Swami Krishnananda:

Antwort auf deine Fragen

Kapitel 5

Was ist das Selbst?

Luciano: Wie kann ich das Selbst erkennen?

Swamiji: Wenn Du die Bedeutung des Selbst’ erkennst, dann wirst Du automatisch wissen, wie Du dort hinkommst. Wenn Du weißt, wo Rom liegt, dann wirst Du auch wissen, wie Du dort hin­kommst; aber, wenn Du nicht weißt wo es liegt, ist es schwierig dorthin zu gehen. Wo befindet sich das Selbst? Wenn Du Dir darüber im Klaren bist, wo es sich befindet, dann wirst Du auch wissen, wie Du dort hinkommst. Nun sag mir, wo ES ist.

Luciano: Die Heiligen und Weisen sagen, das Selbst sei überall.

Swamiji: Gut. Wie kann jemand zu etwas gehen, was sich überall befindet? Angenommen, es ist überall; wo befindest Du Dich dann? Wenn ES überall ist, dann ist ES auch unterhalb von Dir. Worauf sitzt Du dann?

Luciano: Auf dem Selbst.

Swamiji: Warum schreist Du dann? Du hast es bereits erreicht. Du sitzt darauf und fragst mich, wie Du ES erreichen könntest.

Luciano: Aber ich sehe ES nicht.

Swamiji: Du siehst ES nicht, weil ES sich überall befindet. Wenn ES nur an wenigen Plätzen zu finden wäre, dann würdest Du ES sehen. Das ist das ganze Problem. Wie kannst Du etwas sehen, was sich überall befindet, wenn Du nicht (durch Ausdehnung Deines individuellen Bewußtseins in der Meditation) auch überall bist? Wenn Du ebenfalls überall bist, dann wirst Du sehen, was überall ist. Du bist jetzt nur an einem Ort, und das Selbst ist überall, so gibt es einen Gegensatz zwischen Deiner Existenz und der Existenz des Selbst’.

Dieser Gegensatz muß entfernt werden. Entweder muß ES sich an einem Ort befinden, oder Du solltest “überall” sein. Das Selbst kann nicht “etwas” an irgendeinem Ort werden, so mußt Du überall sein. Dann wirst Du ES “sehen”. Menschen, die auf die gleiche Weise denken, werden zu Freunden. Wenn Du aberauf die eine Weise und ES auf eine andere Weise denkt, wie willst Du dann mit ES Kontakt aufnehmen? So mußt Du wie das Selbst denken, und was denkt das Selbst? ES denkt: “Ich bin alles.” Kannst Du das genauso wie ES? Das ist hier der wesentliche Punkt.

Du glaubst, daß Du Luciano aus Italien bist. Dieses ist die einzige Idee, die Du hast, aber diese Art des Denkens bringt Dich nicht zum Selbst. So lange Du gedanklich Luciano aus Italien bist, wird es nicht funktionieren.

Aber Du bist nicht Luciano, und Du kommst auch nicht aus Italien. Du bist von nirgendwo gekommen; Du bist, wo Du gerade bist, und Du bist nicht Luciano. Du könntest auch jeden anderen Namen tragen. Irgend jemand hat Dich Luciano genannt, und nun nennst Du Dich Luciano. Irgend jemand kann Dich Joseph nennen, und dann wirst Du Joseph sein.

Luciano: So trage ich denn alle Namen.

Swamiji: Du hast keinen Namen! Sage nicht, daß Du Luciano bist. Wenn Du anfängst, Dich in die Nähe des Selbst zu begeben, dann werden alle möglichen schrecklichen Dinge über Dich kommen. Ein großer Sturm des Schreckens wird von allen Seiten auf Dich zukommen; da das Selbst sich überall befindet, werden die Probleme von allen Seiten kommen. Wenn Du aber darauf vorbereitet bist und die Schwierigkeiten Dir nichts ausmachen, und wenn Du Dich in Demut vor ES verneigst, dann wirst Du ES erfahren. Aber, wenn Du damit experimentierst und zusiehst, ob Du ES bekommst oder nicht, dann versteht ES Deinen Gedanken, und dann wird ES nicht kommen. Dieses ist eine sehr ernste Angelegenheit. Du wirst ES erreichen - ohne Frage. Aber Du mußt einen hohen Preis dafür bezahlen - viel Geld! Aber ES kann weder Geld noch etwas anderes in Zahlung nehmen!

Für die Reise, für Deinen Reisepaß und Dein Bankkonto kannst Du Dich Luciano nennen, aber wenn Du alleine meditierst, - vergiß diese Idee. Du meditierst alleine und schaust auf Dich Selbst und sagst zu Dir Selbst, daß Du alle Namen hast, dann hast Du keinen Namen. Aber hast Du eine Form? Du hast zwei Dinge: einen Namen und eine Form.

Luciano: In einem Buch hast Du vorgeschlagen, das Bewußtsein außerhalb zwischen das Objekt und das Subjekt zu plazieren.

Swamiji: Wenn Du Dich auf irgendein Objekt konzentrierst, wird Dein Bewußtsein zu jenem Objekt hin transferiert, und dann verringert sich das Bewußtsein auf Deinen Körper. Du denkst zuviel an Deinen Körper; darum sind die Objekte nicht erreichbar. Bei der Anwendung von einer bestimmten Meditationstechnik konzentriert man sich auf etwas außerhalb. Es kann irgend etwas sein. Dann verliert sich die Bindung zum Körper sofort. Das ist eine Methode, die in den “Yoga Sutras” von Patanjali beschrieben wird.

Das, worauf man sich konzentriert, kann jedes beliebige Objekt sein. Es kann ein kleiner materieller Gegenstand sein, oder es kann Gott selbst sein, oder alle fünf Elemente, oder die Sonne, der Mond, die Sterne, der Raum, die Zeit, - Du kannst Dich auf irgend etwas konzentrieren. Dann verliert sich die Bindung zu diesem Körper immer mehr. Langsam wirst Du erkennen, daß sich Dein Verstand in das Universum ausdehnt. Dieses ist eine der zahlreichen Meditationsmethoden. Hier befindet sich das Bewußtsein zwischen Dir und dem, was sich außerhalb von Dir befindet! Das ist wirklich ein Wunder!

Luciano: Wenn ich mich zu konzentrieren versuche, verhält sich mein Verstand wie ein Affe.

Swamiji: Das macht nichts; laß den Gedanken ihren Lauf. Du fängst wieder von vorne an. Auch wenn die Gedanken immer wieder woanders hingehen, wirst Du es immer wieder versuchen, und eines Tages wird es mit Hilfe der ständigen Praxis immer besser funktionieren. Obwohl Du jeden Tag ißt, fühlst Du Dich doch jeden Tag immer wieder hungrig. Genauso verhält es sich mit dem Üben. Die Gedanken wandern immer wieder aus, aber Du fängst immer wieder von vorne an. Fahre damit fort, und Du wirst eines Tages feststellen, daß Du Deine Gedanken unter Kontrolle bekommst. Eines Tages wirst Du feststellen, daß Du in der Lage bist, in eine Richtung zu denken. Dann wirst Du in keine andere Richtung mehr denken. Es ist nur eine Frage der wiederholten Praxis.

Luciano: Am Ende des dritten Gespräches hast Du erwähnt, daß sich alles aufklären wird, wenn die Menschen die Frage beantworten können, wo sich das Selbst befindet. Aber “Atman” befindet sich überall, wie kann ich ES dann entdecken?

Swamiji: Warum solltest Du ES entdecken, wenn ES sich überall befindet? Das würde bedeuten, daß ES sich nicht überall befindet. Du machst zwei Aussagen. Erstens mußt Du etwas entdecken, das Dir nicht nahe steht. Zweitens, wenn ES überall ist, wie willst Du ES dann entdecken, und außerdem, wer will es denn entdecken? Luciano ist dann nicht mehr da; wer will ES dann entdecken? Dieses ist ein sehr feiner Punkt. Wenn ES überall ist, wo befindet sich dann Luciano?

Luciano: Er ist nirgendwo.

Swamiji: Welches Problem hast Du dann? Wenn Luciano nicht dort ist, was gibt es dann noch?

Luciano: Luciano hat kein Problem, weil er nicht dort ist.

Swamiji: Warum stellst Du dann unnötige Fragen? Du mußt bei einem Guru sitzen, denn es macht keinen Sinn, nur ein Buch zu lesen. Du siehst, was ich Dir mit zwei Sätzen erzählt habe, ist wichtiger als das Lesen eines ganzen Buches. Wenn Luciano nicht da ist, ist das Problem auch nicht vorhanden. Wer stellt dann die Frage?

Luciano: Niemand.

Swamiji: So bist Du glücklich!

Luciano: Ja!

Swamiji: Du bist mit großen Schwierigkeiten glücklich! Dieser Punkt, der Dir soeben in den Kopf gekommen ist, der Dich plötzlich schweren Herzens hat sagen lassen, daß Du glücklich bist, sollte das Objekt Deiner Meditation sein. Tag und Nacht mußt Du über diesen Punkt nachdenken: Wenn Atman sich überall befindet, dann gibt es nichts anderes. Das Ganze ist jener Atman, das alldurchdringende Licht, das blendende Licht Atman’s, welches das Universelle Sein ist, welches der Atman für jeden ist; es gibt nur einen Atman.

Mache dies Deinem Verstand immer wieder klar, so daß die Idee von Luciano und den Menschen, den Dingen und den Gebäuden und alles andere innerhalb von einer Sekunde vergeht. Denke immer wieder daran und mache es Deinem Verstand tausendmal klar. Denke drei Stunden lang pro Tag an nichts anderes und Du wirst sehen, was dann geschieht.

Luciano: Es ist für mich ein Problem, mein Bewußtsein auszudehnen, denn ich glaube, daß das Gefühl vom Getrenntsein zwischen uns und Atman eines unserer Probleme ist.

Swamiji: Das Gefühl vom Getrenntsein kommt daher, weil Du glaubst, Dich außerhalb von Atman zu befinden, aber Du sagtest bereits, daß Du Dich nicht außerhalb von ES befinden kannst. Dein Verstand sagt, daß Du nicht außerhalb von ES sein kannst, so muß das Gefühl, daß Du Dich außerhalb von ES befindest, erhöht und in Deinen Verstand integriert werden. Du kannst nicht zwei gegensätzlichen Dingen nachgeben, einerseits etwas Fühlen und andererseits mit dem Verstand etwas anderes ausdrücken. Sie müssen zusammenkommen.

Die Vereinigung von Verstand und Gefühl ist Meditation. Fahre fort und integriere die Gedanken des Verstandes in das Gefühl. Erzähle dem Gefühl immer wieder, daß Du diesen Punkt akzeptiert hast, und daß Dieses das einzige ist, das Du wünschst, daß Dieses das ist, was Du wolltest, und daß Du nichts weiter möchtest. Sag es dem Verstand immer wieder, wie ein Mantra. Meditiere darüber drei Stunden lang - am Morgen, am Nachmittag und am Abend.

Erschaffe in Dir keine Zweifel. Schreibe in Deinen Kalender, daß Du keine Zweifel hast. Du mußt damit fortfahren, Dir immer wieder dasselbe zu erzählen, anderenfalls kommen die Zweifel und sagen zu Dir: “Nein, Du bist nicht auf dem richtigen Weg.” Als Buddha, der große Yogi, meditierte, kamen einige Dämonen und erzählten ihm, daß er ein dummer Mensch sei. Sogar Jesus Christus wurde von jemandem heimgesucht, der ihm einzureden versuchte, daß er seine Zeit verschwenden würde.

Der Verstand sollte sich mit dem Gefühl vermischen. Es sollten nicht zwei unterschiedliche Dinge da sein. Das Gefühl ist sehr ungestüm und störend. Es wird immer wieder etwas Falsches von sich geben. Obgleich der Verstand das Richtige meint, wird das Gefühl etwas Falsches sagen.

Luciano: Manchmal gibt auch der Verstand eine falsche Antwort.

Swamiji: Der Verstand muß durch die Instruktionen des Gurus gereinigt werden. Jeder hat einen Verstand, - einen ordentlichen, kleinen Verstand. Wir sprechen jetzt von dem höheren Verstand, welcher die Universalität des Absoluten akzeptiert und an nichts anderes denkt. Das muß tief mit dem Gefühl verschmolzen werden, - es ist das, was man unter dem Prozeß der Meditation versteht. Wenn Du das fortgesetzt machst und zu jeder Zeit an nichts anderes mehr denkst, dann wirst Du innerhalb kurzer Zeit in Deinem Leben eine große Veränderung erfahren. Warte auf den Tag.

Luciano: Der erste Gegenstand meiner Meditation muß somit der sein, daß ich nur EINS bin, und daß ich keine Zweifel habe.

Swamiji: Ja. Du schreibst in Deinen Kalender, daß Du keine Zweifel hast. Schau es Dir jeden Tag an, es steht in großen Buchstaben geschrieben: “Ich habe keine Zweifel.” Wenn Dir irgend jemand aus dem Inneren erzählt, daß Du Zweifel hast, dann sagst Du Nein. Dies wird Dich lange in Anspruch nehmen, und es wird keine leichte Aufgabe. Man muß sich dafür Zeit nehmen, und dann wird es auf den richtigen Weg kommen. Wenn Du daran festhältst, wird ES zu Dir kommen.

Das Erfolgsgeheimnis ist, daß Du alles, was Du möchtest, bekommen kannst, vorausgesetzt, Du wünschst nur diese eine Sache. Aber, wenn Du zwei Dinge wünschst, dann wirst Du weder das eine noch das andere bekommen. Gibt es etwas, was Du aus ganzem Herzen wünschst? Es ist schwierig, etwas zu finden, “das” man sich ganz wünscht. Niemand kann mit solch einer Situation, in der nur eine Sache gewünscht wird, leben. Es gibt noch einen weiteren Wunsch, einen zweiten, einen dritten usw.; - wir wünschen so viele Dinge! Aber es gibt einen Wunsch, bei dem, wenn man ihn erfüllt bekommt, andere Wünsche ebenfalls erfüllt werden. Das ganze Wasser dieser Welt findest Du in einem einzigen Gewässer, dem Ozean; geh’ und finde den Ozean.

Luciano: Es ist schwierig für mich Deine Vorstellung über die Tropfen im Ozean, und die Trennung zwischen den Tropfen, und dem Ozean, der aus unendlich vielen Tropfen besteht, zu verstehen.

Swamiji: Der Ozean ist ein großer Tropfen, aber er setzt sich auch aus kleinen Tropfen zusammen; viele Tropfen zusammen bilden den Ozean. Aber im Ozean existieren die Tropfen nicht wirklich; sie bilden ein integriertes Ganzes. So kann man einerseits sagen, daß es keine Tropfen gibt, und andererseits kann man sagen, daß er aus Tropfen besteht. Beide Vorstellungen sind korrekt. Tatsächlich sind die Tropfen im Ozean nur konzeptionell. Der Verstand sagt Dir, daß es viele Teile gibt. Ideen bewegen die Welt.

Luciano: So bin ich auf der Welt ebenfalls von anderen getrennt.

Swamiji: So ist es. Du hast ein konzeptionelles Gefühl der Unterscheidung des einen von dem anderen bekommen. In Wirklichkeit sind alle im weiten Ozean unendlicher Kräfte miteinander verbunden. Die Menschen, die hier sitzen, sehen so aus wie isolierte Persönlichkeiten, Du kannst sie Dir konzeptionell genauso wie viele Tropfen in einem Ozean vorstellen.

Du hast viele Zellen in Deinem Körper, und doch bist Du ein einziger Mensch. Milliarden von Zellen bilden einen Luciano. Auch, wenn es wie viele aussieht, ist es doch nur EINS. Wenn ein Baum viele Zweige hat, wird der Baum nicht glauben, daß es viele Bäume sind. Es ist nur ein Baum, obgleich er viele Zweige hat.

In der Folge wird man sich bewußt, daß es ein Bewußtsein gibt, das alles durchdringt, und das selbst als alle Objekte erscheint. Ein Baum hat viele Zweige, aber sie sind in einem Baumbewußtsein vereint. Ähnlich fühlst Du den Ozean der Macht mit Dir identisch. Alle Dinge, die Du außerhalb von Dir wahrnimmst, sind als ein Teil jenes Konzeptes verschieden, aber in Wirklichkeit miteinander vereint.

Luciano: Ja. aber unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Eigenschaften.

Swamiji: Sogar dann, wenn es viele unterschiedliche Zweige gibt (einer ist gerade, einer ist gebogen, einer führt nach oben, ein anderer nach unten), macht es für den Baum keinen Unterschied. Es gibt Menschen mit defekten Gliedern, und doch glauben sie, vollkommene Menschen zu sein. Ihr Bewußtsein hat keine Mängel. Der Körper mag einige Mängel aufweisen, aber das Bewußtsein fühlt sich vollkommen in Ordnung. Verschiedene Glieder machen keine Verschiedenartigkeiten im Bewußtsein. Es gibt nur ein Bewußtsein.

Luciano: Was als Formen erscheint, ist nur eine Frage der Erscheinung, und hat keine Substanz.

Swamiji: Ja. Es gibt große und kleine Wellen auf dem Ozean, und doch bleibt es ein Ozean, Dieses erfordert jeden Tag tiefes Nachdenken. Du mußt lange darüber meditieren, und es ebenso lange studieren, wenn Du davon Hilfe erwartest.