Parabeln von Swami Sivananda

  • Teil 1 Philosophie und Lehren
  • 9. Kapitel Die Natur des Jivanmukta
  • Gleichnis vom Traum des Jägers


Ein Jäger legte sich schlafen. Im Traum jagte ihn ein wilder Löwe und war gerade im Begriff, ihn anzuspringen. Voller Angst schrie er laut auf. Er träumte, daß er sich bückte, um Pfeil und Bogen aufzuheben und seinem Kamerad zurief: „Gib mir Pfeil und Bogen.“ Während er sich so um Pfeil und Bogen bemühte, fiel er aus dem Bett. Er wachte auf. Sein Sohn, der im Nebenraum schlief, hörte seinen Schrei und die Worte: „Gib mir Pfeil und Bogen.“ Er wußte nicht, was los war und eilte mit Pfeil und Bogen in den Raum. Der Vater lächelte und schüttelte den Kopf: „Nein, Pfeil und Bogen brauche ich jetzt nicht. Es war nur ein Traum. Obwohl ich nun wach bin und weiß, daß es nur ein Traum war, erinnere ich mich lebhaft daran.“

  • Gleichnis von der Fackel im Dunkeln


Ein Mann betrat im Dunkeln sein Zimmer. Er wollte ein Licht anzünden, fand aber die Fackel nicht. Während er danach suchte, stolperte über viele Dinge und schlug sich den Kopf hier und dort an. Dann hielt er endlich die Fackel in der Hand. Kaum hat er sie angezündet, verschwindet die Dunkelheit. Jetzt kann er sich frei und leicht im Raum bewegen.

Ein spiritueller Sucher betritt die dunklen Höhlen seines Inneren, wo das Licht des Selbst zu finden ist. Während seiner Suche stolpert und fällt er und schlägt sich den Kopf hier und dort an. Und schließlich kommt der Augenblick – der größte aller Augenblicke – und das Licht befindet sich in seinen Händen. Die Unwissenheit schwindet mit einem Schlag. Das Licht des Selbst scheint auf seine Seele. Es gibt keine Kämpfe, keine Probleme mehr. Er bewegt sich frei als ein Jivanmukta (lebendig Befreiter).

  • Gleichnis vom Kind und vom Schatten


Der ältere Sohn des Hauses war in der Küche. Er glaubte, sein kleiner Bruder, der noch ein Baby war, sei allein im Zimmer nebenan. Plötzlich hörte er das Kind lachen, spielen und sprechen. Vor seinem geistigen Auge entstand das Bild eines Eindringlings, der dem Kind Süßigkeiten gibt und dabei dessen goldenen Schmuck stiehlt. Bestürzt eilt er in den Nebenraum. Dort sieht er das Kind mit seinem eigenen Schatten spielen, der sich an der Wand abzeichnet. Er ist beruhigt und umarmt das Brüderchen voller Liebe.

Ähnlich ist der weltliche Mensch mit der Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse beschäftigt und glaubt, der Sadhu (Mönch, Heiliger, Weiser) sei ein einsames Wesen in einem anderen Teil des Wohnhauses Gottes. Plötzlich hört er jede Menge Gelächter und „Leben“ im Lager des Sadhu. In seiner Unwissenheit bildet er sich ein, der Dieb von Maya (Täuschung) sei ins Lager des Sadhu eingedrungen und habe ihn der Schmuckstücke seiner Tugenden wie Vairagya (Leidenschaftslosigkeit), Viveka (Unterscheidungskraft) und spirituelle Erleuchtung beraubt, nachdem er ihm ein wenig Bequemlichkeit und Komfort angeboten hat. Mit diesen Gedanken wirft der weltliche Mensch einen genaueren Blick auf den Sadhu. Der Jivanmukta (lebendig Befreite) spielt mit seinem eigenen Schatten und freut sich darüber. In seinen Augen sind alle Jivas (Individuen) der Welt nichts anderes als sein eigener Schatten. Weder hat er etwas bekommen noch etwas verloren.

  • Gleichnis von der Verschmutzung des Feuers


Ein Mann, der an einer schweren Krankheit litt, hatte etwas gegessen. Um zu vermeiden, daß andere sich ansteckten, warf er die Unterlage, von der er gegessen hatte, in ein Feuer, das in der Nähe brannte. Ein strenggläubiger Brahmane beobachtete das und empörte sich darüber, da er glaubte, das Feuer sei dadurch verunreinigt worden. Nun wußte der Brahmane nicht, was er dagegen tun sollte. Was tut ein Mensch, wenn er schmutzig ist? Er gießt sich Wasser über den Kopf. So schüttete der Brahmane nun Wasser in das Feuer, um es zu reinigen. Das Feuer ging prompt aus und der Abfall, den es verbrennen sollte, blieb übrig. Ein anderer Brahmane wies ihn zurecht: „Was für einen Schaden hast du angerichtet! Wie könnte Feuer, der Läuterer von allem, je beschmutzt werden? Der Mann hatte vollkommen recht, denn er wollte die Gemeinschaft vor Ansteckung schützen. Das Feuer verbrennt die Krankheitskeime. Durch deine fixe Idee, das Feuer sei verunreinigt, hast du die großartige Reinigungsarbeit, die das Feuer vollbringt, zunichte gemacht.“ Der weise Brahmane brachte das Feuer wieder in Gang und ließ den Abfallhaufen zu Asche verbrennen.

Das Feuer ist mit einem Jivanmukta (lebendig Befreiter) vergleichbar. Er verbrennt in allen Wesen das Sündhafte und Böse. Sein Licht strahlt hell, verbrennt die Sünden der Menschen und transformiert sie zur reinen Asche des Wissens (Jnana). Ein für seine Bösartigkeit bekannter Mensch kommt zu ihm. Um seinen Segen zu erlangen, bietet er dem Jivanmukta seinen Reichtum oder sein Haus an. Wenn der weltliche, rechtgläubige Mensch das sieht, zerbricht er sich den Kopf darüber. Er fürchtet, der Jivanmukta könne von den Sünden des Schurken befleckt werden. Er glaubt tatsächlich, der Jivanmukta selbst sei nun zu einem bösen Menschen geworden! Infolge dieser Unterstellung behandelt er den Jivanmukta nicht mehr ehrerbietig, so daß dieser den Ort verläßt. Was ist die Folge? Der böse Mensch, der gerade angefangen hat, sich durch die göttliche Präsenz des Jivanmukta zu bessern, übernimmt wieder Vorherrschaft. Die rechtschaffene Ordnung ist wieder gestört. Ein weiser Mensch betritt diese Szenerie und tadelt den orthodoxen, törichten Menschen. Er sagt: „Wie töricht von dir, zu glauben, daß der Jivanmukta von der Schlechtigkeit des Schurken beschmutzt werden könnte! Was weißt du von der alles läuternden Natur des lebendig Befreiten? Nichts kann ihn beflecken. Er verweigert niemandem seinen Segen. Er vernichtet glücklich und freudig die Sünden aller. Der böse Mensch hatte recht, bei ihm Zuflucht zu suchen, ihm sein Vermögen und sein Haus zu überlassen. Der Jivanmukta läutert alles. Nun hast du ihn vertrieben und damit unsagbares Leid über die gesamte Gemeinschaft gebracht.“ Er holt den Jivanmukta zurück und dieser fährt fort in seiner  Mission, die Seelen der Menschen zu läutern.

  • Gleichnis von den Kühen und den Kratzpfeilern


Die Kühe eines Dorfes wurden jeden Tag auf die Weide gebracht. Wenn sie dann stundenlang gegrast hatten, versammelten sie sich um den Kuhhirten, um sich den Nacken kratzen zu lassen. Der Kuhhirte schuf zu diesem Zweck einen Pfeiler mit einer leicht angerauhten Oberfläche. Nun konnten die Kühe ihren Nacken daran reiben und kratzen.

Ein Jivanmukta führt viele Jivas (Einzelseelen, Individuen) zu den reichhaltigen Weidegründen des Sadhana (spirituelle Praxis) mit dem Ziel der Gottverwirklichung. Sie können aber nicht 24 Stunden lang in Meditation versunken sitzen. Das rajasige (aktive) Temperament läßt sie rastlos werden und sie suchen ein Betätigungsfeld für dieses „Nervenjucken“. Darum gründet der Jivanmukta eine Institution, in der diese Menschen beschäftigt sind. Der Jivanmukta beobachtet all dies mit Freude und Befriedigung, ohne an die Einrichtung verhaftet zu sein, die nur zum Nutzen der strebenden Seelen geschaffen worden ist.