An dieser Stelle möchte ich noch eine kleine Geschichte erzählen, die verdeutlichen soll, wie wichtig der letzte Gedanke ist.
Es ist die Geschichte des Königs Bharata, eines großen Königs, Ahnherr der Kauravas und Pandavas, Namensgeber von Indien, welches von den Indern früher Bharata Varsha genannt wurde. Bharata führte ein sehr tugendhaftes Leben, ein erfülltes Leben, ein großartiges Leben, ein spirituelles Leben. Er war ein guter und gerechter König. Er einigte verschiedene Königreiche zu einem großen, blühenden Königreich, in dem niemand unter Armut litt. Am Ende seines Lebens wollte er sich von allem lösen und den letzten Schritt zur Selbstverwirklichung gehen. Er übergab das Königreich seinen Nachfolgern und zog sich in den Wald zurück. Dort meditierte er jeden Tag viele Stunden, übte Pranayama, las die Schriften, rezitierte Mantras. Eines Tages, als er am Ufer eines Flusses meditierte, wurde ein Rehkitz an ihm vorbeigetrieben. Es war kurz davor zu ertrinken. Bharata unterbrach sein Pranayama, sprang in den Fluss und rettete dieses Rehkitz. Da die Mutter nicht auffindbar war, zog Bharata selbst das Rehkitz auf. Während er früher intensiv meditiert hatte, schaute er jetzt immer während der Meditation, wie es dem Rehkitz ging, meditierte manchmal mit dem Rehkitz auf dem Schoß oder genoss, wie das Rehkitz sich bei ihm anschmiegte und ihn abschleckte. Wenn das Rehkitz mal ein paar Stunden verschwunden war, machte er sich Sorgen und hatte Angst, dass ein Tiger es reißen würde. So wurde seine Verhaftung an das Rehkitz immer stärker und seine Meditation immer flacher. Er hatte seinem ganzen Königreich entsagt, einschließlich Frau, Kindern, Macht. Mit viel Gebet und Meditation hatte er die Anhaftung an sie verloren. Er hatte sich auch keine Sorgen um seinen eigenen Körper wegen der Tiger und Löwen im Dschungel gemacht. Auch diese Identifikation hatte er überwunden. Doch an dieses Reh entwickelte er eine große Anhaftung.
Schließlich kam der Moment des Todes. Lange hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet. Er hatte gelernt, in der Meditation seinen Geist vom Außen abzuziehen, sein Prana (Lebensenergie) im Herzen zu zentrieren, seinen Geist zum Ajna oder Sahasrara Chakra zu richten, innerlich ein Mantra zu wiederholen und so im Bewusstsein der Unendlichkeit den Körper zu verlassen. Jetzt vergaß er, dies zu tun. Stattdessen dachte er: Oh, was wird mit meinem Reh passieren? Wer wird sich um mein Reh kümmern? Mit letzter Kraftanstrengung rief er, allerdings vergeblich, nach dem Reh.
Da Bharatas Geist so intensiv mit dem Gedanken an das Reh erfüllt war, inkarnierte er sich in seinem nächsten Leben als Reh. Da er allerdings ein großer Weiser gewesen war, behielt er die Erinnerung an sein früheres Leben. Er wusste, wer er eigentlich war und konnte das Bewusstsein der Einheit auch als Reh aufrechterhalten. Er hielt sich etwas abseits vom übrigen Rehrudel und wartete auf das Ende dieser Inkarnation. Für die nächste Inkarnation nahm er sich vor, dass ihm das nicht noch einmal passieren sollte. Er beschloss: „Ich werde mich an nichts und niemanden anhaften.“ Und er entschied sich, im nächsten Leben nicht zu sprechen.
Sukadev Bretz erzählt die Geschichte von Bharata und dem Rehkitz.
So reinkarnierte sich Bharata in seiner nächsten Inkarnation in einer armen Bauernfamilie. Er gab vor, geistig behindert zu sein. Er wuchs auf, wurde 5 Jahre, 10 Jahre und 15 Jahre alt, ohne jemals mit einem Menschen gesprochen zu haben. Alle nahmen an, dass er stumm war. Da er ohne Sprache kaum zu etwas zu gebrauchen war, nannten ihn seine Eltern „Jadabharata“, also nutzloser Bharata. Damit er doch zu etwas nützlich sei, geboten sie ihm, als Vogelscheuche auf die Felder zu gehen und die Vögel davon abzuhalten, die gesäten Körner zu fressen. Wenn Jadabharata allerdings auf dem Feld stand oder saß, schaute er den Himmel an, wurde sich der Unendlichkeit bewusst und fiel in Ekstase, in Samadhi. Jadabharata konnte keinem Wesen böse sein. Wenn ihn jemand beschimpfte, lächelte er zurück. Er war die Liebe selbst, aber im täglichen Leben eben zu nichts zu gebrauchen. Nun bekam er also die Aufgabe, die Vögel zu vertreiben. Die Eltern gaben ihm Kleidung in grellen Farben und Glöckchen und Schellen. Als Jadabharata die Vögel sah, spürte er ihren Hunger und verhielt sich ganz ruhig, damit die Vögel ihren Hunger mit den Körnern stillen konnten. Die Eltern hatten jetzt genug von ihm und verjagten ihn. So wurde Jadabharata zum bettelnden Landstreicher.
Eines Tages kam ein König die Straße entlang. Der König war auf dem Weg zu seinem Guru, um Einweihung zu bekommen. Da im alten Indien Könige nicht zu Fuß gingen, wurde der König in einer Sänfte getragen. Die Sänfte hatte vier Träger. Einer davon verstauchte sich einen Knöchel und die Sänfte musste abgesetzt werden. So kam die Frage auf, wie sie den König jetzt weiter tragen sollten. Der Hauptmann, der vor der Sänfte auf einem Pferd voran ritt, hielt Ausschau nach einem potenziellen Ersatz. Da sah er Jadabharata auf der Straße in die Richtung ihrer Sänfte entlang kommen. Der Hauptmann rief: „He du, komm mal her und trage die Sänfte für den König.“ Bharata sagte nichts und nickte einfach nur. So half er den anderen und der König wurde in seiner Sänfte wieder voran getragen. Als sie so entlang gingen, wurde die Sänfte plötzlich durchgeschüttelt und der König bekam eine Beule. Der König schimpfte und fragte den Hauptmann, was denn da los sei? Der Hauptmann antwortete: „Der neue Träger ist etwas ungeschickt!“ Folgendes hatte sich ereignet: Bharata hatte auf der Straße eine Ameisenstraße gesehen. Gerade als er seinen Fuß darauf setzen wollte, bemerkte er sie. Um keine Ameise zu töten, machte er einen Satz nach vorne, was dann die Ursache für die Beule war. Der König befahl Jadabharata, gefälligst besser aufzupassen. So gingen sie weiter. Als nächstes sah Jadabharata eine große Schnecke. Er sah sie wieder sehr spät. So musste er wieder springen. Die Sänfte wurde wieder durchgerüttelt und der König bekam wieder eine Beule. Der König schimpfte wieder und befahl Jadabharata, doch aufzupassen. Sie gingen weiter. Als nächstes sah Bharata im letzten Moment eine Kröte, die sich tot stellte. So machte er wieder einen Satz, stolperte, die Sänfte wurde durchgerüttelt, der König bekam seine dritte Beule. Wutentbrannt sprang der König aus seiner Sänfte, zog sein Schwert und rief: „Wie kannst du es wagen, mich so zu missachten? Weißt du nicht, dass ich Herr bin über Leben und Tod? Wage es nicht, noch einmal so etwas zu machen.“ Nun öffnete Bharata zum ersten Mal in seinem Leben den Mund und sagte: „Oh großer König, du denkst, du bist Herr über Leben und Tod. Du könntest kein einziges Lebewesen selbst erschaffen. Du gehst, um eine Einweihung zu empfangen und du kannst doch noch nicht einmal deinen eigenen Geist beherrschen. Du kannst vielleicht diesen Körper töten, aber das Selbst kannst du nicht töten.“ Plötzlich durchzuckte es den König, er zitterte am ganzen Körper und erkannte, wie dumm er sich benahm. Er befand sich auf dem Weg, um die Erleuchtung zu erlangen. Einer seiner Sänftenträger besaß sie offensichtlich bereits und er war gerade dabei, ihm den Kopf abzuschlagen. Und anschließend wollte er die Selbstverwirklichung erreichen! Der König fiel Jadabharata zu Füßen und bat ihn um Unterweisung. Und Bharata unterwies ihn in der Wissenschaft von Brahman, dem Absoluten, und zog anschließend seines Weges. Der König erzählte anschließend die Geschichte von Jadabharata, und so ist sie an uns überliefert worden.