Sei ehrlich zu dir selbst

Das System vom Nyasa

In bestimmten Formen des rituellen Gottesdienstes in Tempeln vollzieht ein Zelebrant bestimmte Gestiken, die Nyasas genannt werden. Es gibt verschiedene Formen von Nyasas, wie anganyasa, karanyasa usw. Nur der ausführende Priester kennt deren genaue Bedeutung. Es ist ein Wort aus dem Sanskrit und heißt soviel wie ‚sich selbst platzieren‘ oder ‚die Platzierung von irgendetwas‘ an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Art und Weise.

Dieses System des ‚Platzierens’ wird in rituellen Verehrungen einer Gottheit im Tempel durchgeführt, wobei man verschiedene Teile des eigenen Körpers berührt und sich gleichzeitig auf die entsprechenden Teile des Objektes oder der Gottheit konzentriert. Rituelle Verehrungen sind auch eine Meditationsform. Das Verehren ist keine mechanische Handlung. Der Geist ist aktiv darin eingebunden, sonst wäre die Verehrung leblos und würde nicht den gewünschten Erfolg bringen.

Während der Zeremonie des ‚Platzierens‘ werden die Teile der Hülle oder der körperlichen Struktur, die bei der Gottheit verehrt werden, gedanklich auf die entsprechenden Körperregionen des Zeremonienmeisters übertragen. Wenn ich beispielsweise meine Stirn oder irgendeinen anderen Teil meines Kopfes berühre, spreche ich ein Gebet, ein Wort oder ein Mantra, damit die Stirn oder den Kopf der Gottheit sich auf meinen Kopf überträgt und zu meinem Kopf wird. Auf diese Weise sehe ich den Kopf oder die Stirn der Gottheit nicht so, als würde mich etwas anschauen, sondern sie schaut vielmehr durch mich, durch meine Augen und sie ist mein ‚Selbst‘. Dieses bedarf in der Praxis einer außerordentlichen Vorstellungskraft.

Angenommen wir verehren anstelle einer Gottheit einen Menschen vor uns. Dann muss dieser Mensch eins mit uns werden. Hinter dieser Technik steckt eine große Philosophie. Sie ist nützlich, aber kann auch gefährlich sein, wenn der Geist bei der Anwendung dieser Technik nicht rein ist.

Ich schaue euch an. Wenn ich euch anschaue, sehe ich eure Augen als etwas für mich Äußeres an. Doch das ist nicht die richtige Sichtweise. Ihr müsst durch meine Augen schauen, und ich muss durch eure Augen schauen, damit sitzen wir nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gegenüber, sondern arbeiten parallel zusammen, wobei der eine zum anderen wird. Die beiden Augenpaare werden zu einem Augenpaar; aus zwei Köpfen wird ein Kopf, die eine Verbindung eingehen. Wer schaut? Diese Frage taucht jetzt nicht mehr auf. Seht ihr das Objekt oder sieht das Objekt euch? Man kann sagen: Beide Richtungen sind möglich. Vielleicht schaut ihr durch die Augen des Objektes oder das Objekt schaut durch eure Augen. Wenn diese Form der Verehrung erfolgreich ist, wird die Gottheit in den Verehrer eintreten.

Der große Gott, die Inkarnation, wer auch immer euer Ideal sein mag, das ihr verehrt, schaut durch eure Augen und ihr schaut durch seine Augen, sodass ER eins mit euch und ihr eins mit IHM seid. Ich hoffe, ihr wisst zu schätzen, was das bedeutet. Seine Hände sind eure Hände und eure Hände sind seine Hände. Euer Herz ist sein Herz und sein Herz ist euer Herz. Eure Füße sind seine Füße und umgekehrt. Eure Körperteile korrespondieren mit den Körperteilen der Gottheit, die ihr in der Meditation verehrt.

Was geschieht dann? Ihr habt die absolute Kontrolle in der Weise über dieses Objekt, wie ihr eure eigenen Gliedmaßen kontrolliert. Ich kann meiner Hand befehlen sich zu heben und sie wird sich heben; ich kann meinen Beinen befehlen zu gehen und sie werden gehen. Doch wenn ich den Beinen von jemand Anderem zu gehen befehle, werden sie es nicht tun, denn sie identifizieren sich nicht mit meinem Bewusstsein. Die Beine anderer Menschen sind nicht mit meinen Beinen eins geworden; darum kann ich ihnen nicht befehlen zu gehen. Sie werden sich nicht bewegen. Doch wenn meine Beine zu den Beinen von jemand Anderem geworden sind, und ich ihnen befehle zu gehen, dann werden sie sich bewegen.

Wenn euer Bewusstsein sich ganz allmählich Stück für Stück, bis in jede Einzelheit mit einem Gebäude identifiziert und ihr eins mit ihm geworden seid, wird sich das ganze Gebäude auf euren Befehl hin bewegen. Dieses ist das Geheimnis hinter der nyasa Technik, der rituellen Verehrung beim täglichen Gottesdienst in den Tempeln oder vor dem eigenen Altar zu Hause. Solch eine Vorgehensweise müssen wir bei der Meditation auf ein Objekt übernehmen, was auch immer dies für ein Objekt sein mag, das wir für diesen Zweck auserwählt haben.

In den Yoga Sutras des heiligen Patanjali findet sich eine interessante Beschreibung zu diesem Zustand: Die Identifikation mit einem Meditationsobjekt kann damit verglichen werden, wenn man ein farbiges Objekt in die Nähe eines Kristalls bringt und die Farbe des Objektes in das Kristall eintritt; wenn eine rote Rose an das Kristall gehalten wird, färbt es sich rot. Die objektive und subjektive Seite betreten einander und das eine lässt sich nicht mehr vom anderen unterscheiden.

Man kann das Kristall mit dem meditierenden Bewusstsein vergleichen. Die rote Rose ist hier das Meditationsobjekt, die nahe an das Kristall gehalten wird. Bei dem Prozess des Eintretens des Objektes in das Kristall verschmelzen die beiden sichtlich zu einer einzigen Masse, wobei das Objekt zum Kristall oder das Kristall zum Objekt wird.

Das Objekt fließt in das Subjekt; das Subjekt fließt in das Objekt ein. Oder um ein anderes Bild zu zeichnen, stellt euch zwei Wassertanks vor, die beide bis zum Rand mit Wasser von unterschiedlicher Qualität gefüllt sind. Zwischen den beiden Tanks besteht eine Rohrverbindung, sodass das Wasser mit den unterschiedlichen Qualitäten hin- und herfließen kann. Es ist nicht bekannt, welches Wasser von wo nach wo fließt. Das Wasser aus beiden Tanks vermischt sich. Nur das Wasser in der Rohrverbindung kann als Wasser von diesem oder jenem Tank identifiziert werden.

In diesem Bewusstsein der Identifikation durch das zuvor erwähnte ‚Platzieren‘ vereinigt sich das Objekt mit dem Bewusstsein des Meditierenden in einer nicht vorhersehbaren Art und Weise oder Erfahrung, wobei das Objekt sich in einem selbst befindet oder man selbst in das Objekt eingetreten ist. Wer ist wer? Meditiert das Objekt auf euch oder meditiert ihr auf das Objekt? Wenn der große Gott vor euch steht, kontempliert ER auf euch, wenn ER euch anstarrt, oder kontempliert ihr auf IHN? Beide Antworten sind richtig.