Samadhi Yoga

Kapitel 9: Dharana

Konzentration

Dharana - das siebente Glied des achtgliedrigen Yoga - bedeutet, den Geist auf einen einzigen Punkt auszurichten. Während der Konzentration wird der Geist ruhig, ausgeglichen und stabil. Die verschiedenen Strahlen des Geistes werden gebündelt und auf einen einzigen Meditationsgegenstand gerichtet. Der Geist ist in diesem Lakshya zentriert. Es gibt kein geistiges Hin und Her mehr. Ein einziger Gedanke beschäftigt den Geist. Die gesamte Energie des Geistes ist in diesem einen Gedanken konzentriert. Die Sinne werden still. Sie hören auf zu arbeiten. In tiefer Konzentration gibt es kein Körperbewusstsein, kein Bewusstsein der Umgebung. Wer eine gute Konzentrationskraft besitzt, kann im Bruchteil einer Sekunde das Bild Gottes klar visualisieren.  

Manorajya ("Das Reich der Phantasie", Luftschlösser bauen) ist nicht dasselbe wie Konzentration (Einpünktigkeit) sondern ein wildes Herumhüpfen des Geistes durch die Lüfte. Verwechsle Manorajya nicht mit Konzentration oder Meditation. Überprüfe diese Angewohnheit des Geistes durch Innenschau und Selbstanalyse.

Konzentration und Pranayama sind miteinander verbunden. Wenn man Pranayama übt, erzielt man Konzentration. Natürliche Atembeherrschung folgt aus der Konzentration. Es gibt unterschiedliche Übungen für unterschiedliche Menschentypen. Für manche wird es leicht sein, mit der Pranayama Praxis zu beginnen, für andere ist es einfacher, mit der Konzentration zu beginnen.

In tiefer Meditation erfährt man große Freude und spirituelle Verzückung. Man vergisst den Körper und seine Umgebung. Der gesamte Prana wird im Kopf zentriert.

Wenn du mit tiefem Interesse in ein Buch versunken bist, hörst du nicht, wenn jemand schreit und dich beim Namen ruft. Einen der vor dir steht, siehst du nicht. Den süßen Duft der Blumen, die neben dir auf dem Tisch stehen, riechst du nicht. Das genau ist Konzentration oder mit dem Geist bei einem Punkt zu sein. Der Geist ist fest auf eine einzige Sache ausgerichtet. Du brauchst solch tiefe Konzentration, wenn du an Gott oder den Atman denkst. Es ist leicht, den Geist auf einen weltlichen Gegenstand zu konzentrieren, da der Geist sich ganz natürlich aus Gewohnheit dafür interessiert. Die Bahnen sind im Gehirn schon gezogen. Du musst den Geist täglich durch Konzentration trainieren, indem du ihn immer und immer wieder auf ein inneres Bild Gottes oder dein inneres Selbst ausrichtest. Dann wird der Geist sich nicht mehr auf äußerliche Dinge hin bewegen, da er in der Konzentration riesige Freude erfährt.

Algebra, die Wissenschaft abstrakter Zahlen, kann man nicht ohne Vorwissen und vorhergegangene Erfahrung in Arithmetik, der Wissenschaft konkreter Zahlen, verstehen. Sanskrit-Kavyas299 und höhere vedische Literatur kann man nicht ohne vorherige Kenntnis der "Laghu Siddhanta Kaumudi" und der "Tarka Sangraha" verstehen. In gleicher Weise ist das Meditieren über Nirguna bzw. Nirakara (abstraktes) Brahman unmöglich ohne anfängliche Übung im Konzentrieren auf eine konkrete Form. Man muss sich dem Unsichtbaren und dem Unbekannten über das Sichtbare und das Bekannte annähern.

Je stärker der Geist auf Gott ausgerichtet ist, umso mehr Stärke gewinnt man. Mehr Konzentration bedeutet mehr Energie. Konzentration öffnet die inneren Kammern der Liebe und das Reich der Unendlichkeit. Konzentration ist eine Quelle spiritueller Kraft. Konzentration ist der einzige Schlüssel zur Kammer des Wissens.

Konzentriere dich. Meditiere. Entwickle die Kraft des tiefen und konzentrierten Denkens. Viele undurchsichtige Aspekte werden ganz klar für dich werden. Du wirst Antworten und Lösungen aus dem Inneren erhalten.

Wie schon im Kapitel 8 auf Seite 221 erwähnt, konnte niemand und nichts Sukadeva Gosvamis Geist ablenken, deshalb übe dich mit Bedacht und Beständigkeit in Konzentration. Wer seinen Geist gänzlich kontrollieren und fokussieren kann wird zum Übermenschen.

Am Anfang wirst du den Geist überreden müssen, wie man Kinder überredet. Sage zu ihm: „Oh Geist, warum rennst du wertlosen vergänglichen Dingen nach? Du wirst zigfaches Leid erfahren. Schau auf Krishna, die absolute Schönheit. Du wirst daraus ewiges Glück gewinnen. Warum rennst du davon, um weltliche Liebeslieder zu hören? Höre den Bhajan300Gottes. Höre den Sankirtan301, der die Seele bewegt. Du wirst davon emporgetragen werden.“

Der Geist wird Stück für Stück seine alten, negativen Angewohnheiten aufgeben und sich auf die Lotosfüße Gottes heften. Wenn er von Rajas und Tamas befreit ist, wird er dich führen. Er wird dein Guru sein. Wenn du dich zum Meditieren hinsetzt singe drei bis sechs Mal "Om". Das wird alle weltlichen Gedanken aus dem Geist vertreiben und Vikshepa beenden, das hin-und-her-Wandern des Geistes, beenden. Dann wiederhole OM geistig weiter.

Vermeide alle Arten von Sinneseindrücken und Ideen. Verhindere die Komplikationen, die von parallelen Aktivitäten aus dem Unterbewusstsein herrühren. Ziehe den Geist auf eine einzige Idee zurück. Sperre alle anderen geistigen Prozesse aus, dann kann der Geist von dieser einen Idee erfüllt werden. Genauso wie erneutes Auftauchen oder die Wiederholung eines Gedankens zur Vervollkommnung dieses Gedankens oder einer Handlung führt, so führt auch die Wiederholung eines Prozesses oder einer Idee zur Vervollkommnung der geistigen Abstraktion, der Konzentration und der Meditation.

Zu Anfang wird es schwierig sein, den Geist bei ein und demselben Gedanken zu halten. Verringere die Anzahl deiner Gedanken. Versuche, die Gedanken bei einem Thema zu halten. Wenn du an eine Rose denkst, lasse nur Gedanken zu, die mit der Rose zu tun haben. Du kannst an unterschiedliche Arten von Rosen denken, die man in verschiedenen Teilen der Erde kultiviert. Du kannst an die verschiedenen Produkte denken, die aus Rosen gewonnen werden und an ihre Verwendung. Kontrolliere das ziellose Herumwandern des Geistes. Habe nicht einfach zufällige Gedanken, wenn du an eine Rose denkst. Stück für Stück wirst du den Geist an einen einzigen Gedanken heften können. Du musst den Geist täglich zur Disziplin trainieren. Unendliche Aufmerksamkeit ist für die Kontrolle des Geistes vonnöten.

Die Konzentration wächst, wenn man Wünsche und Gelüste eindämmt, Mouna (Schweigen) ein oder zwei Stunden täglich praktiziert, Pranayama übt, betet, die tägliche Zahl von Meditationssitzungen erhöht, Vichara

Versuche, immer fröhlich und friedvoll zu sein. Nur dann erreichst du geistige Konzentration. Maitri (Freundschaft) mit seinesgleichen, Karuna (Mitgefühl) gegenüber Untergeordneten oder Bedürftigen, Mudita (Wohlgefälligkeit) gegenüber Vorgesetzten oder tugendhaften Menschen und Upeksha302  gegenüber Sündern oder boshaften Menschen wird Chitta-Prasada303 hervorbringen und Ghrina304 zerstören.

Die Konzentration nimmt zu, wenn man die Zahl der Gedanken verringert. Es ist ganz sicher eine anstrengende Arbeit, die Gedankenzahl zu verringern. Zu Anfang wird es dich sehr beanspruchen. Es wird eine unangenehme Aufgabe sein. Doch später wirst du dich freuen, weil du große geistige Kraft und inneren Frieden durch die Verringerung der Gedanken erlangst. Wenn du dich mit Geduld, Ausdauer, Wachsamkeit, glühendem Entschluss und eisernem Willen wappnest, kannst du die Gedanken leicht zerquetschen, so wie du eine Zitrone oder eine Orange mit Leichtigkeit zerdrücken kannst. Hast du sie einmal zerquetscht wird es dir leicht fallen, sie an der Wurzel auszureißen. Bloßes Unterdrücken genügt nicht. Die Gedanken können dann wieder auferstehen. Man muss sie völlig ausreißen, so wie man einen lockeren Zahn herauszieht.

Man kann die Konzentration fördern, indem man Mouna beachtet, Pranayama übt, sowie Selbstbeschränkung und strenges Sadhana (spirituelle Praxis), und indem man noch mehr geistiges Nichtverhaftetsein entwickelt.

Die Konzentration auf den Sandhi (Übergang) zwischen Jagrat (Wachzustand) und Svapna (Traumzustand) mit dem Ziel, diesen Übergang zu verlängern, ist schwierig. Setze dich abends in einen ruhigen Raum und beobachte den Geist aufmerksam. Es wird dir möglich sein, an diesen Überganszustand heranzukommen. Übe regelmäßig drei Monate lang. Du wirst Erfolg haben.

Reduziere deine Betätigungen. Du wirst so mehr Konzentration und ein reicheres Innenleben bekommen.

Wenn es dir schwerfällt, deinen Geist in einem Zimmer konzentriert zu bekommen, gehe nach draußen, setze dich unter den freien Himmel, auf eine Terrasse, an ein Flussufer oder in eine stille Gartenecke. Du wirst dich dann gut konzentrieren können.

Man drückt auf einen Knopf und schon erstrahlt im Bruchteil einer Sekunde Licht aus der Taschenlampe. Genauso ist es, wenn der Yogi sich konzentriert und den Knopf des Ajna Chakras (Punkt zwischen den Augenbrauen bis Mitte der Stirn) drückt und unmittelbar göttliches Licht daraus erstrahlt.

Bhrumadya Drishti305 bedeutet, seine Augen auf den Punkt zwischen den Augenbrauen zu richten. Da ist Ajna Chakra. Sitze in Padmasana (Lotossitz) oder in Siddhasana306in deinem Meditationszimmer und übe diesen Blick sanft zwischen einer halben Minute bis zu einer halben Stunde lang. Es darf bei dieser Übung nicht die geringste Gewalt angewendet werden. Dehne die Dauer schrittweise aus. Diese Kriya (Reinigungsübung) beseitigt Vikshepa, das Hin-und-her- Wandern des Geistes, und entwickelt Konzentration.

Krishna erwähnt diese Übung in der "Bhagavad Gita":

     sparśānkṛtvā bahirbāhyāṃś cakṣuścaivāntare bhruvoḥ [...]

"Wenn der Kontakt nach außen unterbrochen ist und der Blick zwischen die Augenbrauen gerichtet, [...]." [BhG 5.27]

Dies wird auch „Stirnblick“ genannt, weil die Augen in Richtung Stirnknochen und in Richtung Vorderseite des Kopfes schauen. Du kannst diese Blickart wählen oder auch den „Nasenblick“; wie es dir besser gefällt und deinem Typ und deinen Fähigkeiten entspricht.

Der „Nasenblick“ heißt Nasagra Drishti307 Der Blick ist auf die Nasenspitze geheftet. Behalte den Nasenblick selbst dann bei, wenn du auf der Straße gehst.

Auch diese Übung wird von Krishna erwähnt:

     [...] saṃprekṣya nāsikāgraṃ svaṃ diśaścānavalokayan

"[...] wobei man fest auf die Nasenspitze schaut und nicht umherblickt.“[BhG 6.13]

Diese Übung festigt den Geist und entwickelt Konzentrationsstärke.

Trataka ist festes Fixieren mit starrem Blick. Schreibe das Wort OM in schwarzer Tinte an die Wand. Setze dich vor die Zeichnung. Konzentriere dich mit offenen Augen darauf bis Tränen kommen. Dann schließe die Augen. Visualisiere das Bild von om . Dann öffne die Augen und schaue wieder fest darauf bis sich Tränen bilden. Dehne die Zeitspanne langsam aus. Es gibt Schüler, die eine Stunde lang mit offenen Augen darauf schauen können. Trataka ist eine der Shatkriyas (sechs Reinigungsübungen) im Hatha Yoga. Besorge dir einBild mit dem om-Symbol, hefte es an die Wand und konzentriere dich darauf. Trataka festigt den unsteten Geist und entfernt Vikshepa (das Herumwandern des Geistes). Anstatt auf zu blicken, kannst du auf einen schwarzen Punkt an der Wand schauen – während Trataka werden die Wände eine goldene Farbe annehmen – oder du kannst einen dicken schwarzen Punkt auf ein Blatt malen und es an die Wand kleben. Das ist ein Fixpunkt auf den der Aspirant seinen Geist konzentrieren kann. Schaue auf den schwarzen Punkt an der Wand.

Du kannst Trataka mit jedem Bild Gottes machen, von Krishna, Rama, Shiva oder Shaligrama. Sitze in Padmasana (Lotussitz). Stelle das Bild vor dich hin. Du kannst auch auf einem Stuhl sitzen. Befestige dann das Bild vor dir auf Augenhöhe an der Wand. Trataka ist das ABC der Konzentration. Es ist die erste Konzentrations-Übung für Yoga-Schüler.

Trataka mit offenen Augen wird gefolgt von Visualisierungen. Visualisieren bedeutet, ein klares geistiges Bild von etwas entstehen zu lassen. Trataka und Visualisieren helfen sehr bei der Konzentration.

Schaue ein paar Minuten lang das Bild Gottes, deines Ishta Devata an, dann schließe die Augen. Nun versuche, das Bild geistig zu visualisieren. Du wirst ein scharfes und klares Bild der Gottheit haben. Wenn es beginnt zu verblassen, öffne deine Augen wieder und schaue es erneut an. Wiederhole den Vorgang fünf bis sechs Mal. Du wirst deine Ishta Devata, deine Schutzgottheit, nach ein paar Monaten Üben deutlich im Geist visualisieren können.

Wenn es dir schwer fällt, das ganze Bild zu visualisieren, versuche einen Teil des Bildes zu visualisieren. Versuche ein Bild zu visualisieren, auch wenn es zunächst nur verschwommen ist. Mit wiederholtem Üben wird es deutliche Züge annehmen.

Wenn dir auch das schwerfällt, hefte den Geist auf das strahlende Licht im Herzen und nimm dies als eine Gestalt von Gott bzw. Devi (Göttin).

Der Geist kann auch durch geistige Puja (Verehrungsritual) gefestigt werden, d.h. dadurch, dass man an die Eigenschaften Gottes und an Seine Lilas (Spiele) denkt.

Übe Trataka am ersten Tag eine Minute lang. Dann dehne die Zeit schrittweise jede Woche aus. Überanstrenge die Augen nicht. Mache es sanft, mit Leichtigkeit und solange es angenehm ist Wiederhole dabei dein Ishta Mantra (z.B. hari om, sri rama, om Bhur Buvah svah...).

Manche Menschen, die schwache Kapillargefäße haben, können rote Augen bekommen. Sie brauchen sich nicht zu sorgen. Die Rötung der Augen geht schnell vorbei. Übe Trataka sechs Monate lang. Dann kannst du fortgeschrittene Konzentrations- und Meditationspraktiken aufnehmen. Mache dein Sadhana regelmäßig und systematisch. Wenn du einmal unterbrichst, mache das Versäumnis bzw. den Verlust am nächsten Tag wieder gut. Trataka beseitigt viele Augenkrankheiten und bringt schließlich Siddhis (übernatürliche Kräfte) hervor.