Sadhu-Sammelan in Jhunsi

Anfang 1944 kam Ma auf Einladung von Brahmachari Prabhudatta zu seinem Ashram nach Jhunsi bei Allahabad, auf der anderen Seite des Ganges, wo er ein großes Treffen aller namhaften Sadhus Nordindiens veranstaltete. Er empfing Ma am Bahnhof mit einer Kirtangruppe und eskortierte sie mit großem zeremoniellen Pomp zu ihrem Zimmer. Er erklärte, er könne tausend ihrer Devotees unterbringen! Tatsächlich waren Vorbereitungen großen Stils im Gange. Für Hunderte von Gästen wurden Unterkünfte bereitgestellt. Brahmachariji kümmerte sich persönlich darum, daß alle sich wohlfühlten und überwachte alle Vorbereitungen.
      Auf dem Hof, der auch ein sorgfältig gepflegter Garten war, gab es eine große Satsang-Halle. Jeden Morgen versammelten sich die Würdenträger in der Halle. Manche von ihnen hielten vor großer Zuhörerschaft Vorträge über religiöse Themen. Die Sadhus in ihren leuchtend ockerfarbenen Roben saßen den Zuhörern gegenüber. Frauen saßen auf der einen Seite des Saals, Männer auf der anderen. Da Ma nicht zu den Sprechern gehörte, saß sie in ihren makellos weißen Kleidern vorne bei den Frauen.
      Ma hatte viele der Sadhus im Vorjahr in Sahasradhara kennengelernt. Sie wußte auch von ihren häufigen Besuchen in Vrindavan und anderen heiligen Stätten über sie Bescheid. Bis jetzt hatte der Sadhu-Samaj sie nicht offiziell anerkannt. Schließlich war sie eine Frau und kein Mitglied eines etablierten Asketenordens. Zudem war sie keine Gelehrte, hatte keinen Guru und gehörte keinem bekannten Sampradaya an. Es ist Brahmachari Prabhudattas Verdienst, daß er Ma‘s göttliche Ausstrahlung erkannte. Auf seine Initiative kam der Sadhu-Samaj zu ihr und ehrte sie als die wahre Quintessenz des Geistes der Upanishaden, auf dem alle Sampradayas beruhen.
      Am Abend wirkte die Satsang-Halle in Jhunsi weniger offiziell. Ma unterhielt sich in ihrem eigenen Gesprächsstil mit den Besuchern. Manchmal gesellten sich einige Mahatmas dazu. Prabhudattas Hauptziel war, einen festlichen Nama-Sankirtan unter gemeinsamer Schirmherrschaft zu planen, der später im Jahr stattfinden sollte. Es waren schwierige Zeiten. Der Regierung waren alle Großveranstaltungen äußerst suspekt, sie erschwerte Versammlungen aller Art. Die Sadhus fühlten sich verpflichtet, am Leben des Volks teilzunehmen, was nur durch religiöse Festlichkeiten möglich war. So wurde beschlossen, den Nama-Sankirtan als Festveranstaltung durchzuführen, die auf der einfachsten Ebene religiöser Aktivität die größtmögliche Zahl von Menschen zusammenführen könne.
      Es gab große Diskussionen über einzelne Aspekte dieses Vorhabens. Nachdem man sich in einer Sitzung über Ausmaß und Stil des Festes geeinigt hatte, wurde Ma gebeten, den Platz dafür auszuwählen. Ma, die bislang still den Verhandlungen zugehört hatte, brach spontan in schallendes Lachen aus.
      Wir versuchten schon, dieses Lachen (Attahasa) zu beschreiben. Ma‘s ganzer Körper schien den freudigen Klang auszuströmen - ein absolut verblüffendes übernatürliches Phänomen. Der Dichter Rabindranath Tagore verwandte den Ausdruck Attahasa, um ein furchterregendes Donnergrollen zu kennzeichnen, das von den sich schnell ausbreitenden und herabsenkenden dunklen Monsunwolken in Bengalen ausgeht.
      Im Saal herrschte totale Stille, bis der Nachhall dieses Klangs verebbte. Wie konnte Ma lachen, wenn eine Menge berühmter Männer unter schwierigen Bedingungen ernsthaft mit wichtiger organisatorischer Arbeit beschäftigt waren? Der hochangesehene blinde Swami Sharanananda hatte Ma nicht ›gesehen‹, doch nun sagte er mit gemessener Würde: »Ich habe die Schriften eingehend studiert und viel von Ullasa [überschäumende Freude] gelesen, in der sich die unmanifestierte göttliche Glückseligkeit manifestiert. Wir haben das große Glück und die Ehre, daß wir heute die ergreifenden Töne dieses göttlichen Klangs hören durften.«

Haribaba sagte: »Ma hat ganz recht, über unsere Frage zu lachen. Wie sollte sie, die überall zu Hause ist und daher keinem bestimmten Ort zugehört, eine besondere Stelle für ein besonderes Ereignis auswählen, akzeptiert sie doch alles, was geschieht, als Gottes Willen.«
      Ma selbst war nun ernst und still. Wie gewöhnlich gab sie keine Erklärung für ihr Lachen ab. Als die Mahatmas sie in Erwartung ihrer endgültigen Antwort anschauten, sagte sie sanft: »Er, der sich in euren Herzen in Form des Wunsches nach dieser gemeinsamen Feier manifestiert hat, wird sich weiterhin in der Wahl eines Ortes, mit dem ihr alle einverstanden seid, offenbaren. Das Gute selbst führt einen guten Entschluß herbei. Was mich angeht, gehöre ich euch allen als euer kleines Kind; welche Entscheidung ihr auch gemeinsam trefft, wißt, daß das mein Vorschlag ist.« Die Versammlung schien mit diesen Worten zufrieden. Schnell wählte man Jhunsi selbst zum Schauplatz der geplanten Veranstaltung.
      Die Zusammenkunft der Sadhus in Jhunsi markiert eine einschneidende Wende in Ma‘s Leben. Jedes Land besitzt eine Tradition, die von ihren herausragenden Vertretern am Leben erhalten wird. Der ockerfarben gekleidete Asket gilt den Indern als Ideal; er zeigt ihnen, daß ihre Tradition eine lebendige, dauerhaft tragfähige Kraft ist.
      Das Ideal der Entsagung um der Wahrheitserkenntnis willen ist Thema von Shankar-acharyas Advaita-Philosophie. Alle anderen Schulen indischen Denkens bestätigen es als hohes Ideal, aber es ist kein essentieller Teil ihrer Philosophie. Shankaracharya stellte es dagegen in den Mittelpunkt seiner Ausführungen über die Identität von Atman [Selbst] und Brahman [höchstes Sein; das Absolute]. Auf diese Einheit wurde die Welt zusammen mit dem sie erkennenden Subjekt, dem Ich-Bewußtsein, sozusagen projiziert; sie müssen gelöscht werden, damit Brahman als höchste Glückseligkeit aufleuchten kann. In Ma‘s Aufruf zur Loslösung von weltlichen Bindungen schien sich diese klassische Auslegung des upanishadischen Denkens fortzusetzen. Der Unterschied lag in ihrer Persönlichkeit, die statt eines Rückzugs aus der Welt mitfühlendes Engagement vorlebte. Das verlieh dem Ideal des Sannyasa, das sich wie ein Faden durch die blumenreiche Girlande der Hindutradition zieht, größere Glaubwürdigkeit.
      Die versammelten Sadhus würdigten sie bald als Personifikation von Brahmavidya [Weisheit der Upanishaden]. Sie ließen sich nicht von Ma‘s bescheidenen Auftreten in ihrer Gegenwart täuschen. Außerdem stimmten sie ihr nun auch darin zu, die ganze Bandbreite hingebungsvoller Haltungen gegenüber Gott zu befürworten. Ma war ihrerseits stets bereit, Einladungen der Sadhus anzunehmen, und wenn diese sie besuchten, behandelte sie sie mit höchstem Respekt.
      Inzwischen hatte sich Didi intensiv darum bemüht, ein Stück Land in Varanasi am Ufer des Ganges zu erwerben, um darauf einen kleinen Ashram für Ma zu bauen. Ma kam in diesen Jahren sehr häufig nach Varanasi. Sie logierte gewöhnlich in Dharmashalas, auf Hausbooten, Tempelverandas oder in einer kleinen Hütte in Nirmal Chandra Chatterjees Garten in Ramapura.

Es gelang Didi, ein Grundstück in Bhadaini zu erwerben. Im April 1944 wurde auf dem Baugrund die erste Vasanti Puja gefeiert. Der Varanasi-Ashram wuchs und wurde später Hauptquartier des 1950 gegründeten Shri Anandamayi Ma Sangha. Wenngleich dessen Hauptsitz nun in Kankhal ist, bleibt der Ashram in Varanasi weiterhin einer der wichtigsten.
      Im Mai kehrte Ma nach Almora zurück. Alle Mahatmas, die mit ihr in Kontakt gekommen waren, versammelten sich dort zu ihrer Geburtstagsfeier. Haribaba Maharaj sah in ihr von Anfang an die Erfüllung seiner ganzen Sehnsucht nach spiritueller Glückseligkeit. Er vergeudete nie eine Sekunde mit oberflächlichen Gesprächen oder nutzlosen Tätigkeiten. Seine zielgerichtete Konzentration schien die Verwirklichung von Ma‘s Vani: »Allein von Gott zu sprechen ist der Mühe wert; alles andere ist leidvoll und vergebens.«
      1944 erlitten Ma‘s Devotees einen großen Verlust: Swami Akhandananda starb im August in Varanasi. Viele Monate hatte er in einem Haus gewohnt, das zur Unterbringung der Mädchen des Kanyapeeth angemietet worden war. Savitri Mitra und andere pflegten Swamiji, der als Beschützer bei ihnen lebte. Er brauchte wenig Pflege und Fürsorge. Als Ma von seinem Unwohlsein hörte, schickte sie Didi nach Varanasi. Sie fragte ihren Vater mehr als einmal: »Soll ich Ma ein Telegramm schicken?« Seine Antwort war immer: »Das ist nicht nötig.« Seinen Betreuerinnen wurde klar, daß er Ma‘s Gegenwart immer empfand und sich in dem Refugium, das er gesucht und gefunden hatte, geborgen fühlte. Seine letzten Augenblicke waren ruhig und friedvoll.
      Bei ihren häufigen Aufenthalten in Allahabad hatte Ma Kanhaiyalal kennengelernt, einen gottliebenden Vaishnava und einflußreichen Mann in der Stadt. Er besaß eine große Halle mit Bildern von Krishna an sämtlichen Wänden. Sie alle waren Kopien eines riesigen Gemäldes, das an der Schmalseite des Saals aufgehängt war. Es zeigte einen jugendlichen Krishna, der sich mit seiner Flöte in der Hand gegen einen Baum lehnt; neben ihm eine schöne weiße Kuh. Kanhaiyalal hatte, wie es hieß, eine Vision dieser Szene gehabt. Er beauftragte einen Künstler, sie zu malen und auch Kopien anzufertigen. Die Halle hieß daher Krishna-Kunja [Krishnas Gartenlaube].
      Die Durga Puja im Oktober 1944 fand auf Einladung Kanhaiyalals in Krishna Kunja statt. Eine solche Mischung von Gegensätzlichem - das Fest der Göttin in einem Krishna geweihten Saal - war bei Ma immer möglich. Zu dieser Durga Puja besuchte Ma auch zum erstenmal den Satya Gopal Ashram in Allenganj. Gopal Thakur Mahashaya war ein Schüler von Satya Deva Thakur aus dem berühmten Sadhana Samar Ashram. Diese Gemeinde führte die Durga Puja auf ihre ganz eigene Art aus. Ma war auch zu ihrem Mandapa [zu religiösen Festen für wenige Tage errichtetes Zelt für die Puja] eingeladen. Als sie eintraf, begrüßte Gopal Thakur sie enthusiastisch mit Blumen, Liedern und Mantras als die lebende Devi, die er in der Lehmfigur angerufen hatte.
      Mit dieser ersten Begegnung begann eine langjährige Verbindung Ma‘s zu Gopal Thakur und seiner Familie. Zum Andenken an ihren Besuch wurde Ma gebeten, Allahabad jedes Jahr etwa zur Zeit der Durga Puja für drei Tage zu besuchen. Viele Jahre lang erfüllte Ma Thakurs Bitte. Nach seinem Tod führte seine Tochter Kalyanididi die Tradition fort. Seine ganze Familie und seine Devotees standen Ma sehr nahe.