Yoga als eine universale Wissenschaft

  Kapitel 11:

  Die individuelle Selbsterziehung

Wir haben über das Wesen der Disziplinen, die als Yamas im Yogasystem von Patanjali bekannt sind, mit Hinblick auf das Verständnis für den allgemeinen Weg, dessen Bedeutung und Praxis, gesprochen. Doch neben der allgemeinen Bedeutung dieser Yamas-Regeln, gibt es auch tiefergehende Einzelheiten, die zum einen in Bezug auf die Gegebenheiten und zum anderen bei jedem Menschen unterschiedlich sind. Diese Einzelheiten muß jeder Schüler mit seinem Lehrer oder Guru behandeln. Yamas bedeuten Einschränkungen oder Disziplinen. ‘Yama’ ist ein Wort aus dem Sanskrit, und bedeutet soviel wie Kontrolle, Selbstbeschränkung oder Disziplin. Die andere Disziplin, die als nächste folgt, wird ‘Niyama’ genannt, was soviel wie das Einhalten bestimmter Grundsätze bedeutet. Insoweit wie diese Grundsätze reglementierte Einzelheiten betreffen, sind diese ähnlich wie die Yamas, doch sie unterscheiden sich von den Yamas in der größeren Nähe zur individuellen Persönlichkeit, die wiederum einen besonderen Bezug zum Verhalten oder die Beziehung zur äußeren Gesellschaft aufweisen. Während das eigene Verhalten hinsichtlich der Gesellschaft ein grundsätzliches Thema der Yamas ist, so ist die individuelle Selbstdisziplin in verschiedener Hinsicht das Thema der Niyamas.

Saucha oder Reinheit ist die erste Regel der Niyamas, die von Patanjali, dem großen Yoga Psychologen, erwähnt wird. Hier wiederum sind wir geneigt, sie mit der landläufigen Bedeutung in Verbindung zu bringen, so wie wir sie unter den normalen Lebensumständen in der Gesellschaft verstehen. Genausowenig wie die Bedeutung der Yamas ohne den Bezug zum Yoga verstanden werden können, so können auch die Niyamas nicht ohne den richtigen Bezug auf das Yogaziel verstanden werden. Weder Disziplinen noch Praktiken haben, ohne Bezug zum Sinn des Yoga, irgendeine Bedeutung. Das Ziel, was wir verfolgen, das große Ziel des Lebens, sollte in einem Zusammenhang mit unseren Bemühungen stehen. Alles ist irgendwie zielgebunden, welches wir letztendlich erreichen wollen. Wenn wir uns als Yogaschüler empfinden, sollte das Yogaziel einen Bezug oder eine Bedeutung in all unseren Bemühungen in sich tragen, egal ob Yama oder Niyama.

Die tiefere Bedeutung von Saucha oder Reinheit

Das, was wir als Reinheit bezeichnen, ist ein seltsames Verhalten bezüglich aller Dinge, die mit uns im Lichte des großen Yogazieles in Verbindung stehen. Es ist für einen normalen Menschen kaum zu verstehen, was rein und unrein bedeutet. Wir unterliegen bei unserem Verständnis ohne Zweifel einem allgemeinen Einfluß der Gesellschaft, doch dieses bringt nicht die notwendige Klarheit über die tiefere Bedeutung, wie sie in der Yogapraxis verstanden wird. Alle Verwicklungen des Bewußtseins bez. Dinge oder Umstände, die keinen direkten konstruktiven Bezug zum Yogaziel haben, werden als unrein angesehen. Dieses ist die wahre Bedeutung des Begriffes Saucha. Wenn wir mehrere Tage nicht gebadet haben, fängt unser Körper unangenehm zu riechen an und wir fühlen uns körperlich unrein. Obwohl wir vielleicht aufgrund mangelnder Körperpflege, über einen schlechten Körpergeruch verfügen, steht das nicht unbedingt im Zusammenhang mit unserer Gesundheit, wobei körperliche Reinheit als Gradmesser für die Gesundheit verstanden wird. Insoweit wie Gesundheit als Reinheit betrachtet wird, wird alles, was der Gesunderhaltung entgegensteht, als Unreinheit angesehen. In konventionellen Kreisen wird die Reinlichkeit des Körpers als Reinheit betrachtet. Wenn wir gebadet und frische Sachen angezogen haben, dann fühlen wir uns rein. Wir fühlen, daß wir dann in den Tempel gehen können, Puja zelebrieren, beten, Japa praktizieren und meditieren können. Dies ist eine Form der Reinheit und eine Notwendigkeit obendrein.

In den Yogatexten findet man jedoch bezüglich Saucha oder Reinheit nichts über körperliche Waschungen, obgleich dieses möglicherweise beinhaltet ist. Denn in uns kann es Unreinheiten geben, die sich von den körperlichen Unreinheiten wie dem Schweiß unterscheiden. Wir bestehen nicht nur aus dem Körper, sondern auch aus vielen anderen Dingen. Obwohl es notwendig ist, die Körperreinigung nicht zu vernachlässigen, so ist dies allein unzureichend, wenn andere Dinge dabei ungereinigt bleiben. Alle Aspekte sollten rein sein. Die Analyse der Persönlichkeit wird neben dem Körper offenbaren, daß es im Inneren die Pranas, die Sinnesorgane, den Geist und verschiedene andere Verzweigungen gibt. In der Vedanta-Philosophie spricht man von den fünf Koshas (Hüllen): Annamaya, Pranamaya, Manomaya, Vijnanamaya und Anandamaya Koshas. Das sind die Mäntel oder Hüllen, die den Geist (Spirit) umgeben. Die individuelle Persönlichkeit besteht aus Ebenen verschiedener Dichte mit verschiedenen Funktionen, die je nach Fortschritt und zu gegebener Zeit unterschiedliche Ideen und Ideologien hervorbringen. Darum müssen neben dem Körper, die Pranas, die Sinne, der Geist und der Intellekt ebenfalls rein gehalten werden. Diese Reinheit gibt jedem die Freiheit, losgelöst von allem, sich in Harmonie mit dem Yogaziel zu vereinen.

Krankheit ist nicht in Übereinstimmung mit dem Zweck des Yogas; eine Krankheit beeinflußt alles andere wonach man im Yoga strebt. Ähnlich kann es auch andere Krankheiten oder Ebenen unseres Körpers geben, die uns aufgrund verschiedener toxischer Formen beeinflussen. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Sinne hin zu den Objekten bewegen, sind im Astralkörper auch von toxischer Natur. Patanjali hat sich bezüglich Saucha nicht mit allen Einzelheiten befaßt. Wir müssen uns bei der Analyse nicht mit allen Kleinigkeiten befassen, die bei der Beachtung der Reinheit bezüglich der Hüllen der Persönlichkeit in Betracht kommen. Es reicht, wenn wir beachten, daß Reinheit, neben der Reinlichkeit des Körpers, die Rede und den Geist einschließt. Körperlich, in Rede und im Geist müssen wir Rein sein. Allgemein wird von den Menschen bezüglich Reinheit nicht die körperliche Reinheit, sondern auch die Kleidung und eine saubere Atmosphäre eingeschlossen. Die körperliche Reinheit ist vergleichsweise leicht zu bewerkstelligen. Verbale Reinheit ist schwierig, doch weitaus schwieriger ist eine Reinheit in mentaler oder psychologischer Hinsicht. Für den normalen Menschen ist mentale Reinheit beinahe unmöglich. Während man körperlich reinlich sein kann, so kann man in seiner Redeweise häßlich und antisozial eingestellt sein, und sehr verletzend gegenüber der Gesellschaft. Jede Form von verletzender Rede gegenüber anderen steht im Gegensatz von Saucha.

Ahimsa ist eine wundervolle Tugend. Alles andere kommt danach. Alle anderen Grundsätze von Yama und Niyama fallen unter diese weitgefaßten Oberbegriffe, was nur sehr schwer zu verstehen ist, doch ist dieses die wichtigste Grundlage oder Voraussetzung bzw. der Standard überhaupt. Die Wörter, die wir benutzen sollten positiv, konstruktiv, hilfreich, gesund, sanft und nicht abstoßend sein. In der Bhagavad Gita gibt es einen Vers in Bezug auf körperliche Reinheit, Reinheit im sprachlichen Ausdruck und Reinheit in den Gefühlen.

Es ist schwer zu verstehen, was mentale Reinheit wirklich bedeutet, denn dieses ist die Krönung der Saucha-Praxis. Wenn mentale Reinheit vorherrscht, folgen die anderen Reinheiten automatisch nach. Reine Gedanken sind eine Tugend, sogar noch mehr als eine Tugend. Es ist wie ein großer Schatz, ein Besitztum, ein Trost, eine große Stärke und eine Quelle der Energie des eigenen Selbst. Doch was ist ein reiner Gedanke? Während wir uns ein paar Gedanken über körperliche und verbale Reinheiten gemacht haben, ist es nur schwer zu verstehen, was man unter mentaler Reinheit zu verstehen hat. Wenn wir den Wert eines Gedankens im Lichte des Yogaziels beurteilen, sollte das jedoch nicht allzu schwer sein. Stimmt der Gedanke mit der Yogapraxis überein? Ist er hilfreich oder steht er irgendwie im Gegensatz zum Yogaziel, oder handelt es sich um eine anziehende Macht, die meine Energie in eine unerwünschte Richtung zieht? Die größte Reinheit entsteht im Geist, wenn ein Gedanke im Ziel des Yogas reflektiert wird. Wenn man seinen Geist auf das große Yogaideal richtet, um alle anderen Gedanken auszuschalten, wird der Geist die höchste mentale Reinheit erreichen, und alle anderen Gedanken würden eine Ablenkung bzw. Abweichung von der höchsten Norm psychologischer Reinheit bedeuten. Dieses ist die Definition psychologischer Reinheit. Es gibt noch weitere Definitionen, die aber alle auf etwas Ähnliches hinauslaufen. Jede Art von mentaler Kontemplation, die die Energie des Geistes in eine andere Richtung als unser Yogaziel lenkt, kann als unrein betrachtet werden.

Normalerweise wird das Wunschdenken als mentale Unreinheit verstanden. Doch das ist leicht dahergesagt, denn die wahre Bedeutung ist nur schwer zu verstehen, da es Wünsche unterschiedlichster Ausprägung gibt. Einige sind positiv und hilfreich, andere mögen anders sein. Hier sollte man vorsichtig herangehen, die Umstände berücksichtigen und nicht vorschnell urteilen, oder dort, wo das eigene Urteilsvermögen nicht ausreicht, einen Lehrer zu Rate ziehen. Man kann jedoch sagen, daß mentale Reinheit im Wesentlichen eine geistige Einstellung ist, die ausschließlich auf ein Leben abzielt, das schrittweise, Stufe für Stufe, den Weg zur Verwirklichung des höchsten Zieles ebnet. Und darum gibt es Stufen mentaler Reinheit, die nicht nur ausschließlich in klaren logischen Begriffen definiert werden können, ohne die jeweiligen Lebensumstände zu berücksichtigen, die man durchschreitet. Es mag hunderte von Stufen mentaler Reinheit geben, und es wird dann eine Stufe von höherer Reinheit geben, wobei die vorhergehende aus Sicht der höheren Stufe als unrein erscheinen mag. Von dem jeweiligen Standpunkt aus gesehen, kann jede Stufe unrein oder rein erscheinen, je nachdem wie wir es dann sehen. Hier handelt es sich wiederum um eine rein individuelle Sichtweise, die entsprechend der Umstände variiert. Die Führung eines Guru ist auch hier notwendig, um zu verstehen, wo wir uns selbst befinden.

Die Herrlichkeit der Zufriedenheit

Wenn man reinen Geistes ist, körperlich rein und rein in seiner Sprechweise ist, kommt die Zufriedenheit von innen her. Das ist Santosha. Es ist sehr wichtig, daß man unter allen Umständen glücklich ist. Wenn man niedergeschlagen und voller Kummer, melancholisch und verdrossen ist, zu weinen beginnt und aufgrund der Sorgen nicht mehr schlafen kann, nagt dieser Zustand an der Lebenskraft. Wie kann man unter diesen Bedingungen meditieren? Wie sollte es möglich sein, dann noch Asana, Pranayama oder Pratyahara zu praktizieren? Es ist leicht gesagt, daß man glücklich sein soll, obwohl es für viele Menschen nicht so leicht ist, immer glücklich zu sein. Dieses ist eine schwierige Sache. Und wir kennen die Gründe nur zu gut, warum wir nicht immer glücklich sind. Die Welt ist eine schreckliche Menschenfresserin. Es ist schwer in der Welt zu leben; die Situationen, denen wir tagtäglich begegnen sind sehr problematisch. Wie können wir da immer lächeln, wenn wir in die Hölle geworfen werden oder wenn die Sorgen in unserer Lebensmühle unaufhörlich mahlen? Doch gibt es einen Weg, auf dem wir immer glücklich sein können. Dies geschieht dann, wenn wir uns ständig das Ziel vor Augen halten. Möglicherweise leiden wir im Augenblick, sind voller Sorgen und fühlen uns in jeder Art hilflos, doch der Tag wird für jeden kommen, wo er Erfolg hat. Erfolglosigkeit ist für niemanden ein Ziel. Das letztendliche Ziel ist für jeden der Erfolg. Das ganze Universum bewegt sich auf den großen kosmischen Erfolg zu. Jeder einzelne ist Teil dieses Kosmos, und darum bewegt er sich ebenfalls auf diesen großen Absoluten Erfolg zu, obwohl es vorläufig so aussieht, als hätte er die Hauptlast der ihn konfrontierenden Sorgen zu tragen. Diese Sorgen müssen in ihrem wahren Geist angenommen und auf ihren wahren Gehalt geprüft werden.

"Selbst dieses wird vorübergehen." Viele von uns kennen diese Geschichte aus früheren Tagen. Ein persischer König ließ seinen Ring wie folgt signieren: "Selbst dies wird vorübergehen." Das ist nicht nur eine Geschichte, sondern eine große Lehre für jeden von uns. Selbst die schlimmsten Dinge werden vorübergehen, und niemand wird so bleiben wie er ist. Man mag geknechtet werden, und mag fühlen, daß man unter der Last dieser Lebensmühle schier zusammenbricht. Doch niemand kann völlig zermahlen werden. In jedem gibt es etwas Unsterbliches. All diese Sorgen, wie schwer sie auch wiegen mögen, werden früher oder später vorübergehen. Selbst, wenn es nicht so scheinen mag, daß sie in diesem Leben vergehen, dann werden sie in einem anderen Leben vorbei sein. Warum glaubt man, daß man unbedingt in der jetzigen kurzen Lebensspanne oder in der Spanne dieses Zeitprozesses alles Gute erreichen muß? Das Universum denkt nicht so wie wir. Seine Zeitrechnung reicht sehr weit, und unsere Zeitrechnung umfaßt nur Einhundert Jahre oder sogar weniger, was nichts im Vergleich zur weiten astronomischen und kosmischen Zeitperspektive ist.

Es gibt da eine Geschichte, die von Shri Ramakrishna Paramahamsa in humorvoller Weise erzählt wurde. Eines Tages ging Narada an einem Garten vorbei, und der Gärtner fragte den Heiligen Narada: "Meister, wo gehst Du hin?" Der große Heilige antwortete: "Ich gehe zum Darshan von Vaikuntha, dem Herrn des Himmels." "Oh, Du gehst zum Darshan des Herrn! Bitte frag’ IHN, wann ich Befreiung erreichen werde." Er war nur ein Gärtner, der verschiede Obstbäume anpflanzt. Narada sagte: "Sicherlich werde ich den Herrn fragen, und wenn ich zurückkomme, werde ich Dir Seine Antwort geben." Damit setzte Narada seinen Weg fort, und auf dem Weg traf er einen Bauern. Der Bauer stellte dieselbe Frage: "Herr, großer Meister, wohin gehst Du?" Der Heilige antwortete: "Ich gehe zu Vaikuntha, zur Heimstatt des Herrn." Und der Bauer äußerte eine ähnliche Bitte, wie der Gärtner vorher: "Bitte, frage den Herrn, wann ich Befreiung erreichen werde." Narada gab dieselbe Antwort wie zuvor: "Ja, wenn ich zurückkomme, werde ich Dir die Antwort des Herrn bringen." Nach einigen Tagen, kam Narada von Vaikuntha zurück und traf den Bauern. Sofort fragte der Bauer sehr ungeduldig: "Hast Du den Herrn getroffen?" "Ja. Ich habe IHN getroffen," antwortete Narada. "Hast Du IHN nach meiner Befreiung gefragt?" "Ja, Ich habe gefragt." "Hat ER Dir eine Antwort gegeben?" "Ja. ER gab mir eine Antwort." "Wie lautete seine Antwort?" "Du wirst noch weitere fünfzig Jahre auf Deine Befreiung warten müssen." Der Bauer war traurig, dies zu hören. "Ich habe den Namen Gottes gesungen. Ich habe gebetet. Ich habe meditiert. Ich habe Yoga praktiziert und Tag und Nacht denke ich nur an Gott. Und ich muß immer noch fünfzig Jahre warten! Welch ein Unglück!" Er tröstete sich selbst. Narada ging weiter und traf den Gärtner. Der Gärtner fragte: "Wie lautete die Antwort des Herrn?" "Du brauchst noch genauso viele tausend Jahre wie es Blätter an diesem Baum gibt, um Gott zu erreichen." Und Narada zeigte dabei auf einen nahestehenden Baum. Die Freude des Gärtners kannte keine Grenzen. Er war überaus glücklich. Er hüpfte vor Freude. "Somit bin ich danach reif!" Seine Denkweise unterschied sich von der des Bauern erheblich. Der Bauer schrie, weil er noch fünfzig Jahre warten sollte, und dieser Gärtner war außer sich vor Freude, weil er eine Antwort vom großen Meister, dem Absoluten Sein, erhielt, daß er danach reif wäre, Befreiung zu erreichen, selbst wenn diese Befreiung noch viele tausend Jahre entsprechend der Blätter auf dem nahestehenden Baum auf sich warten lassen würde. Die Geschichte erzählt, daß diese Freude derartig war, so daß augenblicklich all seine Sünden verbrannt wurden, und er im selben Augenblick göttliche Visionen hatte, wohingegen jener arme Bauer noch fünfzig sorgenvolle Jahre vor sich hatte.

Dies ist nur ein beispielhaftes Bild von Shri Ramakrishna Paramahamsa, der die menschliche Situation in Bezug auf die Liebe Gottes, die Yogapraxis und die Weise aufzeigen wollte, wie man mit sich selbst unter scheinbar armseligen, unbefriedigenden und irrsinnigen Bedingungen zufrieden sein kann. Wahrheit triumphiert - Satyameva jayate. Und wenn wir der Tugend der Wahrheit nur langsam näherkommen, bis zu dem Zeitpunkt, wo wir wirklich wahrheitsgetreu sind, werden wir automatisch in dieser Welt Erfolg haben. Und wenn irgend jemand nur ein bißchen ehrlich den Pfad der Hingabe zur Gottverwirklichung und der Yogapraxis im Wesentlichen beschreitet, bewegt er sich sicherlich auf dem Pfad der Wahrheit und wird insoweit auch Erfolg haben. Es ist niemandem vorbestimmt, für immer zur Hölle zu gehen. Wir sind alle dazu bestimmt, letztendlich das Absolute Sein zur erreichen. Die kleinen Sorgen, die Nadelstiche und die Rangeleien, die wir im Leben durchmachen müssen, sind die Folgen unserer früheren Aktivitäten. Wir haben in der Vergangenheit etwas getan, und die Reaktionen davon, begegnen uns heute als Dornen unter unseren Füßen. Darum sollten wir nicht unnötigerweise über die kleinen Schwierigkeiten in unserem Leben traurig sein. Sie werden vorübergehen, denn es sind Reaktionen unserer eigenen Aktionen. Und wenn sich erschöpfen und an Kraft verlieren, werden wir frei sein. Darum haben wir Grund, glücklich und zufrieden zu sein. Yadrischa-labha-santushtah, wie es in der Bhagavad Gita heißt. Laß uns unter allen Umständen zufrieden sein. Laß uns unter allen Umständen glücklich sein. Ansonsten werden wir über unnötige Dinge brüten; der Geist wird abgelenkt, und wir können uns nicht konzentrieren. Wenn wir uns als Yogaschüler empfinden, ist Zufriedenheit notwendig; man muß innerlich zufrieden sein und sich nicht über alles Mögliche beklagen. Der Yogaschüler sollte über nichts klagen. Dieses ist eine weitere Niyamaregel, deren Befolgung allen Yogaschülern durch das Patanjali-System auferlegt wurde.

Tapas - Selbstbeherrschung der ganzen Persönlichkeit

Die dritte Niyama-Regel ist Tapas oder Selbstbeherrschung. Dieses ist etwas, worüber es sich lohnt nachzudenken, wenn man seine wahre Bedeutung verstehen will. Selbstbeherrschung oder Tapas ist eine Art Selbstbeschränkung. Das individuelle Selbst mit all seinen Ausdrucksformen, hat die Neigung, sich zu äußeren Objekten hinzubewegen. Wir denken über die Dinge durch die Sinne. In unserer täglichen Existenz und aus praktischen Gründen, sind wir lediglich Denker. Wenn unser Geist über etwas Äußeres nachdenkt, denken ‘wir’ über etwas nach. Auf diese Weise wird unser Selbst zu dem Objekt hingezogen, über das wir gerade kontemplieren. So verlieren wir Energie. Jeder Gedanke an ein Objekt, kanalisiert die Kraft oder Energie in jene Richtung. Durch die Kontemplation auf äußere Objekte wird der Geist schwach und die Persönlichkeit hungert aus. Je mehr wir über äußere Objekte nachdenken, desto schwächer werden wir. Und je mehr wir den Drang der Sinne zügeln, desto mehr Energie wird konserviert und desto stärker sind wir, physisch und psychisch. Tapas bedeutet im Wesentlichen die Beherrschung der Sinne und des Geistes.

Um die Kontrolle der Sinne und des Geistes zu unterstützen, sind wir dazu angehalten, selbst die körperliche Selbstbeherrschung zu beobachten. Warum ziehen sich die Menschen in Ashrams und Klöster zurück? Warum bleiben sie nicht in Delhi oder Hollywood? Es hat einen körperlichen Grund, daß die Menschen sich der Kontrolle der Sinne und des Geistes annehmen, denn unser Umfeld hat auch seinen Anteil an der Selbstkontrolle, obgleich die Selbstkontrolle nicht nur körperliche Isolation bedeutet. Eine körperliche Isolation hilft bei der Kontrolle der Sinne und des Geistes. Obwohl unser Umfeld durch das Sehen und Hören zu unserem Geist spricht, und obwohl dadurch der Geist in den Gedanken und der Denkweise beeinflußt wird, darf unsere Umgebung nicht allein betrachtet werden. Darum schließt körperliche Selbstbeherrschung oder Tapas ein isoliertes Leben, frei von unnötigen Ablenkungen, ein. Und im positiven Sinne kann dies die Gesellschaft von Weisen, Heiligen bedeuten, was eine Hilfe auf dem Wege zur höheren Form von Tapas, dem Zurückziehen der Sinne und Gefühle, ist.

Die Kontrolle des Dranges der geistigen Sinne ist Tapas oder Selbstkontrolle. Tapas ist ein Wort aus dem Sanskrit und bedeutet "Hitze". Die Hitze der Kraft oder Energie wird erzeugt und steigert sich durch das Zügeln der Sinne und des Geistes in uns. Wir kühlen ab, wenn sich die Energie verflüchtigt. Wenn ein Mensch stirbt, werden seine Beine und seine Hände kalt, sein Körper kühlt ab, der Blutstrom stoppt und die Pranas (Energien) ziehen sich zurück, weil sich die Geisteskraft in eine andere Richtung bewegt. Wenn die Energie im Körper fehlt, fühlt er sich kalt an. Wenn die Tapashitze abfließt, frösteln wir in jeder Beziehung. Die Tapashitze ist so etwas wie elektrische Energie. Man kann nicht behaupten, daß elektrischer Strom heiß ist, obwohl derselbe Strom, wenn er auf besondere Art kanalisiert wird, Hitze produzieren kann. Elektrische Energie allein, ist weder kalt noch heiß, denn sie verfügt nicht über diese Charakteristik. Doch ist es eine Energie, die zu allem werden kann. Sie kann heizen, sie kann antreiben, heben, sie kann beinahe alles. Darum ist die Hitze oder Energie, die wir durch Tapas oder Selbstkontrolle konservieren eine solch unpersönliche Energie, die weder mit Hitze noch Kälte oder sonst irgend etwas anderes gleichzusetzen ist, obwohl diese Energie auf verschiedene Weise im Leben nützlich ist. Darüber hinaus ist diese Energie für die Konzentration des Geistes notwendig, denn Yoga ist nichts weiter als Konzentration des Geistes und Meditation des Bewußtseins. Das ganze Sein des Menschen, der Geist, Intellekt, das Gefühl und der Spirit müssen auf das absolute Ziel des Yoga ausgerichtet werden.

Wenn es nun irgendwo eine Bruchstelle in der elektrischen Leitung gibt, sinkt die Spannung. Ein Elektroingenieur würde sagen: "Irgendwo ist eine Bruchstelle, und darum sinkt die Stromspannung." Das kann uns allen passieren. Wenn wir irgendwo, in irgendeine Richtung durch unsere Sinne Energie verlieren, verlieren wir an Schwung. Durch Loslösung von äußeren Objekten, seinen sie körperlicher, verbaler, sensorischer oder mentaler Natur, kann man Energie sparen. Wenn man sich dementsprechend verhält, gewinnt man an körperlicher und mentaler Stärke und Gesundheit. Jemand, der Tapas praktiziert, wird stärker als jener, der dieses nicht macht, und seine Lebensenergie auf verschiedene Art und Weise verschwendet. Swami Shivanandaji pflegte zu sagen: "Tapas bedeutet, wie ein Feuer, mit der Hitze der Energie kontrollierter Sinne zu brennen." Jemand, der Tapas praktiziert, hat so ein Leuchten im Gesicht, ein Glanz in den Augen, eine Aura umgibt sein Antlitz, es ist so eine Kraft in seiner Sprache, aufgrund seiner Selbstbeherrschung verfügt er über eine körperliche Leistungsfähigkeit. Mit jedem Wort, das er spricht, schwingt eine enorme Überzeugungskraft. Doch ohne sein Tapas, wirkt dasselbe Wort kalt und würde die Zuhörer nicht erreichen. Tapas bedeutet Selbstbeherrschung der ganzen Persönlichkeit, - dem Körper, der Sprache, den Sinnen und dem Geist. Tapas ist eine der Haltungen oder Niyamas.

Svadhyaya oder das Studium Heiliger Schriften

Saucha, Santosha und Tapas (Reinheit, Zufriedenheit und Selbstkontrolle) sind die drei behandelten Themen von Niyama, wobei sie schwer zu praktizieren sind, wenn sie nicht durch einfachere Praktiken unterstützt werden. Da die bereits behandelten Praktiken schwierig sind, müssen sie von einfachere Praktiken, wie dem Studium der Heiligen Schriften, begleitet werden. Wenn jede Art von Praxis unmöglich scheint, können wir immer noch die Heiligen Schriften studieren. Wir können bestimmte Kapitel der Bhagavad Gita laut rezitieren, und wir werden inspiriert sein. Wir können bestimmte Kapitel der Dhammapada oder die Bergpredigt laut lesen. Wir können die großen Lieder der Alvars und der Nayanars, der Heiligen, der Bhaktas und der Devotees laut singen. Da gibt es die Schriften der Meister, Yogis und der Apostel. Wir können deren inspirierenden Ausführungen studieren und werden uns inspiriert fühlen. Wir können Parayana (absolute Hingabe) zur Srimad Bhagavata, zur Vishnu Purana, zur Mahabharata üben. Wir werden uns von innen her aufs höchste angeregt fühlen. Das allein ist Tapas. Svadhyaya allein ist eine große Disziplin, eine große Hingabe, ein Verehren und eine Meditation.

Svadhyaya ist selbst eine Religion. Es gibt Menschen, die verbringen ihr ganzes Leben ausschließlich mit Parayana. Diese Menschen kennen weder irgendeine andere Yogapraxis, noch wollen sie etwas anderes als Parayana ausüben. Der spirituelle Sucher sollte jeden Tag einen Heiligen Text rezitieren, seinen Geist auf dessen Bedeutung konzentrieren und ihn verinnerlichen. Wenn man seinen eigenen Geist nicht selbst auf erhabene Gedanken richten kann, muß man die Gedanken großer Heiliger zu Hilfe nehmen, die wir in den Schriften finden. Wenn man nicht selbständig in solchen Dimensionen denken kann, dann kann man zu anderen großen Denkern gehen, die mit jedem in der jeweils eigenen Sprache kommunizieren. Svadhyaya bedeutet nicht, daß man in eine Bibliothek geht und irgend etwas liest. Das ist etwas ganz anderes. Svadhyaya bedeutet das Studium Heiliger Schriften, ein Studium des eigenen Selbst. ‘Sva-adhayaya’ ist mehr noch ein Studium von allem, was mit der Natur des eigenen Selbst, mit der Praxis der Selbstkontrolle, mit dem Ziel des Lebens, dem Yogaziel oder der Gottverwirklichung verbunden ist. Svadhyaya ist ein heiliges Studium, und nicht nur das Lesen eines Buches zum Zweck der Information. Obwohl man durch das Lesen in einem Lexikon über Großbritannien viele Informationen bekommen kann, so ist es doch nicht Svadhyaya. Svadhyaya ist das Studium Heiliger Schriften, die mit Göttlichem angefüllt sind. Das Mantrasingen wird auch als Teil von Svadhyaya betrachtet. Japa, OM oder das eigene Heilige Mantra, das man von seinem Guru erhalten hat, wird neben dem Studium Heiliger Texte auch als Teil von Svadhyaya bezeichnet. Darum kann man das Japa eines Mantras oder das Studium Heiliger Schriften als Svadhyaya für sich in Anspruch nehmen.

Ishvara Pranidhana oder Hingabe zu Gott

Ishvara Pranidhana ist der fünfte Punkt, der bei den Niyamas erwähnt wird. Das tägliche Gebet zu Gott ist ein großes Tapas allein. Wenn wir morgens aufwachen, müssen wir vom Grunde unseres Herzens, aus tiefster Seele beten und Gott anrufen. Dies ist Meditation; dies allein ist vollkommenes Yoga und bedarf keiner Ergänzungen. Es können mehr Dinge durch Beten vollbracht werden, als man zu träumen vermag. Beten ist eine große Macht. Durch Beten allein, können wir Gott bzw. das große Yogaziel erreichen, vorausgesetzt wir beten von ganzem Herzen und nicht nur mit den Lippen. Unsere Gebete kommen nicht immer nur von Herzen. Die Messe in der Kirche oder die Puja, die im Tempel abgehalten wird, sind lediglich mechanische Routinen. Die Menschen kommen einer Gewohnheit nach und gehen zur Kirche oder zum Tempel, doch ihr Geist ist woanders. Sie sind nicht mit dem Herzen dabei, wenn sie beten oder Gott anrufen. Darum können ihre Gebete nicht Gebete genannt werden. Gott hört auf die Gebete, die aus der Seele der Menschen kommen, und nicht auf Lippenbekenntnisse. Wenn Ishvara Pranidhana oder die Hingabe zu Gott, Verehrung, Zuneigung und verschiedene andere Formen der Verehrung einschließt, wird es als Teil der Niyamas betrachtet.

Das Befolgen von Saucha, Santosha, Tapas, Svadhyaya und Ishvara Pranidhana sind - im wahrsten Sinne des Wortes - persönliche Praktiken von religiöser Natur, und die müssen Hand in Hand mit den Niyamas gehen: Ahimsa, Asteya, Brahmacharya und Aparigraha, die bereits erwähnt wurden. Auf diese Weise bilden Yamas und Niyamas die Grundlage für die weiteren Yogastufen und Praktiken. Diese Yamas und Niyamas sind keine moralischen oder ethischen Predigten der Yogalehrer, sondern wissenschaftliche, unvermeidliche Disziplinen, die unter keinen Umständen verletzt werden dürfen. Das Einstimmen auf die verschiedenen Stufen der Prakriti, sind die Stufen der Yogapraxis. Das Patanjali-System der Samyama (Konzentration, Meditation und Samadhi) dient dazu, den Einzelnen mit einer systematischen Technik mit den verschiedenen Ebenen des Kosmos in Einklang zu bringen. Darum sagt man, daß Samkhya die Grundlage des Yoga ist; aber auch ein Wissen über die Natur von Purusha und Prakriti ist notwendig, um die verschiedenen Stufen der Disziplinen des Patanjali-Systems zu verstehen, die als Yama, Niyama, Asana, Pranayama, Pratyahara, Dharana, Dhyana und Samadhi bekannt sind.