Goraksha Shataka

 

Vers 91: Upadhi und Tattva

 

Ein Edelstein aus Bergkristall erscheint (erst) durch die Trennung (von anderen farbigen Gegenständen) in seiner eigenen Farbe. Ein solches Selbst wird gepriesen, das durch das Hervorbrechen der (göttlichen) Energie (von allen begrenzenden Attributen) befreit ist.


    आत्मवर्णेन भेदेन दृश्यते स्फाटिको मणिः |
    मुक्तो यः शक्तिभेदेन सोऽयमात्मा प्रशस्यते || ९१ ||


    ātma-varṇena bhedena dṛśyate sphāṭiko maṇiḥ |
    mukto yaḥ śakti-bhedena so'yam ātmā praśasyate || 91 ||

    atma-varnena bhedena drishyate sphatiko manih |
    mukto yah shakti-bhedena so'yam atma prashasyate || 91 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

    ātma-varṇena : in seiner eigenen (Atman) Farbe (Varna)
    bhedena : durch die Trennung (von anderen Farben, Bheda)
    dṛśyate : wird wahrgenommen, wird erkannt, erscheint ("wird gesehen", dṛś)
    sphāṭikaḥ : aus Bergkristall (Sphatika)
    maṇiḥ : ein Edelstein, Schmuckstück (Mani)
    muktaḥ : frei, befreit ist (Mukta)
    yaḥ : das ("welches", Yad)
    śakti-bhedena : durch das Hervorbrechen (Bheda) der (göttlichen) Energie (Shakti)
    so'yam : eben das, dieses (Tad Ayam)
    ātmā : Selbst (Atman)
    praśasyate : wird gepriesen (pra + śas)

Anmerkungen: Der Vergleich im ersten Halbvers hebt noch einmal auf die Bezeichnung varṇa "Farbe" für das begrenzende Attribut (Upadhi) ab (vgl. Vers 89): Solange ein Edelstein aus farblosem, durchscheinendem Bergkristall in Kontakt mit einer anderen Farbe ist, indem er bspw. auf ein rotes Blütenblatt gelegt wird, nimmt er scheinbar dessen Farbe an. Entfernt man das Blütenblatt, so erscheint der Bergkristall in "seiner eigenen Farbe" (ātma-varṇena), d.h. in seiner Farblosigkeit, die hier stellvertretend für die "Eigenschaftslosigkeit" des Selbst (Atman bzw. Tattva) steht. Diese Eigenschaftslosigkeit wurde bereits in Vers 85 mit den Worten "den eigenschaftslosen ... Shiva" (nirguṇaṃ ... śivam) angedeutet und wird im folgenden Vers 92 weiter ausgeführt.

Im zweiten Halbvers dieses Shloka wird die Erweckung der Kundalini bzw. Shakti (śakti-bhedena) als eine wesentliche Voraussetzung für die "Befreiung" (Mukti) des Selbst hervorgehoben, die im hier gelehrten System des Hatha Yoga in Verbindung mit den verschiedenen Übungspraktiken einschließlich der Meditation in der Erkenntnis des Selbst bzw. des Absoluten (Brahman) gipfelt.

Der Wortlaut dieser Passage ließe allerdings noch eine weitere Interpretation zu: Ausgehend von der tantrische Symbolik von Shiva und Shakti, in der Shiva im Sinne des Atman für das reine, absolute Bewusstsein steht, erfährt dieser in der Nirguna Dhyana genannten Meditation (vgl. Vers 85) infolge seiner Trennung (!) von Shakti, der schöpferischen Energie (śakti-bhedena), den Zustand der Freiheit. Die entsprechenden Begriffe des Yogasutra sind in diesem Zusammenhang der Purusha, der sich aus seiner irrtümlichen Identifikation mit den Gunas der Prakriti löst und Kaivalya, die absolute Freiheit, erfährt.