Yoga als eine universale Wissenschaft

  Kapitel 3:

   Der Geist (Verstand) und seine Funktionen

 Es wird häufig gesagt, daß Yoga Gedankenkontrolle bedeutet, und die Menschen sich bemühen würden, ihre Gedanken im Namen der Yogameditation zurückzuhalten, was als schwierig, wenn nicht sogar als unmöglich empfunden wird. Der Grund für diese Schwierigkeit ist, daß der Geist vom Meditierenden nicht trennbar ist. Und dies wird solange nicht von Erfolg gekrönt sein, wie man die Bedeutung hinter den Lehren nicht zu schätzen oder zu verstehen weiß, und erkennt, daß es sich lohnt, sich selbst einzuschränken. Der Verstand ist nicht so leicht davon zu überzeugen, daß es sinnvoll ist, die Gedanken im Zaum zu halten. Warum sollten die Gedanken überhaupt kontrolliert werden? Woher kommt diese Notwendigkeit und warum sollte man sich bemühen, die Funktionen des Geistes zu zügeln? Warum sollte Yoga mit der ‘Kontrolle des Geistes’ einhergehen, wo doch vielleicht etwas ganz anderes damit gemeint ist? Solange dieser Punkt nicht klar ist, ist das Bemühen um die Gedankenkontrolle nicht erfolgreich. Ohne klares Überdenken dieser Sachlage, ist jegliches Bemühen, in welche Richtung auch immer, letzten Endes ein Mißerfolg.

Warum sollten wir den Geist kontrollieren? Laßt uns die Frage an uns selbst richten. Wir werden nicht so ohne weiteres eine Antwort bekommen, doch wenn wir die Struktur des Universums und die Natur der Dinge anschauen, bekommen wir eine Antwort. Wir konnten in den vorangegangenen beiden Kapiteln feststellen, daß das Universum nicht bloß eine weite Ausdehnung mit voneinander abhängigen Teilchen ist, sondern ein vollkommenes Selbst, von dem wir uns als Individualitäten nicht absondern können. Und doch sehen wir die Welt als etwas Äußerliches an, obwohl sich die Welt nicht außerhalb von uns befindet. Das Universum ist kein sogenanntes äußeres Objekt, obwohl wir trotzdem darauf beharren. Dieses Streiten, Beharren und Beteuern in uns, was uns Glauben machen will, daß sich die Welt außerhalb befindet, wird Geist genannt. Der Geist ist keine feste Masse, kein Teilchen, auch nicht wie ein Sandkorn in unserem Körper, und auch keinesfalls eine irgendwie sichtbare Substanz, sondern lediglich ein Vorgang der Selbstbestätigung. Darum ist der Geist nur schwer zu erfassen. Der Grund dafür, daß wir ihn nicht verstehen können, ist, daß all unsere Verständigungsprozesse mit den äußeren Objekten unseres Verstandes verbunden sind. Wann immer wir uns im Verstehen üben, so geschieht dies nur mit etwas außerhalb unseres Verstandes. Wir versuchen nicht unseren Verstand als solches zu verstehen. Das liegt nicht in unserem Bemühen, und es ist sogar jenseits unserer Vorstellungen. Auf diese Weise kann der Geist nicht durch den Geist erkannt werden. Der Geist kann nur etwas erkennen, was sich außerhalb von ihm selbst befindet. Auf diese Weise führt das Bemühen, den eigenen Geist zu erfahren, zu einem Fehlschlag, denn das wissende Subjekt fordert ein äußeres Objekt, um ein Kennenlernen zu ermöglichen. Es gibt keine solche ‘Sache’ wie ein Subjekt, die sich selbst erkennt. Wir sind niemals einer solchen Situation begegnet, wo das Subjekt sich selbst wie sein eigenes Studienobjekt betrachtet. Dies ist die Ursache, die hinter der Unfähigkeit steckt, sein eigenes Selbst zu erkennen.

Was ist dieser Verstand, Geist oder dieses Denkorgan?

Unser Beharren liegt darin, daß sich die Welt oder das Universum außerhalb von uns befindet, - dies wird Verstand (Geist/Denkorgan) genannt. Es ist eine Art von bewußtem Beharren. Man kann es nicht als Ding bezeichnen. Es handelt sich um eine Art Selbstbehauptungsprozeß des Bewußtseins, wobei es behauptet, daß sich die Welt außerhalb befindet. Diese Selbstbehauptung nimmt etwas Individuelles einer lokalen Existenzform an, die Persönlichkeit genannt wird, dessen Zentrum der Selbstbeteuerung als ‘Verstand/Geist’ bezeichnet wird. Wir können den Geist auch als psychisches Organ bezeichnen. Der Begriff ‘Geist’ wird insbesondere in der Psychologie des Westens dazu verwendet, um allgemeine Funktionen der inneren Psyche zu bezeichnen, was das Verstehen, den Willen und das Gefühl einschließt. Das Wort ‘Geist’ ist ein allgemeiner Begriff in der westlichen Psychologie, doch in der Yogapsychologie ist die Analyse wesentlich detaillierter. ‘Geist oder Verstand’ ist nicht die richtige Übersetzung für den Yogabegriff ‘Chitta’; dies gilt insbesondere für das Patanjali-System. Das gesamte Denkorgan wird als ‘Chitta’ bezeichnet. Besser ist es, das Wort ‘Psyche’ anstelle von ‘Geist’ zu verwenden, denn der Begriff ‘Psyche’ bezeichnet eine weitaus umfassendere Struktur, als die Einzelfunktion durch den Begriff ‘Geist/Denkorgan’ andeutet. Der Geist oder Verstand denkt auf eine unbestimmte Art und Weise; der Intellekt denkt auf eine bestimmte Weise; das Ego behauptet sich als Individualität des eigenen Selbst. Es gibt weitere Funktionen der Psyche: das Gedächtnis, das häufig mit der Ebene des Unterbewußtseins verbunden ist. Wenn es kein getrenntes Denken oder kein individualisierendes Prinzip gäbe, was in der Vedanta-Psychologie als Antahkarana und in der Yogapsychologie Patanjali’s als Chitta bekannt ist, wäre es niemandem möglich, sich bewußt zu sein, daß es etwas Äußeres gibt. "Antahkarana" ist ein Begriff aus dem Sanskrit, der frei übersetzt "das innere Organ" bedeutet. Dies ist möglicherweise die beste Übersetzung dieses Begriffes. Dies ‘innere Organ’, mit dem wir äußerliche Dinge erkennen oder wahrnehmen, ist Antahkarana. In der Yogapsychologie bezeichnet man dasselbe als Chitta. Wir sollten den eigentümlichen verschiedenartigen Faktoren, Merkmalen oder Begriffsinhalten, die mit den unterschiedlichen Denkweisen verschiedener Schulen verbunden sind, nicht allzuviel Aufmerksamkeit schenken. Doch ist es wichtig sich zu erinnern, daß eine psychische innerliche Funktion als ein individualisierendes Prinzip dafür notwendig ist, um zu behaupten, daß die Welt oder jenes etwas sich außerhalb befindet.

Warum sollte der Verstand (Geist) kontrolliert werden?

Wir konnten bereits feststellen, daß es keine wirklich äußerlichen Dinge gibt. Insofern ist die Pose unseres Beharrens auf äußerliche Dinge ein großes Mysterium. Offensichtlich beruht diese Hirnfunktion auf einen Fehler, was bedeutet, daß unser Verstand tatsächlich eine unberechenbare Versicherung darstellt. Durch das Beharren auf einen Irrtum, der im Gegensatz zur Wahrheit des Universums steht, ist uns eine schreckliche Katastrophe widerfahren. Wenn das Universum oder die Welt nicht wirklich außerhalb ist, und trotzdem alles, was wir sehen, als etwas Äußerliches ansehen, befinden wir uns mit Sicherheit in einer Welt der Fehler. Wir machen Fehler über Fehler, mit dem Ergebnis, daß unser ganzes Leben als eine Anhäufung oder als ein Berg von Fehlern angesehen werden kann, und all diese Fehler sind die Folge der originären Selbstbehauptung, die im übertragenen Sinne als Verstand (Geist), Chitta und Antahkarana bezeichnet werden kann. Es ist leicht verständlich, warum der Geist kontrolliert werden muß, nämlich, weil er die Fehlerursache und die Wurzel allen Übels im Leben ist. Der Verstand ist das zentrale Unheil in der individuellen Persönlichkeit. Der Verstand ist der größte Übeltäter, wie Acharya Sankara es nennt, der Räuber, der uns aller Werte beraubt, uns in die Armut treibt und uns in den Augen aller Menschen als Bettler aussehen läßt. Warum sollte der Verstand kontrolliert werden? Warum sollte eine Notwendigkeit gefühlt werden den Antahkarana zurückzuziehen? Weil der Verstand in seiner Fehlschätzung auf eine außenstehende Existenz beharrt, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. So wie das Gehirn arbeitet, sehen wir die Natur der Dinge und gehen genauso damit um, unaufgefordert, ungerechtfertigt und von gründlichem Irrtum geprägt. Wir sehen nicht die Dinge, wie sie sind, und können nicht richtig mit ihnen umgehen, insofern wie unserer Handlungsweise Gedanken vorausgehen, die eine fehlerhafte Bewegung in uns selbst sind.

An dieser Stelle kommt Yoga mit einer großen Botschaft zu uns. Unser Leben bewegt sich in die falsche Richtung, führt uns in immer wiederkehrende Probleme und Wiedergeburten, und es ist darum notwendig, uns in die richtige Position zu bringen, in die wir von unserer Wesensart her hingehören, damit wir nicht unser eigentliches Selbst verlieren. Der Verlust des Selbst ist der größte Verlust. Wir haben uns in eine Vorstellung hineingesteigert, die wir nicht darstellen, denn wir stehen in Wirklichkeit in Beziehung zur Natur des Universums. Wir haben uns in der Vorstellung verloren, daß wir vom Universum getrennte Menschen sind, - Männer, Frauen, Kinder und vieles andere mehr. Um uns aus diesem Getümmel wiederkehrender Sorgen, - genannt Samsara -, oder dem Leben der empirischen Welt zu befreien, kommt Yoga als Rettung, als eine Botschaft der Hoffnung und des Trostes, und sagt uns, daß es für die Menschheit keine Hoffnung, keine Chance für einen überall vorherrschenden Frieden gibt, wenn die Selbstbeschränkung nicht zu unserer Lebenseinstellung wird. Selbstbeschränkung ist irgendwie dasselbe wie Gedankenkontrolle, denn wir sind praktisch dasselbe wie der Verstand (Geist). Wir machen keinen Unterschied zwischen der Selbstkontrolle und der Gedankenkontrolle (Kontrolle von Gedanken und Gefühlen), denn für uns Jivas (individuelle Seelen), - empirische Individualitäten - ist der Verstand selbst die Sorge. Was wir sind, wie wir jetzt erscheinen, entspricht der augenblicklichen Gehirnfunktion. Die Notwendigkeit einer Selbstkontrolle oder Gedankenkontrolle erhebt sich aufgrund des Wunsches nach Vollkommenheit, was das Ziel eines jeden Menschen ist. So wollen wir nicht leiden. Unser letztendliches Ziel, unsere Sehnsucht oder unser Wunsch ist es, uns vom Kummer zu befreien, und unsere Freiheit in einer Form zu erreichen, wie wir sie mit unseren eigenen Augen in dieser Welt nicht sehen können. Niemand hat wirklich gesehen was Freiheit ist, denn jeder ist auf die eine oder andere Weise gebunden. Wenn wir glauben, uns unserer Fesseln entledigt zu haben und eine Art von Freiheit erreicht zu haben, sind wir in Wirklichkeit im Namen dieser Freiheit eine neue Bindung eingegangen, was wir allerdings erst einige Zeit später feststellen. In dieser Welt gibt es so etwas wie wirkliche Freiheit nicht, denn Freiheit bedeutet letztendlich dasselbe wie das Anpassen an den Zustand ‘Absoluter Vollkommenheit’, - einer Stufe der Vollkommenheit. Noch Meilen davon entfernt, können wir in unserem Leben nicht irgendwelchen Idealvorstellungen, Ideologien oder Phantomen nachjagen, und darauf hoffen, dann auf den letzten Metern vor der Vollkommenheit, durch welchen technischen Fortschritt auch immer, Frieden in dieser Welt zu erfahren. Die Menschen werden durch Apparate, Instrumente und Forscher auf dem Felde äußerlicher Technologien vom eigentlichen Ziel abgelenkt. Dies ist der falsche Weg. Wenn man unter Wissenschaft das logische Wissen über die Natur der Dinge versteht, ist Wissenschaft etwas Wundervolles: Sie ist für das Leben unvermeidlich. Doch, wenn man unter Wissenschaft technologische Erfindungen, den Aufbau von Fabriken und industrieller Organisationen versteht, ist dies der Ruin für das menschliche Leben. Diese hilft uns nicht, denn es entfernt uns immer weiter vom Zentrum der Wirklichkeit, und zwingt uns mehr und mehr, die "äußerliche Welt" zu bestätigen, - vielmehr als die Tatsache, daß wir von der Welt untrennbar sind.

Die Wissenschaft des Yoga ist deshalb eine Psychologie von philosophischer Natur. Die präzise Einführung in das Yogasystem durch Patanjali ist nebenbei eine Anleitung zur Kontrolle des Geistes - Yogas chittas-vritti-nirodhah. Patanjali sagt keine Einzelheiten über die Notwendigkeit der Gedankenkontrolle und auch nicht über deren philosophischen Hintergrund, denn dieses wird in der Samkhya und der Vedanta ausgeführt. Yoga bedeutet Gedankenkontrolle und das Zügeln der Gefühle (des Geiststoffes).Yoga ist Chittas-vritti-nirodhah. In dem Augenblick, wo wir dies hören, fangen wir an uns zu erregen. Yoga bedeutet Gedankenkontrolle, und ist darum die Kontrolle über uns selbst. Wir schließen unsere Augen, halten unsere Nase zu und werden dadurch völlig nervös und sind total angespannt! Dies ist die schlimme Folge unserer häufigen Übertreibungen, die allein durch das Wort Yoga gefühlsmäßig in uns geweckt werden. Wir sollten uns nicht durch das Wort Yoga, das wir nun irgend jemanden sagen hören, derartig aufregen. Yoga ist ein ruhiges und nüchternes Verstehen. Yoga hat nichts mit Emotionen, Erregungen oder mit irgendeinem künstlichen Gehabe zu tun. Ein ruhiger Gerichtsvorsitzender regt sich nicht deshalb auf, weil er beginnt, die Begleitumstände zu verstehen. Wo Wissen vorherrscht, ist Aufregung nicht möglich. Der Geist muß kontrolliert werden. Dies muß auf intelligente Art und Weise geschehen und Erregung ist dabei Fehl am Platze.

Yoga ist Chitta-vritti-nirodhah, und Yoga ist für jeden unerläßlich und unvermeidlich, denn jeder ist in derselben Situation, und jeder ist ein Teil der unendlichen Schöpfung. Selbst jene, die nicht wissen was Yoga ist, es nicht praktizieren und keine Ahnung davon haben, werden sich für diese Bewegung - genannt Yoga - auf dem Weg hin zum Ziel entscheiden, dem Ziel aller Menschen. Yoga bedeutet Gedankenkontrolle (Kontrolle des Geistes), und der Geist muß kontrolliert werden, weil er die Ursache für dieses falsche Trennungsgefühl ist. Es ist der Geist, der Chitta, Antahkarana oder unser Verstand, der uns Glauben machen will, daß wir Individualisten mit einer eigenen körperlicher Unabhängigkeit, getrennt von der unendlichen Schöpfung sind. Aus diesem Grund ist die Gedankenkontrolle notwendig und unter diesen Umständen unvermeidlich. Wenn jemand seine eigene Situation versteht und weiß wo er steht, so muß er auch wissen welche Schritte er unternehmen muß, um sich in das System des Universums richtig einzuordnen. Wenn die Natur der Dinge und die Struktur der Welt bewußt werden, und wirklich erkannt wird, daß der eigene menschliche Verstand (Geist) der trennende Verursacher in unserem vermeintlich ‘individuellen Wesen’ ist, dann kommen wir zu dem Ergebnis, daß es absolut notwendig ist, den Geist für die eigentliche Struktur der Dinge wieder einzustimmen, unsere Isolation als individuelle Wesen aufzugeben, und die Einheit des sogenannten ‘getrennten Endlichen’ mit dem wirklich Unendlichen vollzogen werden muß. Diese Vereinigung wird Yoga genannt.

Yoga bedeutet, in der eigenen wahren Natur zu ruhen

Wir hörten, daß Yoga Einheit bedeutet, doch häufig kennen wir die Objekte nicht, die vereint werden sollen. Wir wissen jetzt, was man in der Yogasprache unter ‘Einheit’ wirklich versteht: Es handelt sich um das vollständige Durchdringen unseres Gefühls endlich zu sein. In uns besteht eine Neigung zur Trennung (Alleinstellung), und Yoga bedeutet nichts weiter, als diese Barriere der Individualität zu überwinden, indem wir in die unendliche Weite des Ozeans unserer wahrhaften Natur eindringen, was der Natur eines jeden Menschen entspricht. Wenn der Geist auf diese Art und Weise gezügelt wurde, wird Chitta-vritti-nirodhah (Gedankenkontrolle) bewirkt. Das falsche Empfinden, sich von anderen zu unterscheiden, und daß die Dinge aus verschiedenen Einzelteilen bestehen, verschwindet; und dann werden wir in unserer wahren Natur, der gemeinschaftlichen Existenz in allen Dingen, verankert, - und nicht in einem isolierten Individuum. Dieses Verankern des eigenen Selbst in die eigene wahre Natur, in den Universalen Charakter, ist das Ziel von Yoga.

Yogas Chitta-vritti-nirodhah (Gedankenkontrolle). Tada drashtuh svarupe avasthanam. Diese beiden Sätze sind zwei Sutras von Patanjali, die den ganzen Yoga beschreiben. Was ist Yoga? YogaChitta-vritti-nirodhah - das Zügeln des Geistes. Was geschieht, wenn der Geist gezügelt ist? Tada drashtuh svarupe avasthanam. Der Sehende (Seher) etabliert sich selbst in sein eigenes Selbst. Der ‘Seher’ bedeutet: Das subjektive Bewußtsein in uns. Dieses subjektive Bewußtsein hört auf als ‘Subjektivität’ weiter zu bestehen, denn diese Subjektivität ist ohne jede Bedeutung, wenn es kein äußeres Objekt mehr gibt. Subjekt und Objekt sind voneinander abhängig, wobei das eine ohne das andere nicht existieren kann. Wenn das äußere Objekt nicht mehr vorhanden ist, gibt es auch kein inneres Subjektbewußtsein mehr und umgekehrt. Wenn nun auf diese Weise jemand seinen Geist gezügelt hat und feststellt, daß sich die Dinge nicht außerhalb befinden, hören die Objekte auf zu existieren, und damit verschwindet das innere Subjektbewußtsein ebenfalls. Folglich haben jene Menschen weder Subjektbewußtsein noch Individualität, denn es nicht mehr existiert. Auf diese Weise folgt auf das Zügeln des Geistes oder auf die Gedankenkontrolle eine Rückkehr des eigenen Selbst in die eigene wahre Natur.

Auch hier müssen wir unsere besondere Aufmerksamkeit darauf richten, was "unsere eigene wahre Natur" eigentlich bedeutet. Häufig wird die Bedeutung dieser Aussage mißverstanden, und als das "Etablieren des Selbst’ in das eigene Selbst" angesehen." Wir haben den verwurzelten Glauben, daß wir Söhne und Töchter unserer Eltern sind. Wir können das nicht vergessen. Wir beteuern beharrlich, Mann und Frau zu sein und einen Körper zu haben. Welche Yogarichtung wir auch immer ausüben, wir können dies nicht vergessen. Was ist unter dem ‘Etablieren in das eigene Selbst’ zu verstehen, worauf der Geist so krankhaft beharrt? Ob Mann oder Frau, Sohn oder Tochter, reich oder arm, - man kann dieser Grundidee nicht ausweichen, die die Vision einschränkt. Welches Yoga kann in solch einer Situation praktiziert werden? Ein wenig Gehirnwäsche ist notwendig, um uns letztendlich von dem gröberen Mißverständnis zu befreien. Es gibt subtilere und gröbere Mißverständnisse. Während die feineren die mächtigeren sind, die zu gegebener Zeit ausgemerzt werden müssen, so sollten die gröberen Mißverständnisse gleich zu Anfang aufgegeben werden. Doch wir sind auf nichts vorbereitet. Wir sind hartgesottene Persönlichkeiten, die auf die eine oder andere Weise auf ihre Vorurteile beharren und sich selbst Verhaltensmaßregeln und Beziehungen auferlegen. Einigen Menschen gegenüber verhalten wir uns als Freunde, anderen gegenüber als Feinde, - wir stehen auf die eine oder andere Art miteinander in Beziehung. Das ist eine außerordentlich mißliche Lage, denn solch ein falsches Verhalten rührt daher, daß wir uns selbst als wirkliche Yogaschüler betrachten.

Die gröberen, die weniger groben und die subtilen Probleme werden in der Yogapsychologie, und insbesondere in den Sutras Patanjali’s, unterschiedlich eingestuft, weil die großen Meister es gewohnt waren, in erhabenen Worten zu denken, und philosophische Ausdrücke benutzten, um Probleme des Lebens zu benennen. Patanjali gebrauchte in seinen Sutras einen sehr treffenden, für die Psychologie bedeutsamen Ausdruck, um im allgemeinen die subtileren und die gröberen Probleme der Individuen voneinander zu unterscheiden. Es handelt sich hierbei um gefühlsbezogene Probleme. Alle unsere Schwierigkeiten sind letztendlich psychologischen Ursprungs; und Psychologie ist nichts weiter, als ein Studium der Bewegungen des Geistes. Und die Bewegungen des Geistes (der Gedanken und Gefühle) werden in der Yogapsychologie als Vrittis bezeichnet. Patanjali erzählt uns, daß unsere Probleme nur aus Vrittis, - nämlich Bewegungen des Geistes -, bestehen. Die gröberen müssen von den subtileren Vrittis unterschieden werden, wobei die letzteren mehr philosophischer und metaphysischer Natur sind. Alle Vrittis stufte Patanjali in zwei Kategorien ein, - die Klishta Vrittis und die Aklishta Vrittis. Klishta nennt man das, was Schmerzen bereitet; Aklishta nennt man das, was keine Schmerzen bereitet. Die Bedeutung des Wortes Klishta ist Schmerz, Leid, Sorge. Unter Klishta Vrittis versteht man Bewegungen, die einem jeden Tag unaufhörlich Sorgen bereiten, und Aklishta Vrittis hingegensind Bewegungen des Geistes, die nicht unmittelbar einen Schmerz verursachen, sondern vielmehr wie eine chronische Krankheit wirken. Es besteht ein eindeutiger Unterschied zwischen einer akuten und einer chronischen Erkrankung. Eine akute Erkrankung befällt jemanden urplötzlich und verursacht heftige Schmerzen bzw. hohes Fieber, wohingegen eine chronische Erkrankung, sich wie ein Ekzem verhält, das den Menschen andauernd ärgert. Doch der Mensch beachtet es nicht, denn er hat sich daran gewöhnt. Unter Verstopfung, Ekzemen und anderen Erkrankungen leiden viele Menschen; und doch sind es die akuten Erkrankungen, wie Fieber oder plötzlich auftretende Kopfschmerzen, die sofortiger Behandlung bedürfen, weil sie hochgradig qualvoll sind. Genauso verhält es sich bei akuten und chronischen psychologischen Problemen, - den Klishta Vrittis beziehungsweise den Aklishta Vrittis.

Die Klishta Vrittis oder die zermarternden Gedanken

Laßt uns die Vrittis von Liebe und Haß betrachten. Sie sind wirklich sehr schmerzvoll. Wir fühlen uns durch Liebe ebenso verletzt, wie durch Haß. Wer jemals Liebe oder Haß empfand, weiß wie schmerzhaft beides sein kann. Jeder, der einen Funken gesunden Menschenverstand hat, weiß, was Liebe oder Haß bei einem selbst für Leid auslösen kann. Durch das Mögen oder Nichtmögen irgendwelcher Dinge, sind wir fortwährend rastlos. Weil wir etwas lieben, sind wir voller Kummer, und wir sind auf die gleiche Weise bekümmert, wenn wir auch noch etwas anderes hassen. Unsere täglichen Probleme bestehen aus Mögen/Nichtmögen und nichts anderes. Dieses Mögen/Nichtmögen ist einer jener Punkte, die der Kategorie der Klishta Vrittis von Patanjali zuzuordnen sind, - dieses Raga-Dvesha erhebt sich letzten Endes aus der Unwissenheit. Wir würden weder lieben noch hassen, wenn wir nicht von einem Schleier der Unwissenheit bezüglich der Natur der Dinge umgeben wären. Wenn wir etwas lieben oder hassen, dann verstehen wir es nicht, deshalb ist das mangelnde Verstehen der eigentliche Hintergrund für das Mögen/Nichtmögen. Mögen/Nichtmögen ist ungerechtfertigt, fehl am Platze und eine völlig falsch eingeschätzte Einstellung unsererseits, besonders dann, wenn wir emotional damit verbunden sind.

Ein philosophisches Mögen/Nichtmögen ist die eine Sache, und ein emotionales Mögen/Nichtmögen ist etwas völlig anderes, - das letztere ist weitaus schlimmer. Bei den Klishta Vrittis handelt es sich in seiner Natur praktisch ausschließlich um etwas Emotionales, denn unsere Gefühle sind damit verbunden. Wenn wir etwas mögen oder nichtmögen, geschieht dies nicht philosophisch, sondern emotional. Unsere Gefühle sind angesprochen, wir fühlen uns in unserer ganzen Persönlichkeit getroffen. Jedes intensive Mögen/ Nichtmögen ist als Leidenschaft bekannt und kann uns leicht wie ein Wirbelwind, Sturm oder Zyklon aus der Bahn werfen kann. Es kann sich dabei um Ärger, intensives Mögen/Nichtmögen oder irgendwelchen Haß handeln. Da Mögen/Nichtmögen (Raga und Dvesha) aufgrund von Mißverständnissen über die Natur der Objekte von Mögen/ Nichtmögen entsteht, bildet Unwissenheit die Grundlage von Raga und Dvesha. Avidya, geistige Armut oder Unwissenheit sind die Wurzeln für das Mögen/Nichtmögen.

Zu Anfang verstehen wir überhaupt nichts. Dann flüchten wir uns in die Leidenschaften von Liebe und Haß. Doch dazwischen gibt es einen feinsinnigen Dieb, der die Probleme von Mögen und Nichtmögen verursacht. Das ist jene Selbstbehauptung, Asmita genannt. Diese Asmita oder die Selbstbehauptung verursacht hochbrisanten Unsinn. Im politischen Umfeld gibt es sonderbare Schlawiner, die weder der einen noch der anderen Partei angehören, und trotzdem in beiden Lagern Verwirrung stiften. Genauso verhält es sich mit dieser sonderbaren Asmita. Wenn man nicht weiß, wozu diese Asmita gehört, ist sie der größte Teufel, den man sich denken kann. Wenn wir versuchen ihn zu finden, ist sie nicht da. Es ist so, als würde man mit der Taschenlampe nach der Dunkelheit suchen. Wenn wir die Dunkelheit erkennen wollen, müssen wir unseren hellen Verstand benutzen, und wenn die Klarheit des Verstehens darauf geworfen wird, verschwindet die Dunkelheit. Diese Selbstbehauptung ist so ein Beispiel dafür, denn, wenn wir herausfinden wollen, wo und was es ist, können wir es nicht erkennen. Es verschwindet. Auf diese Weise ist dieser Selbstsinn, die Selbstbehauptung als eigenständiges Individuum, was gleich nach der Unwissenheit über die Natur der Dinge folgt, ein unbestimmbares etwas, - Anirvachaniya, wie es in der Vedanta bezeichnet wird -, eine unbeschreibliche, unbestimmbare und ebenso undenkbare Existenz. Woher kommt sie? Wieso behaupten wir uns als etwas, was sich von der Wirklichkeit unterscheidet? Wir können es nicht wissen, denn falls wir es versuchen würden, wäre es so, als würden wir versuchen, die Dunkelheit mit Hilfe einer Taschenlampe zu sehen. Doch wenn das Licht erlischt, ist diese ‘Existenz’ wieder da.

Patanjali erzählt uns, daß es ein eigenartiges unbeschreibliches Element wie den Selbstsinn gibt. Das ist das Selbstbewußtsein, das wie ein eigenständiges Gebilde existiert. Genauso verhält es sich mit Adam und Eva, die sich ihrer Nacktheit bewußt wurden. Dieses ist das Übel der Theorie der Philosophen, die wirkliche Sünde, von der die Theologie sagt, daß sie der Ursprung aller anderen Sünden ist, die Großeltern aller Schrecken, und dessen ersten Kinder Raga und Dvesha oder Mögen und Nichtmögen sind. Kain und Abel, die Kinder von Adam und Eva, sind nichts weiter als Raga und Dvesha, Mögen und Nichtmögen, Liebe und Haß. Diese Schöpfungsgeschichte und das ‘erste Buch Moses’ sind in ihrer Natur höchst philosophisch und spirituell. Aus dem Mißverständnis über die Natur der Dinge, der Unwissenheit, dem Unwissenschaftlichen oder Avidya erhebt sich dieser Selbstsinn, ein Bewußtsein von Individualität, dieses Persönlichkeitsbewußtsein, welches die Form von ‘Ich bin’ annimmt, jenes Gefühl jemand zu sein oder, sich von anderen völlig zu unterscheiden. Dieses ‘Ich bin’ unterscheidet sehr von dem ‘Ich-bin-was-Ich-bin’, wovon in dem ‘ersten Buch Moses’ die Rede ist. Das ‘Ich-bin-was-Ich-bin’ ist eine höchst kosmische Behauptung; und sie unterscheidet sich sehr von dem ‘Ich bin’, mit dem wir im täglichen Leben vertraut sind, was sich auf den Körper bezieht, und was das individualisierte Wesen unserer Persönlichkeit ausmacht. Da Ich existiere, existiert auch alles andere. Wo es ein Subjekt gibt, gibt es auch ein Objekt. Es ist dann nicht mehr erforderlich, über die von mir getrennte Existenz von Objekten zu argumentieren, denn sie folgen automatisch. Wenn Ich bin, muß auch noch etwas anderes sein. Dieses andere sind die Objekte. Da es äußere Objekte gibt, muß ich eine Einstellung zu dieser oder jener Natur haben. Es kann sich vor mir nicht etwas befinden, zu dem ich nur eine vage Beziehung habe, obwohl es eindeutig als Objekt bekannt ist. Ich muß mir darüber klar werden, denn entweder bin ich es selbst oder ich bin es nicht selbst. Da ich es außerhalb von mir sehe, bin ich es nicht selbst. Deshalb bezeichne ich es als Objekt. Und, weil es sich außerhalb von mir befindet, mag ich es nicht. Der Haß auf ein Objekt wird automatisch durch die Tatsache der Behauptung, daß es sich außerhalb von mir befindet, hervorgerufen. Alles, was nicht zu mir gehört, ist mein Gegner. Dies ist die Grundbehauptung aller Individualitäten.

Es ist jedoch kein reiner Haß, der in unserem Leben überwiegt. Es gibt in der Beziehung zu den Objekten etwas sehr Eigenartiges, was wir selbst nicht in uns haben. Es handelt sich dabei um eine außerhalb von uns selbst existierende Erscheinung, so, wie ein anderes ‘Selbst’ in Raum und Zeit, das sich genauso wie wir selbst darstellt. Dies ist sehr bedauerlich und gleichzeitig sehr interessant, und wirklich dramatisch, - insoweit wie ich das äußerliche Objekt in Raum und Zeit als eine Art von Nebenströmung betrachte, was das gleiche Erscheinungsbild wie ich selbst hat. So wie Subjekt und Objekt miteinander in Beziehung stehen, fühlen wir auch eine innere Zuneigung zum Objekt. Wir können es nicht ausschließlich hassen. Deshalb ist weder ein hundertprozentiger Haß noch eine hundertprozentige Liebe für irgend etwas möglich. Wir können weder etwas hundertprozentig lieben, noch hundertprozentig hassen. Wir können eine Mischung aus beidem empfinden. Das ist Samsara, ein furchtbarer Sumpf, in den wir hineingeworfen wurden, schlimmer noch, als ein Konzentrationslager. Wir werden in einer Weise gequält, die noch schlimmer ist als die Behandlung der Gefangenen jener Lager. Wir fühlen uns gleichzeitig in zwei Richtungen gezogen, - einerseits können wir nicht hassen, aber andererseits auch nicht lieben. Insoweit wie die Objekte als etwas Äußerliches erscheinen, können wir sie nicht lieben. Doch insoweit wie sie im Grunde nicht wirklich äußerlich sind, können wir sie auch nicht vollkommen hassen. So sind Liebe und Haß in uns eine Art fortgesetzter Vermischung gegensätzlicher Einstellungen, was uns in unseren eigenen Augen selbst zum Gespött macht. Wir sind, aufgrund der Krankheit, in die wir uns selbst gebracht haben, über uns selbst belustigt, wobei wir uns nicht darüber im Klaren sind.

So verhält es sich mit Liebe und Haß, Raga und Dvesha, die sich aus einem Selbstsinn erheben und sich aus einem Mißverständnis entwickeln. ‘Da ich individuell bin, bin ich dies und nichts anderes. Dies muß ich bewahren. Nichts kann mehr geliebt werden, als mein eigenes Selbst. Keine Liebe ist mit der Eigenliebe für mich selbst vergleichbar.’ Eigenliebe ist die größte aller Lieben, und hiermit ist die körperliche Individualität gemeint, denn nichts anderes wird als Individualität angesehen. Dadurch wird Lebensliebe und Todesfurcht die Zwangsfolge dieser Liebe körperlicher Individualität. Wir fürchten uns vor dem Tod, weil wir das Leben lieben. Todesfurcht ist dasselbe wie Lebensliebe. Diese beiden Begriffe unterscheiden sich nicht, denn beides hat dieselbe Bedeutung.

Das ist die Kettenreaktion, die aus dem ursprünglichen Fehler herrührt, jener Unwissenheit über die Natur - unserer wahren Beziehung zu den Dingen. Avidya erzeugt Selbstsinn, was Liebe und Haß erzeugt, was wiederum ein Verhaften an diese körperliche Individualität und eine Angst vor dem bloßen Gedanken um körperliche Versehrtheit hervorbringt. Avidya, Asmita, Raga, Dvesha und Abhinivesha sind die grobe Unterteilung der schmerzhaften Vrittis - Klishtas, wie Patanjali sie nennt -, die die gröberen Probleme oder Schwierigkeiten im Leben darstellen, die wir täglich spüren. Jeder weiß von dem anderen, daß er denselben Bedingungen unterliegt, und diese Bedingungen von aufeinanderfolgenden Leiden sind derart offensichtlich und klar wie das Tageslicht, und unserer Geist ist ganz grob und nüchtern in diese Art von Vrittis - genannt Klishta Vrittis -, nämlich schmerzhafter, quälender Geistesbewegungen verstrickt. 

Die Aklishta Vrittis oder die Geistesfunktionen, die keinen Schmerz verursachen

Bevor wir nun einen großen philosophischen Bereich betreten, müssen wir uns an etwas sehr Wichtiges erinnern. Die schmerzhaften Vrittis wurden durch bestimmte strukturelle Fehler in uns selbst verursacht. Bestimmte organische Fehler können die Folge der zuvor erwähnten schmerzhaften Vrittis sein. Sie verhalten sich ebenso wie eine Schar Banditen, die ihre Wut an der Gesellschaft ausläßt, während die eigentlichen Drahtzieher im Verborgenen bleiben. Sie mögen von außen nicht sichtbar sein. Die raubenden Banditen sieht man zweifellos in der Öffentlichkeit, doch sie werden durch bestimmte unsichtbare Kräfte angetrieben, die im Verborgenen bleiben. Genauso verhält es sich mit bestimmten Kräften, die die Ursache der vordergründigen Schäden in Form von Sorgen und Leid sind. Die Aklishta Vrittis oder die Geistesfunktionen hingegen, die keinen Schmerz verursachen, sind die ursächlichen Faktoren unserer Schwierigkeiten im Leben. Sie verursachen deshalb keinen Schmerz, weil man den Schmerz, den sie verursachen, nicht fühlt. Dennoch sind sie weitaus gefährlicher als jene, die Schmerzen verursachen. Ein direkter Angriff ist die eine Sache; innerlich bewahrter oder anhaltender Haß ist dagegen etwas ganz anderes. Die schmerzhaften Vrittis greifen uns täglich direkt an, und irgendwie sind sie uns bekannt, doch dann lernen wir mit ihnen umzugehen. Von den anderen versteckten Aklishta Vrittis jedoch wissen nicht einmal, daß sie existieren. Sie sind wie ein schleichender Krebs in unserem Körper, dessen Existenz selbst von Spezialisten nicht so leicht erkannt wird. Er kommt uns erst zu Bewußtsein, wenn der Krebs Schmerzen verursacht. Er wird anfangs direkt an der Wurzel, bei seiner heimlichen Arbeit, nicht so leicht erkannt. Genauso verhält es sich mit einem ‘Krebswachstum’ in unserer eigenen Grundstruktur, wir können es einen organischen Fehler nennen. Dieses sind die Aklishta Vrittis oder die Geistesstörungen, die nicht schmerzhaft sind. Ebenso wie es bei Patanjali fünf verschiedene Stufen mit ‘Schmerz-verursachenden’ Funktionen gibt, so werden von ihm fünf weitere Stufen ‘Nicht-Schmerz-verursachender’ Funktionen erwähnt. Die Sanskrit-Begriffe lauten bei ihm hierfür wie folgt: Pramana, Viparyaya, Vikalpa, Nidra und Smriti.

Pramana bedeutet direkte Wahrnehmung. Viparyaya ist falsche Wahrnehmung, oder man kann sagen: Pramana ist richtige und Viparyaya ist falsche Wahrnehmung. Vikalpa bedeutet Zweifel, Stimmungsschwankung. Nidra bedeutet Schlaf, Trägheit. Und Smriti bedeutet Gedächtnis oder Erinnerung an vergangene Ereignisse. Das alles sind ausschließlich Geistesfunktionen. Wenn diese Prozesse stattfinden, arbeitet der Geist/Verstand auf unterschiedliche Art und Weise. Es mag verwundern, daß Patanjali ‘richtige Wahrnehmung’ als eine unerwünschte Vritti betrachtet. Patanjali sieht selbst die sogenannte ‘richtige Wahrnehmung’ oder die philosophische Erkenntnisform von Dingen als eine unerwünschte Geistesfunktion an, die gezügelt werden muß. Das ist so, als würde man zuweilen einen guten Menschen als unerwünscht betrachten. Man kann nur schwerlich verstehen, wie das möglich sein soll! Warum sollte selbst ein normaler Mensch als unerwünscht angesehen werden? Was ist daran falsch, wenn ich vor mir ein Gebäude sehe, das wirklich existiert? Was ist daran falsch? Was ist falsch daran, wenn ich davon überzeugt bin, das es Tag ist, wenn es wirklich Tag und nicht Nacht ist? All dies ist ‘richtiger Wahrnehmung’ zuzuordnen, und warum sollte es als etwas Gegensätzliches zum Yoga angesehen werden? Was ist daran falsch? Wir können es nicht verstehen! Es ist nicht leicht zu verstehen, was dabei tatsächlich im Kopf von Patanjali vorging. Doch wir werden es verstehen, was in ihm vorging und werden es schätzen, was er meinte, wenn wir uns einige der vorangegangenen Betrachtungen anschauen.

Genauso sind Zweifel und ‘falsche Wahrnehmung’ zu betrachten. Wir sehen die Dinge nicht richtig. Dinge erscheinen uns als etwas anderes. Wenn wir unter grauem Star leiden, sehen wir einen Mond als zwei; ein entferntes Objekt erscheint als etwas anderes. Noch einmal, wir sehen Wasser in einer Luftspiegelung, obwohl gar kein Wasser dort ist; wir wollen eine Schlange in einem Seil erkennen. Für Menschen, die unter Gelbsucht leiden, schmeckt Süßes bitter. Es gibt so viele Beispiele für irrtümliches Erkennen und Wahrnehmen. All dies sind mentale Funktionen. Auch im Schlaf ist der Verstand wach, wie eine am Ast aufgewickelte Schlange. Eine Schlange, die sich selbst aufwickelt, hört nicht damit auf, eine Schlange zu sein. Sie ist immer noch da. Wenn wir sie berühren, erkennen wir, was es wirklich ist. Die Modifikationen des Geistes/Verstandes sind in der Nacht zusammengerollt, und das ist der Schlaf. Oder, es ist wie bei einer Gerichtsverhandlung, die auf den nächsten Tag verschoben wurde. Das ist Schlaf. Ein schlafender Gauner bleibt ein Gauner. Er wird darum, nur weil er schläft, ein Heiliger werden. Genauso mag der Geist/Verstand schlafen, trotzdem bleibt er, was er ist und nichts anderes. Aus diesem Grund ist Patanjali sehr vorsichtig. Er sagt, daß der Schlaf eine Geistesfunktion ist. Es ist ein Trick des Geistes. Es handelt sich dabei um ein Manöver, das der Geist aus eigenem Antrieb vollzieht. - Und dann noch das Gedächtnis. Der Geist/Verstand schaut und erinnert sich: "Gestern habe ich dies gesehen. Gestern fand das statt; vorgestern fand noch irgend etwas anderes statt." Das Gedächtnis ist ebenfalls eine Geistesfunktion. Diese Geistesfunktionen bereiten uns nicht die täglichen Sorgen. Der Grund dafür ist, daß wir uns dieser Funktionen überhaupt nicht bewußt sind. Wir sind uns nicht darüber im Klaren, daß in unserem Geist ein ständiger Prozeß stattfindet. Wenn sich vor mir ein Gebäude befindet, ist mir gerade einmal bewußt, daß sich dort ein Gebäude befindet. Ich analysiere nicht, um herauszufinden, daß vor mir ein Gebäude steht. Es ist eine spontane Wahrnehmung, die sofort klar ist. Alle Aklishta Vrittis sind von ähnlicher Natur. Wir sind uns nicht der mentalen Wahrnehmungen bewußt, denn sie quälen uns nicht permanent wie Nadelstiche, so wie es die Klishta Vrittis tun. Darum bedarf es größerer Aufmerksamkeit diese Vrittis, die keine Schmerzen bereiten, zu verstehen, als jene, die Schmerzen verursachen.