13. Kapitel - Sivanandas Alltag

Während seiner Vortragsreise durch ganz Indien hörten Millionen Menschen in Indien und Sri Lanka Swami Sivanandas Aufruf: „Steh um 4 Uhr morgens auf und meditiere. Bramamuhurta ist die beste Zeit für die Meditation.“ Er selbst hielt sich unweigerlich an diesen Grundsatz. Normalerweise stand er um 3 Uhr auf. Die ersten Gebete sprach er noch im Bett, direkt nach dem Aufwachen. Nach der Morgentoilette, die nie länger als eine Viertelstunde in Anspruch nahm, folgte sofort eine längere Meditationsperiode. Er hielt sich dabei strikt an die notwendigen Vorübungen für die Meditation: ein paar Runden Bhastrika (energieerweckende Atemübung), ein paar Minuten Rezitation der Guru Stotras und anderer Hymnen.

Mit dem ersten Tageslicht kam er aus seinem Kutir. Er verneigte sich vor dem Ganges und dem Himalaya. Er stellte sich in den Ganges und sprenkelte das heilige Wasser über sich. Im Sommer blieb er danach ein paar Minuten in stiller Meditation am Ufer des Ganges sitzen. Mit den Surya Mantras (Sonnenmantras) begrüßte er die Sonne. Anschließend übte er in seinem Kutir eine halbe Stunde lang Asanas und Pranayama. „Wie auch immer der Zustand des Körpers sein mag, selbst wenn ich Hexenschuss, Rückenschmerzen, Husten, eine Erkältung oder Fieber habe, kann ich nicht ohne Asanas und Pranayama sein. Ich weiß nicht, wie du ohne Asanas und Pranayama zu praktizieren überhaupt leben kannst“, sagte er einmal zu einem jungen Aspiranten, der keine große Lust hatte auf körperliches Training. Allein für Pranayama nahm er sich über eine Stunde Zeit. Im Winter übte er ein paar Runden Bhastrika (erhitzende Atemübung), im Sommer Sitali (kühlende Atemübung). Vor dem Frühstück praktizierte er noch einmal etwa eine halbe Stunde Pranayama sowie nachmittags, wenn er aus dem Büro zurückkam, nochmals am Abend und die letzte Runde vor dem Schlafengehen. Insgesamt widmete er im Durchschnitt vier intensive Stunden seines voll gepackten Tages dieser wichtigen Praxis.

Die nächsten zwei Stunden des Morgens verbrachte er mit Schreiben. Die Gedanken aus seinem frischen Geist wurden unverzüglich in einem Notizbuch festgehalten. Aus diesen Notizen entstand die Literatur, die das Leben und das Schicksal von Millionen Aspiranten in der ganzen Welt formte.

Er ordnete alles Nötige so an, dass er ohne aufstehen zu müssen die Gedanken zu verschiedensten Themen aufschreiben konnte, die zu dieser kreativen Morgenstunde auftauchten. Bücher, die er eventuell zum Nachschlagen brauchte, lagen griffbereit neben dem Schreibtisch. Schnelle und intensive Arbeit, maximale Ergebnisse mit minimalem Aufwand an
Energie waren die Kennzeichen seiner Arbeit. Ein Dutzend Notizbücher, drei Kugel schreiber und zwei Brillen lagen immer bereit, so dass der Fluss der Gedanken nie unterbrochen wurde, selbst wenn die Tinte ausging oder die unwahrscheinliche Möglichkeit eintrat, dass seine Brille zerbrach. Manche Notizbücher waren mit besonderen Stichworten versehen, z.B. „spirituelle Lektionen“, „Medizinisches“, andere waren für allgemeine Aufzeichnungen vorgesehen.

Um 9 Uhr, nach fast drei Stunden Arbeit, gab es Frühstück, das aus einem Glas Milch und gelegentlich leichtem Gebäck bestand. Viele hatten daran teil. Die Fische im Ganges waren die Ersten, dann wurden die Affen noch vor Swamiji bedient. Wenn es Erfrischungen dazu gab, wurde der Teller zuerst an mehrere Ashramiten herumgereicht, bevor Swamiji davon nahm. Dann folgte ein Ortswechsel zur Fortsetzung der Arbeit. Mit mehreren Taschen voller Schriftverkehr und Aufzeichnungen ging er zu den Büros in der Diamond Jubilee Hall. Dringende Briefe, normale Post, Artikel und Zeitschriften waren in einem Beutel. In anderen Taschen befanden sich Süßigkeiten und getrocknete Früchte zum Verteilen an Kinder, Besucher und Aspiranten, die er eventuell unterwegs traf.

Bei jedem Ashrambewohner, den er unterwegs traf, holte er aus dem entsprechenden „Postfach seines Geistes“ die jeweiligen Aufgaben, die er für ihn hatte, hervor. Der Mitarbeiter bekam erst Prasad und dann die entsprechenden Anweisungen. Briefe und Artikel wurden an verschiedenen „Haltestellen“ unterwegs verteilt. Auf dem Weg von seinem Kutir zum Büro wiederholte Swami Sivananda „Om Namo Narayanaya“ oder „Tat Twam Asi“ oder andere Mantras mindestens 108 Mal und grüßte jeden mit gefalteten Händen. Grüßen, Höflichkeit, Achtung, Freundlichkeit und Japa wurden in dieser mustergültigen Praxis miteinander verbunden.

In der Poststelle erkundigte er sich, ob bestimmte Pakete oder Briefe abgeschickt worden waren. In der Buchhaltung gab er dem Kassenverantwortlichen die täglichen Anweisungen. Der Küchenchef wusste, dass Swamiji sich als Erstes danach erkundigen würde, ob Besucher und Kranke versorgt waren. Obwohl er mehr arbeitete als jeder andere Mensch auf der Erde, kümmerte er sich bis ins Detail um alle Aufgaben, die Hunderte selbstloser Mitarbeiter voll beschäftigten. Der Küchenchef wunderte sich oft darüber, wie Swamiji seinen Finger immer gerade auf die Stelle legte, an der ein Fehler passiert war. Auch beim Arzt im Sivananda-Krankenhaus erkundigte er sich nach dem Stand der Dinge und gab Anweisungen.

Swamijis Ankunft im Büro war das Startsignal für das gemeinsame Morgengebet. Alle Sadhakas, die im Büro arbeiteten und die anwesenden Besucher schlossen sich dem gemeinsamen Gebet an. Den Kirtans folgte das von Swami Sivananda geschriebene Universelle Gebet.

Die Notizen vom frühen Morgen wurden zum Schreiben gegeben. Swamiji erledigte nun die Korrespondenz. Ein Regal mit Flugblättern und zwei Schalen mit Prasad standen bereit. Jedem Brief wurde ein Flugblatt mit spirituellen Anweisungen und Prasad beigelegt, selbst wenn es ein rein „dienstlicher“ Brief war. Spirituelle Tagebücher von Aspiranten erfreuten Swamijis Herz. Er studierte sie genau und gab weitere Anleitungen. Genauso verfuhr er auch mit den Formblättern der „Jährlichen Vorsätze“ der Aspiranten. Die Tagebücher und die „Jährlichen Vorsätze“ waren seine machtvollen Instrumente, um die Aspiranten ständig auf das Ziel des Lebens hinzuweisen. Ein außergewöhnlich gutes Tagebuch rief sofort höchste Bewunderung in ihm hervor und er gab es weiter zur Veröffentlichung im Divine Life Magazine, zusammen mit seinen Kommentaren und zum Nutzen für andere in der ganzen Welt.

Dann brachte zum Beispiel der Buchhalter Einnahmen- und Ausgabenrechnung des Ashrams zur Durchsicht, der Leiter der Druckerei brauchte Geld für Papier oder eine neue Maschine oder ein älterer Swami, der die Bauarbeiten leitete, kam voller Freude, um ihn zur Einweihung eines neuen Gebäudes einzuladen. Der Kassierer stand mit einem Bündel Schecks und Postanweisungen in der Ecke und wartete auf eine Gelegenheit, Swamiji um seine Unterschrift zu bitten. Jeden Tag berichtete der leitende Swami der Yoga Vedanta Forest Akademie Press über die laufenden Arbeiten in der Druckerei. Artikel zur Veröffentlichung in Zeitungen und Journalen in der ganzen Welt, Segenswünsche und spirituelle Anweisungen zu allen möglichen Anlässen, sowohl von Einzelpersonen, wie auch Institutionen geistlicher und weltlicher Natur wurden von Swamiji unterzeichnet.

Einmal im Monat wurden die Berichte der Divine Life-Zweigstellen durchgesehen, Zertifikate für neu gegründete Niederlassungen ausgestellt und Hinweise und Richtlinien für die weitere Entwicklung der Zweigstellen gegeben. Dazwischen forderte er oft jemanden auf, etwas zu singen oder einen Professor einer Universität, der gerade da war, einen kurzen Vortrag zu geben. Wie auf einem geschäftigen Markt waren ständig Menschen mit Papieren unterwegs, Schreibmaschinen ratterten pausenlos und bereiteten Artikel für Zeitschriften vor und junge, energiegeladene Brahmacharis verteilten Tee, Milch, Kekse und Früchte. Gleichzeitig kämpften Hunde und Affen vor dem Eingang und machten einen gewaltigen Lärm.

Die 'Wer-Was-Wo-Registratur'Nachdem er verschiedenen Bereichen kurze Anweisungen gegeben hatte, wandte sich Swami Sivananda der wichtigen Arbeit des Tages zu. Eine
umfangreiche „Wer-Was-Wo- Registratur“ wurde auf den Tisch gestellt. Sie war über Nacht verschlossen aufbewahrt worden. Das war Swamijis Schatz. Dieses 10 Pfund schwere Buch enthielt die Namen und
Adressen aller, die mit ihm in Verbindung standen: Aspiranten, Schüler, Spender, Beamte, Europäer, Amerikaner, Verleger, Redakteure, Zeitungen, Minister, Yogis, Philosophen, Klöster und Ashrams, „SchülerÄhnliche“, „Erstrangige Geizhälse“. Eine neue Adresse fand sofort ihren Weg in dieses große Buch. Diese Datei ermöglichte es Swami Sivananda, Menschen in der ganzen Welt zu kontaktieren und ihnen wirkungsvoll zu dienen. Er war äußerst genau in der Führung dieser Datei, denn sie leistete ihm hervorragende Dienste.

Als nächstes brachte der verantwortliche Swami des „kostenlosen Verteil-Bereichs“ Swami Sivananda einen Stapel von an die Hundert verschiedenen Büchern zum Verschicken. Aus der Wer-Was-Wo-Datei und auch dem abteilungseigenen Adressverzeichnis für kostenlose Sendungen wurden geeignete Adressen herausgesucht. Swamiji signierte die Bücher und schrieb eigenhändig den Namen des Empfängers mit seinen Segenswünschen hinzu. Das dauerte etwa eine Stunde. Dann überprüfte er persönlich die Adressen auf den Paketen, die herausgehen sollten. Der Swami der „kostenlosen Verteil-Abteilung“ hielt das Paket hoch, so dass Swamiji die Adresse lesen konnte. Swamiji sagte: „Om tat sat“ – als Zeichen, dass diese Adresse in Ordnung war. So viele „Om tat sat“− Mantras wurden wiederholt, wie Pakete dort waren. Es gab nicht eine einzige prosaische Alltagstätigkeit, die nicht mit diesem wunderbaren Element der spirituellen Praxis veredelt worden wäre.

Die Büromitarbeiter saßen sich in zwei Reihen gegenüber und Swami Sivananda saß am Ende dieser beiden Reihen in einem großen Sessel. Ab und zu lehnte er sich einen Moment entspannt zurück, schob seine Brille nach oben und schaute einfach nur... Etwas in seinem Blick übte einen unwiderstehlichen Zauber aus. Es war ganz leicht, Zugang zu ihm zu bekommen. Er sorgte dafür, dass er für alle verfügbar war. Das Büro stand offen und jeder konnte hereinkommen. Kinder kamen sogar herein gerannt und fragten: „Swamiji, wie spät ist es?“ und er antwortete ihnen.

Ein paar Besucher waren immer da. Sowie ein Besucher hereinkam, schaltete sich Swamijis „Gastfreundschaftsautomat“ an. Wenn der Besucher Früchte oder andere Gaben mitgebracht hatte, wurden sie erst einmal unter den Anwesenden verteilt. Wenn der Besucher diese übliche Geste, etwas mitzubringen, übersehen hatte, erhielt er statt dessen Swamijis Prasad in Form von Tee, Milch oder Obst.

Swami Sivananda hörte zwar den Ausführungen des Besuchers zu dessen spiritueller Praxis und seinen Problemen geduldig zu, gestattete ihm aber nicht Zeit zu verschwenden, weder die eigene, noch die Swamijis. Er antwortete bereitwillig oder schwieg als beste Antwort dort, wo es die eitlen oder akademischen Argumentationen des Fragestellers erforderten. Manch einer wurde in ein Mantra eingeweiht, ein anderer bekam ein Rezept zur Heilung einer Krankheit, ein Dritter wurde in Bhakti- oder Karma-Yoga eingewiesen, ein Vierter erhielt eine Erklärung zu einem schwierigen Punkt im Sadhana und noch ein anderer hatte die Gelegenheit, seine familiären Sorgen zu beseitigen und sonstige Beschwerden über die Welt zu erörtern. Die Ashrammitarbeiter bekamen nebenbei eine Dosis „spirituelle Mischung“ verabreicht.

Wenn der Besucher ernsthaft strebte, war Swamiji ganz Ohr. Gerade wenn jemand arm und ungebildet war, nahm er sich oft mehr als eine Stunde Zeit für ein Gespräch. Eitlen „Schwätzern“ und Pseudogelehrten hingegen gelang es nicht einmal, seine Aufmerksamkeit von dem Brief auf dem Tisch vor ihm wegzuziehen oder auch nur einen Hinweis darüber zu erhalten, dass er gehört hatte, was sie gesagt hatten.

Um die Mittagszeit, nachdem er sich vergewissert hatte, dass man sich um alle Besucher gekümmert hatte, alle ihre Mahlzeiten bekommen hatten und durch den Ashram geführt worden waren, kehrte er zu seinem Kutir zurück. Es folgten ein paar Minuten stille Entspannung, mehr um seinen Geist vom Büro, dem Ashram, der Welt und von allem anderem freizumachen, als tatsächlich zum Ausruhen – etwas, was er regelmäßig mehrmals am Tag machte.

SivanandaIm Sommer nahm Swamiji sein Bad morgens vor dem Frühstück, im Winter vor dem Mittag essen. Zuerst verehrte er den Ganges mit Milch und Blumen. Dann ging er Gebete rezitierend ins Wasser. Er tauchte ein paar Mal unter und verrichtete dann Rituale für verschiedene Devas (Aspekte des Göttlichen), verstorbene Seelen usw. Er wiederholte die Mahavakyas (4 vedantische Formeln) und das Paramahamsa Mantra. Dann tauchte er noch ein paar Mal unter – symbolisch für alle, die sich nach einem Bad im Ganges sehnen, dieses Privileg aber nicht haben. (Ein Bad im Ganges gilt als heilig und reinigend. Viele pilgern aus anderen Gegenden Indiens und oft unter großen Entbehrungen zum Ganges, um wenigstens einmal im Leben im Ganges zu baden. Anmerkung des Herausgebers.) Dann folgte in seinem Raum das Verehrungsritual an seinem kleinen Altar.

Im Winter aß er ungefähr um 14 Uhr zu Mittag, im Sommer um 12 Uhr, lange nachdem alle Ashrambewohner und Besucher ihre Mahlzeit beendet hatten. Bevor er etwas zu sich nahm, mussten alle anderen ihren Anteil haben. Bevor er mit dem Essen begann, rezitierte er einige ausgewählte Slokas (Verse) aus der Bhagavad Gita. Den ersten Teil des Nachmittags verbrachte er größtenteils mit dem Studium der Schriften. Im Sommer, wenn es unerträglich heiß war, ruhte er eine Stunde.

Die Arbeit begann wieder um 15.30 Uhr. Dringende Briefe wurden erledigt. Er trank ein Glas Milch und nahm am Unterricht in der Yoga Vedanta Forest Academy Klasse teil. Diese fand im Sommer morgens statt. Die aktuelle Tagespost wurde ihm hingelegt. Schnell sah er sie durch, sortierte sie und verstaute sie in seinen verschiedenen Taschen. Ein Teil wurde gleich im Büro an die zuständigen Bereiche verteilt, den Rest nahm er mit in seinen Kutir.

Swamiji war sehr gewissenhaft beim Empfang und der Behandelung von Gästen. Wenn er sich um 17 Uhr mit jemandem treffen sollte, war er bereits Viertel vor Fünf in der Empfangshalle. Sein Grundsatz war, dass man einen Gast niemals warten lassen sollte. Meist kamen nachmittags mehr Besucher als am Morgen. Manchmal führte Swamiji die Gäste selbst im Ashram herum. Er begann mit den verschiedenen Bereichen im Büro, dann zeigte er den Besuchern das Krankenhaus, die ayurvedische Apotheke, das Postamt, die Küche, weiter oben am Berg das Studio (wo ihnen oft Yoga-Filme gezeigt wurden), das Yoga-Museum (wo einer der Dozenten der Akademie den Aufbau des Museums erläuterte), die Meditationshöhle (guha), die Bhajan-Halle, den Tempel, die Druckerei, die Grundschule, die Bibliothek usw. Wenn die Besucher nicht viel Zeit hatten, dauerte das gut eine Stunde und diente dazu, den Appetit anzuregen, so dass jeder Besucher mit dem Vorsatz abreiste, demnächst mehrere Tage im Ashram zu verbringen. Gegen Abend ging Swamiji in seinen Kutir zurück.

Manchmal begann Swamiji zu singen und zu tanzen.Ein zufälliger Besucher, der vielleicht gerade am Ufer des Ganges saß, mag dann amüsiert Zeuge von Swami Sivanandas Lauf auf der Veranda seines Kutirs geworden sein. Er schritt zuerst auf der Veranda hin und her und sang dabei Om. (Wenn man näher herankam, sah man, dass der Blick seiner Augen weit in die Ferne gerichtet war und mit einer „nicht wahrnehmenden“ Leere über die weltliche Umgebung glitt, einer Leere, die sich weigerte, irgendeine Art objektiver Existenz zu erkennen.) Dann rannte er über die Veranda − seine abendliche Übung.

Im Sommer verbrachte er die Abendstunde in stiller Beschaulichkeit am Ufer des Ganges, im Winter in seinem Kutir. Wenn die Lichter im Ashram angingen, begrüßte er sie mit einem Vers aus der Bhagavad Gita. Das war seine Lieblingsmethode, allen äußeren Erscheinungen einen göttlichen Zug zu verleihen. Nach einem Glas Milch und einem Stück Brot war er bereit zu gehen und am Abendsatsang teilzunehmen. Der Satsang bestand aus dem Studium der Bhagavad Gita, Rezitation aus dem Ramayana, Singen von Kirtans und Bhajans und gelegentlichen Vorträgen. Der Höhepunkt waren stets Swamijis eigene Lieder.


Manchmal nahm er an der Aufführung eines Schauspiels im Rahmen des Satsangs teil und einmal, am Diamantenen Jubiläum (seinem 60. Geburtstag), spielte er zur Freude und zum Vergnügen aller die Rolle eines Götterboten. Einmal erzählte er die Geschichte des Heiligen Nandanar und sang mit einem Kartal (einer Art Zimbel) mehrere Kirtans, die in den zwanziger und dreißiger Jahren sehr populär waren. Die Zuhörer waren verzaubert.

Hervorragende Musiker aus ganz Indien kamen ihn besuchen, besonders bei Festlichkeiten und großen Zeremonien. Sie erfreuten alle mit ihren Darbietungen. Hier ein Auszug aus dem Bericht eines Besuchers über einen typischen Satsang:

Mittwoch, 23.Mai 1962. Die Sonne war unter-, der Mond noch nicht aufgegangen. Sivananda, der einfachste aller Menschen, kam aus seinem Kutir, um zum Abendsatsang zu gehen. Ein liebevolles Lächeln erhellte sein kindähnliches Gesicht. Eine große Gruppe von Anhängern wartete am Straßenrand auf ihn und begrüßte ihn mit gefalteten Händen. Sie sahen Gott in ihrem Guru. Der Guru seinerseits sah Gott in ihnen. Die Atmosphäre war voller Hingabe.

Auf der offenen Terrasse der Diamond Jubilee Hall des Sivananda Ashrams war das Kirtansingen mit instrumentaler Begleitung voll im Gange. Alles war hell erleuchtet. Besucher, Ashrambewohner und Anwohner füllten den Platz – Männer auf der einen, Frauen auf der anderen Seite. Sterne strahlten am Himmel. Lautlos und unmerklich strömten die ruhigen Wasser des Ganges im Rishikeshtal. Der Fluss glich einem See. Im Hintergrund erhoben sich die hohen majestätischen Himalayas dunkel in der Nacht.

Swami Sivananda, der Glanz von Ananda Kutir, der Muni(Weise) von Muni-ki-Reti (Name des Talabschnittes in dem der Ashram liegt) betrat sanften Schrittes den Satsangplatz und begrüßte die Anhänger, als er an ihnen vorbei kam. Ein Wort hier, ein Lächeln dort, eine Segnung da machte viele Seelen in Sekundenschnelle glücklich.

Swamiji setzte sich auf einen Lehnstuhl in einer Ecke, von wo aus er das ganze Publikum im Blick hatte. Und alle Anwesenden konnten auch ihn sehen. Diagonal ihm gegenüber befand sich ein geschmückter Altar mit einem Krishna-Bildnis.

Ein Ashrammönch begann die Sri Suktam (Mantras aus dem Rig Veda) zu rezitieren. Anhänger kamen, opferten Banknoten zu Swamijis Füßen und gingen
wieder an ihre Plätze zurück. Geld floss wie Wasser. Nach der Sri Suktam-Rezitation rief Swami Sivananda Subha Roa, einen blinden Bhagavad Gita-Gelehrten, zu einem Vortrag auf. Daraufhin folgte eine interessante Interpretation einiger Gita Slokas.

Dann bat Swamiji Pal, einen Radio-Sänger, zu singen. Pal begann mit seiner höchst melodiösen Stimme einen Tulsidas Bhajan (Tulsidas = Verfasser einer tamilischen Version des Ramayana-Epos; tamilischer Dichter) zu singen. Während er weiter sang, kam ein Besucher zu Swamiji und bat schüchtern, seine Füße berühren zu dürfen.

Ein Ausländer kam. „Om Namo Narayanaya“, grüßte Swamiji. „Woher kommst du?“ „Aus Wien“, erwiderte er. „Mein Name ist Georg. Ich habe dir drei Briefe geschrieben.“ Swamiji bat, dem Besucher Bücher und Zeitschriften zu geben und dankte für seinen Besuch.

Pal beendete seinen Gesang. Dann folgten Kirtans (kürzere Mantra-Gesänge), Arati (Lichtzeremonie) und die Verteilung von Prasad (geweihte Speise). Viele drängten sich nun um Swami Sivananda, um das Prasad direkt von ihm zu bekommen, darunter auch ein Philosophieprofessor. Swamiji fragte ihn, ob es nicht auch im Westen Philosophen wie Shankara gab. „Es gab einen namens Eckehard, nicht wahr?“, fragte Swamiji und fügte hinzu: „Ich glaube, es gibt einige heilige christliche Philosophen.“

Ein Besucher kam auf ihn zu und erzählte, er habe schon einmal Swamijis Segen bekommen, bevor er bei Ausbruch des Koreakrieges ins Ausland gegangen war und er sei glücklich, Swamiji wiederzusehen. „Bist du auch Philosophiestudent?“ fragte Swamiji. „Nein, Ingenieur.“ „Was, alle Sorten von Ingenieur, Maschinenbau-Ingenieur, Chemiker oder atmischer (Atma = das höhere Selbst) Ingenieur?“, sagte er mit einem Lächeln. „Es hat mehr mit Maschinen zu tun.“ „Dringend notwendig heutzutage. Das elektrische Licht ist gerade wieder ausgefallen“, sagte Swamiji, mit Bezug auf die häufigen Stromausfälle zu Beginn des Satsangs.

Ein Brief wurde ihm übergeben. Er war von einem Mitarbeiter, der vom Ashramleiter die Kündigung erhalten hatte. Der Brief war ein Appell: „Du bist meine Zuflucht. Wohin soll ich gehen?“ Swami Sivananda, gewöhnlich sehr rücksichtsvoll, wies die Bitte mit der ätzenden Bemerkung: „ein Faulpelz“ zurück. (Er hegte keine Sympathie für Müßiggänger. Müßiggang sah er als eine Sünde an.)

Als nächstes näherte sich ihm ein Sanskrit-Professor aus Gwalior. Er erzählte, wie er als Student Swami Sivanandas Buch über Brachmacharya gelesen hatte und viel Nutzen daraus gezogen hatte. Dann verwies er auf Swamijis Neuerscheinung „Conquest of Mind“. Swami Sivananda gab dem Professor ein Exemplar, weil dieser bemerkte, es würde ihm bei der Betreuung eines Studenten und dessen Doktorarbeit sehr helfen. Dann fragte Swamiji: „Bist Du mein Professor oder mein Student?“ „Du bist mein Professor, ich bin dein Student“ war die Antwort.

Als er langsam durch die Menge schritt, deklamierte ein Besucher aus einer tamilischen Schrift einige Zeilen mit folgender Bedeutung: „Oh Herr, schenke mir den Zustand, wo der Geist schmilzt, wo Handlungen aufhören .... in dem alles still ist.“ „Ja sei still, sei ruhig“, sagte Swamiji, „aber lasse die Hände arbeiten. Gib die Gedanken zu Gott und die Hände der Arbeit. Ruhig im Inneren, aktiv nach außen.“

Langsam ging Swamiji den Weg zurück zu seinem Kutir. Dabei wiederholte er leise Mantras, um, wie er selbst sagte, die in nutzlosen Gesprächen verbrachte Zeit auszugleichen.

SivanandaAm Eingang zu seinem Kutir ver abschiedete er sich mit gefalteten Händen und kurzen Gebeten aus ver schiedenen Religionen von den Anhängern. Noch während er ging, konnte man schon an seinem Gesichtsausdruck sehen, dass sein Geist jetzt ganz zurückgezogen war, weg von den Anhängern, weg von den Liedern und Vor trägen, weg von Puja und Prasad, allein mit dem Unendlichen.