Matri Darshan - Eine Einführung - Teil I


Eine Biographie von Shri Shri Anandamayi Ma zu schreiben oder die Aufmerksamkeit der Welt auf Ihre unbeschreibliche Größe zu lenken, ist nicht die Absicht meines hier vorgelegten schwachen Versuches. In diesem kurzen Bericht habe ich nur einige Ereignisse aus meiner eigenen Erfahrung aufgeschrieben, um zu zeigen, wie Sie eine Quelle des Lebens in meiner fast ausgedörrten Seele erweckte. Alle Mängel dieses Buches sind durch meine eigene persönliche Begrenztheit bedingt, für welche ich Ma zutiefst um Vergebung bitte.
      Ich verlor meine Mutter, als ich noch ein kleiner Junge war. Meine Verwandten erzählten, wie meine Augen sich immer mit Tränen füllten, wenn ich hörte, wie kleine Kinder Ma, Ma nach ihren Müttern riefen, und dass ich mir mein Herz erleichterte, indem ich mich zu Boden warf und leise weinte.
      Mein Vater war ein frommer Mann. Die tiefe religiöse Haltung in seinem Leben rief von Kindheit an den Wunsch in mir hervor, nach Gott zu streben.
      1908 wurde ich von dem Guru unserer Familie in ein Shakti Mantra[01] initiiert und wurde somit dazu berufen, die Göttliche Mutter zu verehren. Wenn ich während meiner Gebete die ganze Hingabe meines Herzens in die Worte Ma, Ma ergießen konnte, fühlte ich große Erleichterung und Glück. Doch selbst damals konnte ich es noch nicht fassen, dass MUTTER die Quelle aller höchsten Freude und des Glücks für alle Lebewesen ist.
      Ich verspürte den überwältigenden Wunsch, so eine lebende Mutter zu finden, die durch Ihre liebevollen Blicke meine verwirrte, leidgeprüfte Seele wandeln könnte. Ich suchte viele Heilige auf und war in der Tat so verzweifelt, dass ich sogar Astrologen nach einer Antwort auf meine Sehnsucht befragte: „Werde ich das Glück haben, eine solche Mutter zu finden?“ Alle hielten die Aussichten für sehr  vielversprechend. Ich besuchte viele Pilgerorte in dieser Hoffnung und hatte Gelegenheit, zahlreiche spirituelle Persönlichkeiten zu treffen, doch niemand konnte meine Sehnsucht befriedigen.

Ich arbeitete in einem Regierungsbüro in Kalkutta. Dieses wurde 1918 nach Dhaka verlegt, so dass ich dorthin versetzt wurde. Gegen Ende 1924 hörte ich über Mataji, dass Sie seit einigen Monaten in Shahbag nahe der Stadt lebe, schon seit langer Zeit schweige und immer in irgendeiner Yogahaltung sitze. Zu seltenen Gelegenheiten würde Sie einen Kreis auf dem Boden um Ihren Sitz zeichnen und sehr kurz einige Worte mit den Leuten wechseln, nachdem Sie zuvor einige Mantras oder heilige Texte rezitiert hatte.
      Eines Morgens ging ich demütig und voll heiliger Erwartung nach Shahbag und hatte das Glück, Mataji durch die freundliche Vermittlung Ihres Mannes, den die Leute „Pitaji“ oder „Vater“ nannten, zu sehen. Ihre erhabene Yogahaltung, gepaart mit der Zurückhaltung und Anmut eines soeben vermählten, jungen Mädchens, ließ mein Herz zutiefst erbeben. Blitzartig wurde mir klar, dass hier die Person vor mir saß, die all jene Jahre lang das Ziel meiner Sehnsucht gewesen war und die ich an so vielen heiligen Orten gesucht hatte.
      Mein ganzes Sein war von Freude überströmt, und jede Faser meines Körpers vibrierte in Ekstase. Ich wollte mich Ihr zu Füßen werfen und unter Tränen ausrufen: „Mutter, warum hast Du mich so lange, lange Jahre von Dir ferngehalten?“

Nach einigen Minuten fragte ich Sie: „Habe ich irgendeine Chance für spirituellen Fortschritt?“ Sie antwortete: „Noch ist dein Verlangen nach dem Spirituellen nicht stark genug.“ Ich war mit einer Fülle von Gedanken gekommen, die ich Ihr sagen wollte, doch alle verstummten unter dem Zauber Ihrer besänftigenden Güte. Ich saß sprachlos und stumm da. Ma sprach ebenfalls kein Wort. Nach einer kleinen Weile verneigte ich mich vor Ihr und ging fort. Obwohl ich mich sehr danach sehnte, konnte ich nicht Ihre Füße berühren. Es war nicht aus Scheu oder Taktgefühl - irgendeine geheimnisvolle Kraft drängte mich einfach aus Ihrer Gegenwart hinweg.
      Danach ging ich lange Zeit nicht mehr nach Shahbag. Ich dachte: „Wie kann ich mich zu Ihren Füßen hinge ben, solange Sie mich nicht an sich zieht wie meine eigene Mutter und Ihren Schleier hebt?“ Ich befand mich in einem starken inneren Konflikt: Einerseits sehnte ich mich heftig danach, Sie zu sehen, auf der anderen Seite verletzte mich Ihre Zurückhaltung und Ihr unbeteiligtes Wesen. Beide Gefühle waren gleich stark und bekämpften einander, so dass es mir unmöglich erschien, mich Ihr auf irgendeine Weise zu nähern. Inzwischen hatte ich angefangen, einen benachbarten Sikh-Tempel aufzusuchen, von dessen Gartenmauer aus ich Ma unbemerkt von weitem sehen konnte. Während dieser Zeit der Unschlüssigkeit pflegte ich die Vorgänge in meinem Innern zu analysieren und mich selbst oft zu fragen: „Wie soll all das nur weitergehen?“
      Aber ich hatte nicht die Kraft zu einer Entscheidung. Oft erhielt ich alle möglichen Neuigkeiten über Ma und lauschte aufmerksam jeder Erzählung über Ihr Lila . So vergingen sieben Monate im geschäftigen Treiben und Auf und Ab des alltäglichen Lebens. Eines Tages brachte ich Ma zu mir nach Hause. Eine überströmende Freude erfüllte mein ganzes Wesen, als ich nach so langer Zeit mit Ihr zusammenkam. Aber mein Glück war von kurzer Dauer. Als ich mich beim Abschied verneigte, um Ihre Füße zu berühren, wich Sie zurück. Ein heftiger Schmerz durchbohrte mein Inneres.

Ich versuchte schließlich, die Qualen meines Herzens zu beschwichtigen, indem ich verschiedene religiöse Bücher las. Ich beschloss, ein kleines Buch über Religion und religiöse Übungen herauszugeben. Das Buch wurde geschrieben und veröffentlicht unter dem Titel „Sadhana“, und durch Sj. Bhupendra Narayan Das Gupta übersandte ich Ma ein Exemplar davon. Ma sagte nur zu ihm: „Lass den Autor zu mir kommen.“
      Auf diese Aufforderung hin ging ich eines Morgens nach Shahbag. Ich erfuhr, dass Ma Ihr dreijähriges Schweigegelübde beendet hatte. Sie kam und setzte sich neben mich. Ich las Ihr das ganze Buch vor und danach meinte Sie: „Obwohl meine Stimmbänder nach drei Jahren des Schweigens noch nicht richtig arbeiten, wollen heute von selbst Worte aus meinem Mund kommen. Dein Buch ist recht gut. Versuche, noch mehr Reinheit im Denken und Handeln zu entwickeln.“ Auch Pitaji war bei diesem Gespräch mit Ihr zugegen. Ich begann zu fühlen, dass sich eine neue Welt vor mir öffnete und ich wie ein kleines Kind vor meinen eigenen Eltern saß.
      Von da an begann ich häufig nach Shahbag zu gehen. Einmal bat ich meine Frau, Ma mit einigen Geschenken zu besuchen. Damals pflegte Ma einen goldenen Nasenring zu tragen. Meine Frau nahm einen großen Silberteller, etwas Dickmilch, Blumen, Sandelpaste und einen Diamant Diamant-Nasenring für Ma mit und brachte alle Gaben mit großer Freude zu Ihren Füßen dar. Später stellte sich heraus, dass Ma Ihr Essen zu jener Zeit auf nacktem Boden einzunehmen pflegte und keinerlei Teller benutzte. Pitaji hatte einmal sehr mißbilligend zu Ihr gesagt: „Du nimmst Dein Essen nicht von Kupfer- oder Messingtellern, willst Du es etwa auf einem Silberteller serviert bekommen?“ Ma lachte und sagte: „Ja, aber sag die nächsten drei Monate niemandem etwas davon, und versuche bitte auch nicht, selbst Silberteller zu beschaffen.“ Bevor die drei Monate vergangen waren, wurde Ihr der Silberteller in der oben beschriebenen Weise gegeben.
      Eines Tages sagte Ma zu mir: „Denk daran, dass du wirklich ein Brahmane bist, und dass eine sehr feine, enge, spirituelle Verbindung zwischen diesem Körper[02] und dir besteht.“ Von diesem Tag an versuchte ich, meinen Körper in jeder Hinsicht rein zu halten.

Ich hörte von verschiedenen Seiten, dass viele von Ma‘s Devotees das Glück hatten, verschiedene Erscheinungen von Göttern und Göttinnen in Ihrem Körper offenbart zu sehen. Aber da ich mit meinen eigenen Augen so große, übernatürliche Kräfte in Ihrem alltäglichen Leben wirken sah, verlangte mich nicht nach einer besonderen Offenbarung. Mein bescheidenes Streben ging dahin, mein Leben nach den Idealen der Geduld und des inneren Friedens auszurichten, welche Sie ständig verkörperte; das würde mehr als genug für mich sein.
      Unser natürlicher Wunsch jedoch, auch einen materiellen Beweis göttlicher Macht im menschlichen Leben zu sehen, drängte mich eines Tages, als ich Sie alleine traf, zu fragen: „Ma, bitte sag mir, wer bist Du in Wirklichkeit?“ Sie lachte laut und sagte voller Zuneigung: „Wie kann so eine kindische Frage in deinem Herzen aufkommen? Visionen von Göttern und Göttinnen erscheinen aufgrund der jeweiligen Samskaras[03]. Ich bin, was ich war und sein werde.
      Ich bin, was immer du glaubst, denkst oder sagst. Doch steht ganz fest, dass dieser Körper nicht geboren wurde, um die Früchte vergangenen Karmas[04] zu ernten.
      Warum fasst du es nicht so auf, dass dieser Körper die materielle Verkörperung all eures Sehnens und all eurer Vorstellungen ist? Ihr habt ihn alle gewünscht, und nun habt ihr ihn. So spielt einige Zeit mit dieser Puppe. Weitere Fragen werden vergeblich sein.“ Ich sagte: „Diese Worte von Dir erfüllen meine Sehnsucht nicht, Ma.“ Da entgegnete Sie etwas heftig: „Sag doch, was wünscht du mehr?“ Und augenblicklich ging eine blendende Flut himmlischen Lichts von Ihrem Antlitz aus. Ich war sprachlos vor Ehrfurcht und Erstaunen. All meine Zweifel waren beseitigt.
      Etwa 15 Tage später ging ich eines Morgens nach Shahbag und fand die Tür zu Ma‘s Schlafraum geschlossen. Ich setzte mich in etwa 20 Meter Entfernung davor.
      Plötzlich öffnete sich die Tür. Zu meiner Verwirrung erblickte ich die Erscheinung einer Göttin von himmlischer Schönheit, deren strahlendes Licht der aufgehenden Sonne glich und den ganzen Raum innen erleuchtete. Im nächsten Augenblick jedoch zog Sie allen Glanz wieder in Ihren Körper zurück - und Ma stand da und lächelte wie sonst.

Die ganze Vision hatte sich binnen einer Sekunde abgespielt, als sei alles ein Spiel überirdischer Magie. Es kam mir vor, als sei ich aus einem Traum erwacht. Mir wurde sofort klar, dass diese Offenbarung Ma‘s eine Antwort auf das darstellte, was ich einige Tage zuvor geäußert hatte. Ich rezitierte eine Hymne und betete zu Ihr: „Lass mich ein würdiger Sohn von Dir sein, der es verdient, mit all Deiner mütterlichen Gnade und Fürsorge gesegnet zu werden.“
      Nach einer kleinen Weile kam Ma zu mir. Sie pflückte eine Blume und einige Halme Darbha-Gras[05]und legte sie auf mein Haupt, als ich Ihr zu Füßen fiel. Ich war außer mir vor Freude! Der Tag, der vergangen ist, kehrt niemals zurück. Wie sehr wünsche ich mir die glückliche Wiederkehr dieses gesegneten Augenblicks!
      Von jener Zeit an gelangte ich allmählich zur festen Überzeugung, dass Sie nicht nur meine Mutter, sondern die Mutter des ganzen Universums war. Ich kehrte nach Hause zurück. Kaum hatte ich mich wieder gefaßt, erschien erneut dieselbe leuchtende Gestalt von Ma in meinem Geist, und Tränen liefen über mein Gesicht.
      Von jenem Tag an bewirkte Ihre Gnade auf ganz natürliche Weise eine solche Veränderung in mir, dass Ihre Gestalt den Platz der Göttin einnahm, die ich al die achtzehn Jahre seit meiner Initiation in früher Jugend verehrt hatte. Dieser Wandel ließ manches Mal Zweifel in mir aufkommen, ob ich wohl den richtigen Weg eingeschlagen hatte oder nicht. Doch in nur wenigen Tagen nahm Ma Ihren rechtmäßigen Platz in meinem Herzen ein und erfüllte ihn ganz und gar.