Shiva Samhita

 

Der Mikrokosmos

  1. In diesem Körper ist der Berg Meru, die Wirbelsäule, von sieben Inseln umgeben. Es gibt Flüsse, Seen, Berge, Felder und auch Herren dieser Felder.
  2. In diesen sind sowohl Seher und Weise als auch alle Sterne und Planeten verkörpert. Es gibt geweihte Wallfahrten, Heiligtümer und herrschende Gottheiten über diese Heiligtümer.
  3. Die Urheber der Schöpfung und des Untergangs, Sonne und Mond, bewegen sich im Körper. Er besteht aus Äther, Luft, Feuer, Wasser und Erde.

Die Nervenzentren

  1. Die Seinsformen, die in den drei Welten existieren, findet man auch im menschlichen Körper. Sie umgeben den Meru17 und erfüllen ihre jeweiligen Funktionen.
  2. In der Regel wissen die Menschen dieses nicht. Derjenige, der es weiß, ist ein Yogi. Darüber gibt es keinen Zweifel.
  3. In diesem Körper, der Brahmanda18 genannt wird, gibt es den Nektar ausstrahlenden Mond an seinem besonderen Platz, an der Spitze der Wirbelsäule. Er hat acht Kalaa19 in der Form eines Halbkreises.
  4. Der Mond hat sein Gesicht nach unten und regnet Tag und Nacht Nektar. Diese Ambrosia20 (mystische Flüssigkeit) unterteilt sich in zwei feinstoffliche Bereiche:
  5. Einer von diesen geht über den ganzen Körper, um ihn zu ernähren, wie die Gewässer des himmlischen Ganges. Er fließt abwärts durch den feinstofflichen Kanal, den man Ida nennt. Gewiss ernährt diese Ambrosia den ganzen Körper durch den Ida-Kanal.
  6. Dieser Milchstrahl ist auf der linken Seite. Der andere Strahl, leuchtend wie die reinste Milch und Quelle großer Freude, kommt durch den mittleren feinstofflichen Kanal herein, den man Sushumna nennt. Er strömt in die Wirbelsäule hinein, um diesen Mond zu bilden.
  7. Am Grunde des Meru ist die Sonne. Sie hat zwölf Kalas. In Pingala, dem feinstofflichen Kanal auf der rechten Seite der Wirbelsäule, trägt der „Herr der Geschöpfe“ diese mystische Flüssigkeit mittels Strahlen aufwärts.
  8. Er absorbiert die Lebenssekrete und den ausgestrahlten Nektar. Ähnlich wie in der Atmosphäre (Makrokosmos) bewegt sich diese Sonne durch den ganzen Körper (Mikrokosmos).
  9. Der rechtsseitige Energiekanal, die Pingala, ist eine andere Form der Sonne (hier ist das Sonnenprinzip bzw. männliche Energieprinzip gemeint) und Bescherer von Nirwana21. Er, der Herr der Schöpfung und Zerstörung, bewegt sich durch diese Energiekanäle durch glückverheißend elliptische Bahnen.

Die Nadis

  1. Im menschlichen Körper gibt es 350.000 Nadis.* Von diesen sind vierzehn die wichtigsten.
  2. Sushumna, Ida, Pingala, Gandhari, Hasti-Jiva, Kuhu, Saraswati, Pusa, Sankhini, Payaswani, Varuni, Alumbusa, Vishwodari und Yasaswani.
  3. Die wichtigsten von diesen sind Ida, Pingala und Sushumna.
  4. Von diesen drei Nadis ist allein Sushumna die wichtigste Nadi und besonders beliebt bei den Yogis. Darin befinden sich wiederum andere Energiekanäle die diesem untergeordnet sind.
  5. Die Öffnungen dieser wichtigsten Nadis sind nach unten gerichtet, ähnlich dünnen Lotusfäden. Sie befinden sich an der Wirbelsäule und repräsentieren Sonne, Mond und Feuer.
  6. Von den dreien bevorzuge ich den Innersten, genannt Chitra (glänzend, licht, hell, klar). In diesem wiederum hat der feinste (aller feinstofflichen) Energiekanäle, Brahmarandara genannt, seinen Sitz.
  7. In fünf leuchtend reinen Farben bewegt sich Chitra im Zentrum der Sushumna und ist der lebenswichtigste Teil des Körpers.
  8. Chitra wurde in den Shastras (Heilige Schriften) der himmlische Weg genannt und spendet Wonne der Unsterblichkeit. Indem sich der Yogi damit identifiziert, reinigt er sich von allen Sünden.
  • * Klassische Schriften wie die Hatha Yoga Pradipika und die Bhuta Shuddhi sprechen von insgesamt 72.000 Nadis, was die meisten modernen Yoga-Meister übernommen haben.

Die Beckenregion

  1. Zwei Fingerbreit über dem Rektum und zwei Fingerbreit unter dem Geschlechtsorgan ist der Adhara22Lotus. Er hat die Größe von vier Fingerbreiten.
  2. In der Fruchthülle des Adhara Lotus ist die dreieckige schöne Yoni23, versteckt und geheim gehalten in allen Tantras24.
  3. Darin befindet sich die höchste Göttin Kundalini25, in der Form von Elektrizität, in einer Spirale. Sie hat drei und eine halbe Windung wie eine Schlange und ruht in der Öffnung von Sushumna.
  4. Sie stellt die Schöpfungskraft der Welt dar und ist ständig damit beschäftigt zu erschaffen. Sie ist die Göttin der Sprache, die nicht offenbart werden kann und von allen Göttern gepriesen wird.
  5. Die Nadi, die Ida genannt wird, verläuft an der linken Seite. Sie windet sich um Sushumna und endet am rechten Nasenloch.
  6. Die Nadi, die Pingala genannt wird, verläuft an der rechten Seite, windet sich um Sushumna und endet am linken Nasenloch.
  7. Die Nadi zwischen Ida und Pingala ist Sushumna. Sie hat sechs Stufen, sechs Kräfte, sechs Lotus-Chakren, die den Yogis bekannt sind.
  8. Die ersten fünf Stufen der Sushumna sind unter verschiedenen Namen bekannt - wegen der Notwendigkeit wurden sie in diesem Buch erwähnt.
  9. Die anderen Nadis, die am Muladhara26 beginnen, gehen zu den verschiedenen Teilen des Körpers: z.B. zu der Zunge, zum Geschlechtsorgan, zu den Augen, zu den Ohren, Füßen, Zehen, zum Unterleib, zur Achselhöhle, zu den Fingern, zum Hodensack und zum After. Wenn sie von ihrem besonderen Platz aufgestiegen sind, machen sie Halt an ihrem jeweiligen Bestimmungsort wie oben beschrieben.
  10. Von diesen Nadis entspringen nacheinander weitere Zweige und Unterzweige, so dass sie zuletzt 350.000 an der Zahl werden und ihre jeweiligen Gebiete versorgen.
  11. Diese Nadis sind überall im Körper verteilt, sowohl waagerecht als auch senkrecht. Sie sind feinstoffliche Transportwege der Sinneseindrücke und kontrollieren die Atembewegungen. Außerdem regeln sie die motorischen Funktionen.

Die Unterleibsregion

  1. Im Unterleib brennt das Verdauungsfeuer: Es befindet sich in der Mitte der Sonnenregion und hat zwölf Kalas. Dies wird das Feuer des Vaiswanara27 genannt und wird aus Teilen meiner eigenen Energie heraus geboren. Es verdaut die Nahrungsmittel (hervorgebracht) von unterschiedlichen Lebewesen, sobald diese im Magen sind.
  2. Dieses Feuer stärkt das Leben und gibt Kraft und Nahrung. Es gibt dem Körper (neue) Energie, zerstört alle Krankheiten und gewährt Gesundheit.
  3. Der weise Yogi, der dieses vaiswanarische Feuer mit angemessenen Riten entzündet hat, sollte ihm jeden Tag Nahrung opfern - in Über- einstimmung mit den Unterweisungen seines spirituellen Lehrers.
  4. Dieser Körper, den man Brahmanda (Mikrokosmos) nennt, besteht aus vielen Teilen. Die wichtigsten von ihnen habe ich in diesem Buch auf- gezählt. Man sollte sie gut kennen.
  5. Verschieden sind ihre Namen. Es gibt unzählige Körperpartien, die hier nicht aufgeführt werden können.

Der Jivatman

  1. Im Körper wohnt der Jiva, die individuelle Seele, geschmückt mit der Girlande endloser Wünsche und durch das Karma an den Körper ge- kettet.
  2. Der Jiva, dem viele Eigenschaften innewohnen, ist der Urheber aller Taten. Er erfreut sich der Früchte seiner verschiedenen Karmas, die er im vergangenen Leben angesammelt hat.
  3. Was auch immer unter den Menschen geschieht (sowohl Vergnügen als auch Schmerz), ist aus Karma geboren. Alle Wesen erfreuen sich oder leiden, je nach den Ergebnissen ihrer Handlungen.
  4. Wünsche, die Vergnügen oder Leid verursachen, entstehen aus dem vergangenen Karma des Jiva.
  5. Der Jiva, der ein Übermaß an guten und gekonnten Handlungen ange- sammelt hat, erhält ein glückliches Leben. In der Welt bekommt er vergnügliche und gute Dinge, um sich daran zu erfreuen, ohne alle Sorgen.
  6. Im Verhältnis zu der Kraft seines Karma erleidet der Mensch Elend oder er erfreut sich des Vergnügens. Der Jiva, der ein Übermaß an Bösem angehäuft hat, bleibt niemals in Frieden. Er ist nicht von seinen Karmas getrennt. Es gibt nichts außer Karma in dieser Welt. Aus dem Bewusst- sein, das durch Maya28verschleiert ist, sind alle Dinge entstanden.
  7. Wenn ihre Zeit reif ist, werden verschiedene Geschöpfe geboren, um sich an den Folgen ihres Karma zu erfreuen. Genau wie eine Perlmutt-Schale fälschlicherweise für Silber gehalten wird, verwechselt der Mensch - durch den Makel seines eigenen Karmas - das materielle Universum mit Brahman.
  8. Aus dem Verlangen entstehen all diese Irrtümer, die nur mit großer Mühe überwunden werden können. Sobald die erlösende Erkenntnis von der Unwirklichkeit dieser Welt aufkommt, sind alle Wünsche aufgehoben.
  9. In die materielle Welt verstrickt, wird das, was der Ursprung dieser Welt ist, verhüllt - der Geist. Es gibt aber nichts anderes! Wahrlich, wahrlich, ich sage dir die Wahrheit.
  10. Wenn der Schöpfer des Manifesten sich offenbart, wird die Vorstellung von dieser subjektiven Welt zerstört und zur Illusion. Solange man denkt: ‘Brahma gibt es nicht’, hört die Täuschung nie auf.
  11. Wenn man die Angelegenheit näher und ernsthafter betrachtet, ver- schwindet das falsche Wissen. Es kann nicht auf andere Weise entfernt werden! Genau, wie man Silber und Perlmutt nicht verwechseln kann beim genaueren Hinsehen.
  12. Wenn die Erkenntnis von dem makellosen Schöpfer des Universums nicht aufkommt, erscheinen die Dinge voneinander getrennt und ver- schieden.
  13. Nur wenn dieser Körper, entstanden durch Karma, zum Mittel (Werk- zeug) wird, Nirvana zu erreichen, wird das Erdulden der körperlichen Bürde Früchte tragen – nicht auf andere Weise.
  14. Von welcher Natur auch immer Vasana29 (das natürliche Verlangen) ist, das durch verschiedene Verkörperungen hindurch dem Jiva (individuelle Seele) anhaftet und ihn begleitet, dementsprechend sind die Trugbilder, an denen er leidet - je nach seinen Taten und Missetaten.
  15. Wenn der Yogaübende den Ozean des Weltlichen überwinden möchte, sollte er alle Pflichten seines Ashrama (seiner Lebensbedingungen und -stadien) erfüllen und auf alle Früchte seiner Arbeit verzichten.
  16. Personen, die an materiellen Dingen haften und begierig auf sinnliche Freuden sind, entgleisen - aufgrund von zuviel Gerede und fehlerhaften Taten - vom Weg ins Nirwana.
  17. Wenn jemand hier - in dieser manifesten Welt - nichts anderes sieht außer das Selbst, nachdem er es durch das (eigene) Selbst erkannt hat, gibt es für ihn keine Sünde mehr - auch dann, wenn er alle rituellen Tätigkeiten ablehnt.
  18. Alle Wünsche und das Übrige werden aufgelöst allein durch Erkenntnis, nicht auf andere Weise. Wenn alle niederen Tattwas30 (Prinzipien) aufhören zu existieren, dann wird mein (das Absolute) Tattwa ver- wirklicht.