Autobiographie von Swami Sivananda

Kapitel 9 - Das Ideal des Lebens

 

Die Lebensphilosophie

Das Ziel von Philosophie ist richtiges Leben. Was richtiges Leben bedeutet ist eine Frage der Definition. Es ist ein Leben in Weisheit, frei von der Unvollkommenheit, die ein nicht-philosophisches Leben kennzeichnet. Philosophie ist weder ein intellektueller Zeitvertreib noch elitäre Pedanterie, die die erfahrbaren Tatsachen der Welt übersieht. Philosophie ist kein reines Kunstwerk der Gelehrsamkeit oder das Steckenpferd eines unausgelasteten Geistes, sondern die verstandesmäßige Analyse der Folgerungen aus der Erfahrung und eine aus solch weisen Überlegungen entwickelte Theorie, um die für die verschiedenen Erfahrungen in der Welt verantwortlichen Kräfte zu ordnen. Philosophie ist daher die große Kunst vollkommenen Lebens, einer Art von Leben, die über die gewöhnliche Vorstellung hinausgeht, wo das Höchste Leben, das mit dem Sein selbst identisch ist, verwirklicht wird.

Die von mir gelehrte Philosophie ist weder eine verträumte, subjektive, weltverneinende illusionistische Lehre noch eine grobe weltbejahende humanistische Theorie. Sie ist die Lehre von der Göttlichkeit des Weltalls, der Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die eins ist mit dem Absoluten Selbst des Universums, da es eine grundlegende Einheit von allem im Universum mit dem höchsten Brahman (Absoluten) gibt, das die einzige Wirklichkeit ist. Der Vedanta (Lehre vom Absoluten) verschließt seine Augen nicht vor der herzzerreißenden, erbärmlichen Lage der Welt, noch übersieht er den Körper und den Geist mit ihrem Abwärtstrend in Richtung auf ein den weltlichen Erfahrungen entsprechendes Leben, obwohl das eigentliche Anliegen des Vedanta über das Weltliche hinausgeht.

 

Ganzheitliche Entwicklung

Das eine Brahman oder das Höchste Selbst manifestiert sich als mannigfaltiges Universum auf allen Erscheinungsebenen und -stufen; daher muß der Aspirant den niederen Manifestationen zuerst huldigen, bevor er sich den höheren zuwendet. Gute Gesundheit, klares Verständnis, tiefes Wissen, machtvoller Wille und sittliche Redlichkeit sind Teile des Wegs zur Verwirklichung des vedantischen Ideals. Ich lege großes Gewicht auf eine allseitige Beherrschung des niederen Selbst. Die Lehren des Vedanta stehen nicht im Gegensatz zu Yoga, Bhakti (Hingabe) oder Karma (Handlung). Sie gehen alle ineinander über als Einzelteile eines Ganzen auf verschiedenen Erfahrungsebenen.

Zu den Hauptpfeilern meiner Lebensphilosophie gehören: sich einfügen, anpassen, Gutes in allem sehen, und alle natürlichen Anlagen bei der Entwicklung zur Selbstverwirklichung hin durch eine ganzheitliche Entfaltung aller menschlichen Kräfte und Fähigkeiten möglichst wirksam nutzen. Hauptrichtschnur ist, alle zu lieben und Gott in allen zu sehen, allen zu dienen, weil Gott alles ist, Gott als Einheit aller in der Vielfalt und Vollkommenheit zu erkennen. In allen meinen Schriften habe ich Methoden beschrieben, wie man die körperlichen, energetischen, geistigen und verstandesmäßigen Ebenen des Bewußtseins überwinden und beherrschen kann, um den Anwärter in die Lage zu versetzen, ungehindert mit seinen geistigen Übungen in Richtung auf dieses große Ziel, die Verwirklichung des Absoluten, voranzuschreiten. Der Vedanta ist eine Philosophie und ein Lebensweg, der spirituelle Verwirklichung lehrt, die direkte Erfahrung des Unsterblichen, die allgegenwärtige Natur des Selbst, wo das Universum als eins mit dem Selbst erfahren wird, wo es nichts Zweites neben dem Selbst gibt; als Ergebnis dieser erhabenen Erkenntnis wird der verwirklichte Weise zum Retter des Universums, Sarva-bhuta-hite Ratah.

 

Mein Glaubensbekenntnis

Es ist mein Glaubensbekenntnis, den Atman, das Selbst, in jedem Wesen und in jeder Form zu erblicken, absolutes (Brahman) Bewußtsein überall, immer und in allen Situationen des Lebens zu spüren, alles als den Atman (das Selbst) zu sehen, zu hören, zu schmecken, zu riechen und zu fühlen. Es ist mein Glaubensbekenntnis, in Brahman zu leben, mit Brahman zu verschmelzen, in Brahman aufzugehen und mich in ihm aufzulösen. In Einheit mit Brahman ruhend, ist es mein Glaubensbekenntnis, Hände, Geist, Sinne und Körper in den Dienst an der Menschheit zu stellen, den Namen Gottes zu singen, um Bhaktas (Gläubige, Verehrer) zu erheben, aufrichtigen Aspiranten Unterweisung zu geben und Wissen durch Bücher, Broschüren, Merkblätter, Zeitschriften und Vorträge weit und breit zu streuen.

Es ist mein Glaubensbekenntnis, ein kosmischer Freund und Wohltäter zu sein, ein Freund der Armen, Verlorenen, Hilflosen und Gefallenen. Es ist mein heiliges Glaubensbekenntnis, kranken Menschen zu dienen, sie sorgfältig, mit Zuneigung und Liebe zu pflegen, die Niedergeschlagenen aufzuheitern, allen Kraft und Freude einzuflößen, mich eins mit jedem Geschöpf zu fühlen und alle aus gleicher Sicht zu behandeln. In meinem Glaubensbekenntnis gibt es weder Heilige noch Sünder, weder Bauern noch Könige, weder Bettler noch Kaiser, weder Freunde noch Feinde, weder Männer noch Frauen, weder Gurus noch Chelas. Alles ist Brahman. Alles ist Sat-chid-ananda, Sein, Wissen und Glückseligkeit.

 

Das Geheimnis von Energie und kraftvoller Arbeit

Jetzt, 1958, bin ich 72 Jahre alt. Ich bin dauernd beschäftigt. Ich bin immer voll Freude und Glück. Ich kann noch mehr arbeiten. Ich kümmere mich persönlich um Hunderte von Schülern im Ashram und führe die Geschäfte der Divine Life Society, der Forest University und des Krankenhauses und leite Tausende von entfernt wohnenden Studenten schriftlich an. Ich widme dem Druck und Versand nützlicher Bücher an Schüler, Bibliotheken und religiöse Einrichtungen große Aufmerksamkeit. Ich kann noch mehr tun. Das Geheimnis meiner Energie ist, ständig göttliches Bewußtsein aufrechtzuerhalten.

Ändere den Blickwinkel und sei immer glücklich und fröhlich. Sieh überall nur Gutes. Tanze vor Freude. Sättige den Geist mit göttlichen Gedanken. Du wirst sofort eine gewaltige innere Kraft und geistige Macht in Dir spüren. Den Frieden, den Du dann genießt, kann man mit Worten nicht beschreiben. Übernimm jedes Verfahren, das deinen Geist nach innen richten, ihn einpünktig und unerschütterlich machen kann. Beherrsche die Sinne. Bewahre einen wachen, achtsamen und starken Glauben. Entwickle Willenskraft. Sonst werden Vikshepa und Alasya (Unruhe, Schwanken und Trägheit) Dich überwältigen.

 

Heilen durch Gebete

Auf der ganzen Welt stellen Ärzte an armen Patienten Versuche mit vielen Medikamenten an. Wie kann man eine dauerhafte, anhaltende Besserung erwarten, wenn die Ärzte aus dem selbstsüchtigen Grund, mehr und mehr Geld zu verdienen, handeln? In der ayurvedischen Heilkunde bereiten Fachleute echte Arzneien aus Pflanzen, Samen und Wurzeln aus dem Himalaya zu. Sie untersuchen den Puls der Patienten, stellen eine zutreffende Diagnose und verschreiben wirksame Mittel zur dauerhaften Heilung. Auch die Patienten sollten sich weitgehend an natürliche Methoden halten, geeignete Nahrungsmittel wählen und die Anordnungen fachkundiger Ärzte befolgen.

Im Sivananda-Krankenhaus verbinde ich alle Methoden miteinander. Es gibt Fachärzte aller medizinischen Richtungen. Darüberhinaus setze ich großes Vertrauen in die Macht von Mantras und die Gnade Gottes. Aufgrund besonderer Gebete im Vishwanath Mandir (Shivatempel) habe ich Wunderheilungen auch weit entfernter hoffnungsloser Fälle erlebt. Ich habe ungeheueres Vertrauen in die Heilung durch Gebete und Mantrasingen. Die Ergebnisse sind wunderbar. Gottes Name ist so wirkungsvoll. Ich nenne das "Namapathie", Heilung durch den Namen Gottes.