Autobiographie von Swami Sivananda

Wie Gott in mein Leben kam

 

Es wäre einfach, diese Frage etwa so abzutun: "Ja, nach langen, intensiven Askese- und Meditationsübungen im Swarg Ashram und nach dem Darshan (Sicht) und dem Segen mehrerer Maharishis (große Weise) erschien mir Gott in Gestalt von Sri Krishna."

Aber das wäre weder die volle Wahrheit noch eine ausreichende Antwort auf eine Gott betreffende Angelegenheit; Er ist unendlich, unbegrenzt und jenseits der Reichweite von Sprache und Geist.

Kosmisches Bewußtsein ist kein Zufall oder Glücksache. Es ist der über einen dornigen Pfad mit Stufen - schlüpfrigen Stufen - , erreichbare Gipfel. Ich erklomm den beschwerlichen Weg Schritt für Schritt; aber auf jeder Teilstrecke erlebte ich, wie Gott in mein Leben kam und mich leicht zur nächsten Stufe emporhob.

Mein Vater liebte Verehrungsrituale, die er sehr regelmäßig ausführte. Für meinen kindlichen Geist war das Bild, das er dabei verehrte, Gott. Ich half meinem Vater gern bei diesen Zeremonien und brachte ihm Blumen und andere Opfergaben. Aus der tiefen inneren Befriedigung bei diesen Ritualen wuchs in mir die starke Überzeugung, daß Gott in diesen Bildern war, die von seinen Verehrern so hingebungsvoll angebetet wurden. Auf diese Weise trat Gott in mein Leben und stellte meinen Fuß auf die unterste Sprosse der spirituellen Leiter.

Als Erwachsener liebte ich Gymnastik und Sport. Bei einem Lehrer, der einer niederen Kaste angehörte, lernte ich Fechten. Er war ein Harijan (Kastenloser). Als ich einige Tage zu ihm gegangen war, wurde ich darüber aufgeklärt, daß es sich für einen Brahmanen nicht zieme, Schüler eines Unberührbaren zu spielen. Ich dachte gründlich darüber nach. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, der Gott, den wir in dem Bildnis im Gebetsraum meines Vaters verehrten, wohne im Herzen dieses Unberührbaren. Er war mein Guru. Ich ging sofort mit Blumen, Süßigkeiten und Kleidern zu ihm, bekränzte ihn, legte ihm die Blumen zu Füßen und warf mich vor ihm nieder. So kam Gott in mein Leben, um den Schleier der Kastenunterschiede zu lüften.

Wie äußerst wertvoll dieser Schritt war, konnte ich wenig später feststellen, denn ich war dabei, den medizinischen Beruf zu ergreifen und allen zu dienen; Kastenunterschiede hätten diesen Dienst zur Farce gemacht. Nachdem sich dieser Nebel durch das Licht Gottes geklärt hatte, war es leicht und natürlich für mich, allen zu dienen. Jede Art von Dienen zur Heilung und Linderung menschlichen Leids machte mir große Freude. Wenn es ein gutes Rezept gegen Malaria gab, hatte ich das Gefühl, die ganze Welt müsse es sofort erfahren. Ich wollte alles über Krankheitsvorbeugung, Gesundheitsförderung und Heilung von Krankheiten lernen und alle an diesem Wissen teilhaben lassen.

Später in Malaysia kam Gott in Form der Kranken zu mir. Es ist jetzt schwierig für mich, ein besonderes Beispiel herauszugreifen; wahrscheinlich ist es auch unnötig. Zeit und Raum sind Vorstellungen des Geistes; sie haben keine Bedeutung vor Gott. Ich kann jetzt auf meine Zeit in Malaysia als einem einzigen Ereignis zurückblicken, in dem Gott in Gestalt der Kranken und Leidenden zu mir kam. Die Menschen sind krank an Körper und Geist. Für manche ist das Leben ein schleichender Tod; anderen ist er willkommener als das Leben; manche laden den Tod ein und begehen Selbstmord, unfähig, sich dem Leben zu stellen.

Wenn Gott diese Welt nicht nur als Hölle erschaffen hatte, in die schlechte Menschen geworfen wurden, um zu leiden und wenn es etwas über dieses Elend und diese hilflose Existenz hinaus gab – und ich fühlte intuitiv, daß es so sein müsse - , dann sollte man dieses andere kennenlernen und erfahren. Danach strebte ich immer mehr.

An diesem entscheidenden Punkt in meinem Leben kam Gott in Gestalt eines Wandermönchs zu mir, der mir die erste Unterweisung im Vedanta (Philosophie des Absoluten) erteilte. Die positiven Seiten des Lebens auf der Erde und der wirkliche Zweck und das Ziel des menschlichen Lebens wurden klar. Das zog mich von Malaya zum Himalaya. Nun kam Gott zu mir in Form einer allumfassenden Sehnsucht, Ihn als das Selbst aller Wesen zu erkennen.

Meditation und Dienst machten gute Fortschritte; dann kamen verschiedene spirituelle Erfahrungen. Körper, Gemüt und Intellekt als begrenzende Umstände schwanden und das ganze Weltall erstrahlte als Sein Licht. Gott kam in Form dieses Lichts, in dem alles göttliche Gestalt annahm. Die Not und das Leiden, die alle zu plagen scheinen, stellten sich als Fata Morgana heraus, als die aus Unwissenheit geschaffene Illusion aufgrund niedriger sinnlicher Wünsche.

Ein weiterer Meilenstein mußte erreicht werden, um wirklich zu wissen: "Alles ist Brahman". Anfang des Jahres 1950, am 8. Januar, kam Gott in Gestalt eines halb wahnsinnigen Angreifers zu mir, der den Abend-Satsang ("Zusammensein mit der Weisheit"; gemeinsame Meditation und Vorträge in spiritueller Gemeinschaft) im Ashram störte. Sein Attentat mißlang. Ich verbeugte mich vor ihm, verehrte ihn und schickte ihn nach Hause. Das Böse ist da, um das Gute zu verherrlichen. Das Böse ist nur äußerer Schein. Unter seinem Schleier leuchtet das Selbst in allem.

Hier muß ich eine bemerkenswerte Tatsache erwähnen. Nichts von dem bereits Erreichten verlor im Laufe dieser Entwicklung zu einem späteren Zeitpunkt an Wert. Man wuchs in die nächste Phase hinein; das Ergebnis war der Yoga der Synthese. Verehrung eines Götterbildes, Dienst an Kranken, Meditation, Pflege allumfassender Liebe, die die Grenzen von Kaste, Glaubensbekenntnis und Religion überwand, folgten aufeinander, um schließlich in den Zustand kosmischen Bewußtseins zu münden. Dieses Wissen mußte ich auf allen Stufen unmittelbar erwerben und all das mußte zuerst zu einem Bestandteil meines Wesens werden.

Die Mission hatte an Kraft und Reichweite zugenommen. 1951 unternahm ich meine Reise durch ganz Indien. Dabei kam Gott zu mir als Virat-Swarupa (Gott in seiner Manifestation als ganze Welt), als zahlreiche Anhänger, die die Grundsätze eines Lebens in Spiritualität erfahren wollten. An jeder Station fühlte ich, daß Gott durch mich sprach, Sich Selbst in Seiner kosmischen Gestalt vor mir ausbreitete als die Menge und mir zuhörte. Er sang mit mir, Er betete mit mir; Er sprach und Er hörte auch zu. "Sarvam Khalvidam Brahma - alles ist wahrlich Brahman".