessen Gesicht überallhin gewandt ist (Vishvatomukha)
    nāsāgre : auf die Nasenspitze (Nasagra)
    dṛṣṭim : den Blick (Drishti)
    ādāya : richtend ("genommen habend", ā + dā)
    dhyātvā : indem (man) meditiert, sich vorstellt, visualisiert ("meditiert habend", dhyā)
    duḥkhāt : von Leid (Duhkha)
    vimucyate : wird man befreit, befreit sich (vi + muc)

Anmerkung: Der Ausdruck gagane ("im leeren Raum") bezieht sich möglicherweise auf Bhrumadhya Akasha, den leeren Raum in der Mitte der Augenbrauen bzw. im Ajna Chakra. In der Hatha Yoga Pradipika 4.74 wird vihāyas - ein Wort, das ebenfalls "Luftraum, Himmel" bedeutet - im Sinne von Bhrumadhya Akasha gebraucht, wie Brahmananda, der Kommentator der HYP, erläutert:

    tṛtīyāyāṃ tu vijñeyo vihāyo-mardala-dhvaniḥ |
    mahā-śūnyaṃ tadā yāti sarva-siddhi-samāśrayam || 4.74 ||

"Im dritten, (Parichaya Avastha genannten Zustand), wird im Raum (zwischen den Augenbrauen, Vihayas) der Klang (Dhvani) einer Trommel (Mardala) vernommen. Dann gelangt (der Prana) in die Große Leere (Mahashunya), den Sitz (Samashraya) aller übernatürlicher Fähigkeiten (Siddhi)." (HYP 4.74)

Dieser Vers steht im Kontext der Meditation auf den unangeschlagenen Ton (Nada Anusandhana). Auch Mahashunya, die "Große Leere", bezieht sich laut Brahmananda auf bhrū-madhyākāśa, den leeren Raum hinter der Stirn in der Mitte der Augenbrauen.

Shiva steht für das reine, inhalts- und eigenschaftslose Bewusstsein, den sogenannten Zeugen, der alles wahrnimmt (viśvato-mukha "dessen Gesicht überallhin gewandt ist"). Diesen erkennt der Yogi in tiefer "abstrakter" Meditation (Nirguna Dhyana), wenn alle geistigen Aktivitäten zur Ruhe gekommen sind, als sein wahres Selbst (Atman), das mit dem allumfassenden Brahman identisch ist.