Die Macht der Keuschheit

Es war einmal ein hervorragender Brahmane (Mitglied des Priesterund Gelehrtenstandes), der unter dem Namen Kaushika bekannt war und die Veden (die ältesten religiösen Schriften Indiens) studierte. Er besaß Hingabe in Hülle und Fülle. Er verhielt sich immer tugendhaft. Eines Tages saß Kaushika am Fuße eines Baumes und rezitierten die Veden. Ein Kranich, der über ihm auf dem Baum saß, ließ einige Exkremente auf den Körper des Brahmanen fallen. Der Brahmane war hierdurch sehr verärgert. Er schaute den Kranich an und dieser fiel leblos zu Boden, zerstört durch die Macht des Zorns.

Kurz darauf betrat Kaushika ein Dorf. Er näherte sich einem Haus und bat um Almosen. Die Dame des Hauses sagte zu ihm: „Warte ich werde mich gleich um dich kümmern.“ Während sie das Gefäß für die Almosen reinigte, kam ihr Mann plötzlich nach Hause. Er war sehr hungrig. Die wohlerzogene, gesittete Frau reichte ihrem Mann Essen und Trinken und stand bereit, um ihm seine Wünsche zu erfüllen. Sie ließ daher Kaushika warten. Diese Frau war ihrem Mann sehr ergeben. Sie aß auch täglich die Reste des Mahls ihres Gatten, denn sie betrachtete ihn als ihren Herrn. Ständig war sie ihm zu Diensten. Sie war tugendhaft. Sie hatte gutes Benehmen und sie war großzügig zu ihren Verwandten. Diese äußerst ergebene Dame war stets besorgt um das Wohlergehen ihres Gatten. Sie kümmerte sich täglich um die Bedienung der Gäste, um die Schwiegermutter, um den Schwiegervater, um die Bediensteten. Sei war rein und keusch. Erst nachdem sie ihren Gatten bedient hatte, kam die wohlerzogene Dame mit den Almosen für den Brahmanen. Kaushika war zwischenzeitlich sehr zornig.

Die Dame sagte: „Oh gelehrter Mann! Vergib mir. Mein Gatte ist mein Hauptgott. Er war sehr hungrig und müde. Als ich ihn so sah, bediente ich ihn zuerst.“  Der Brahmane sagte: „Du betrachtest die Brahmanen nicht als überlegen. Du betrachtest deinen Gatten als allen überlegen. Da du ein nur häusliches Leben lebst, hast du keine Achtung vor den Brahmanen. Selbst Indra (König der Götter) verbeugt sich vor ihnen. Weißt du nicht oder hast du nicht von den Älteren gehört, dass Brahmanen wie Feuer sind und die ganze Erde in Brand setzen können?“ Die Frau sagte: „Oh Brahmana! Oh Du der den Reichtum des Askese besitzest! Betrachte mich nicht wie den Kranich. Was tust du mir an mit deinem zornigen Blick? Ich habe die Brahmanen, die wie himmlische Gestalten sind, wirklich nie missachtet. Du solltest meinen Fehler verzeihen. Ich kenne die Macht der Brahmanen. „Ihr Zorn macht das Meer brackig und ungenießbar. Der bösartige Vatapi, ein verbrecherischer Asura (Feind der Götter), wurde von dem Weisen Agastya verdaut. Die Weisen besitzen ungeheuerlichen Zorn, aber auch viel Vergebung. Es ist an dir mir meine Übertretung zu verzeihen. Ich mag den Verdienst, der mir aus der Anbetung meines Gatten erwächst. Von allen Göttern ist mein Gatte meine höchste Gottheit. Ich pflege diese besondere Tugend – den Dienst an meinem Gatten – als das höchste Gut. Ich weiß, dass der weibliche Kranich durch deinen Zorn verbrannte, aber solcher Zorn ist der eigene Todesfeind. Die Götter wissen, dass der Brahmana ist, der seinen Zorn aufgibt, der die Wahrheit spricht und der sich des Lehrers annimmt. Die Götter wissen, dass der Brahmana ist, der, selbst wenn er verletzt wurde, niemals andere verletzt und der seine Leiden schaften vollständig unter Kontrolle hat, der heilig, tugendhaft und dem Studium der Veden ergeben ist. Die Götter wissen, dass der Brahmana ist, der seinen Zorn und seine Begierde unter Kontrolle hat und der ebenso Tugend und Kraft besitzend jeden Menschen als ihm ebenbürtig betrachtet. Die Götter wissen, dass der Brahmana ist, der vertraut mit allen Religionssystemen ist, der selbst studiert und unterrichtet, und der auch selbst opfert und an Opfergottesdiensten anderer teilnimmt.

Die Götter wissen, dass der Brahmana ist, der gemäß seiner Möglichkeiten gibt, der freigiebig ist und sich immer um seine Studien kümmert. Diejenigen, die sich in der Moral auskennen halten das Besiegen der Sinne, Wahrheit und Schlichtheit im Umgang mit anderen für die ewigen und höchsten Tugenden. Tugend ist ewig und schwer zu erlangen. Sie beruht auf der Wahrheit. Tugend ruht vollständig auf Srutis (heilige Schriften), die die Äußerungen ehrwürdiger Weiser sind. Tugend scheint vielfältig und wahr. Du kennst nicht das wahre Wesen der Tugend, Oh Brahmana! Oh Wiedergeborener!

Wenn du nicht die höchste Tugend kennst, gehe in Stadt namens Mithila und frage dort den tugendhaften Vogeljäger, der stets seinem Vater und seiner Mutter zu Diensten ist, der aufrichtig ist, der seine Leidenschaften unter Kontrolle hat. Er wird dir die verschiedenen Religionssysteme erklären. Wenn du möchtest, Oh Gesegneter, so gehe dort hin. Denke daran, Oh Brahmana, dass die Frau, die sich der Ausübung der Tugenden hingibt, nicht verletzt werden kann.“ Der Brahmana sagte: „Oh wunderschöne Frau! Sei glücklich. Ich bin sehr erfreut über dich. Mein Zorn ist verflogen. Deine Schelte wird mir höchst nützlich sein. Ich werde nach Mithila gehen und tun, was für mich vorteilhaft ist.“ Dann trat Kaushika, der erste der Zweimalgeborenen heraus und kehrte mit sich selbst schimpfend zu seinem Haus zurück.