Sivananda Yoga - von Swami Venkatesanand


Theorie und Praxis


Die Yoga Vedanta Forest Academy (ursprünglich Universität genannt) war ein Idee Swami Sivanandas. Als er sie verwirklichte, hatte er eine bestimmte und für ihn charakteristische Vision – die der Synthese von Theorie und Praxis.

In einem besonderen Teil des Himalajas gibt es viele erleuchtete Seelen (einige davon ewig schweigsam, andere mit ihren eigenen Praktiken beschäftigt) ohne den Drang – und manchmal die Möglichkeit – mit anderen zu kommunizieren. Wenn man hingeht und mit ihnen das lebt, was als Shaktiweg bekannt ist, wird man vielleicht auch Erleuchtung erreichen – aber es ist ebenso möglich, dass man es nicht erreicht.

Für die große Mehrheit der Menschen ist eine theoretische Einführung sehr wichtig, bevor sie anfangen Yoga zu praktizieren. Gewöhnlich fangen sie erst mit Karma Yoga (Yoga des Handelns) an, dann kommt Bhakti Yoga (Yoga der Hingabe), dann Raja Yoga (Yoga der Geisteskontrolle) und danach Jnana Yoga (Yoga des Wissens). Es gab einmal einen großen Acharya mit Namen Ramanuja. Seine Theorie war, dass Bhakti nach Jnana kommt, denn wie kann man etwas lieben, dass man nicht kennt? Wirkliches Bhakti (Hingabe) entsteht, wenn man einiges über den Menschen oder das Prinzip weiß. Tausende von Menschen mögen potentielle Yogis sein und Yoga praktizieren wollen. Wenn sie die Yogaphilosophie kennen lernen würden, würden sie wahrscheinlich diesen Weg beschreiten, aber sie werden von den Weisen, die intuitiv, ohne intellektuelles Verständnis das Ziel der Verwirklichung erreicht haben, vernachlässigt.

Krishna schlägt in der Bhagavad Gita vor:
Chaturvidha bhajante mam janah sukrtino ’rjuna Arto jijnasur-artharthi jnani cha bharatarshabha (VII. 16)

Vier Arten von tugendhaften Menschen verehren mich, O Arjuna, die Unglücklichen, die Wissbegierigen, die nach Wohlstand Strebenden, und die Weisen, O Herr der Bharatas.

Sehr unterschiedliche Menschen wollen den spirituellen Weg begehen. Darunter sind die Jijnasus (Menschen, die wissen wollen). Wenn man ihnen sagt, sie müssten wie jene stummen Yogis werden, wenden sie sich entweder vollständig ab, verschwenden ihre Zeit, oder, was noch gefährlicher ist, stellen sich vor, sie wären wie ihre Meister geworden. Bloßes Geradesitzen ohne jede Bewegung macht niemanden zu einem erleuchteten Menschen. Swami Sivananda selbst amüsierte sich über diese Menschen, indem er sie mit Steinen im Ganges verglich. Die Steine liegen auch da tausende von Jahren, unbeweglich. Sind sie auch erleuchtet?

Zwei Ereignisse fallen mir ein. Damals im Jahre 1946, als das Gangesufer noch nicht erschlossen war (oder noch nicht verdorben, das hängt ganz von der Ansicht ab), gab es noch keine Stufen. Es gab eine längliche Veranda vor dem Postamt; da waren unsere Küche, unser Esszimmer, Satsangort, Büro und eben alles zu jener Zeit. Swami Sivananda leitete dort von 4.15 bis etwa 6.00 Uhr eine Morgenmeditationsstunde. Direkt auf dem Gangesufer bläst früh am Morgen ein heulender Wind, aber trotzdem kam er, genau 4.00 Uhr aus seinem Zimmer, mit einem großen Mantel und einem Schal, der als Turban gebunden war, bekleidet. Es war ein aufregender, inspirierender Anblick, diesen Jivanmukta (lebendig Befreiter) nur aus seinem kleinen Kutir (kleines Haus) herauskommen zu sehen. Regelmäßig und pünktlich nahm er an der Meditationsstunde teil. Ein Besucher aus Andhra Pradesh hatte keine Lust, an dieser Stunde teilzunehmen, saß aber dafür um 4.00 Uhr stocksteif auf einem riesigen Felsen. Eines Tages saß Swami Sivananda auf einer Zementbank, und wir waren seit einer halben Stunde in Gespräche vertieft. In der Zwischenzeit hatte dieser Herr seine Meditation beendet und kam durch die gegenüberliegende Tür herein.

Swami Sivananda sah ihn an, wobei ein Auge geschlossen war. (Er schloss gewöhnlich ein Auge, wenn er etwas Interessantes sagen wollte!) Ein paar Minuten lang befragte Swami Sivananda ihn, und er erzählte, dass er jeden Tag von vier bis sieben meditierte. Swamiji sah aus als würde er ihn bewundern. Aber auf einmal veränderte sich die gesamte Szene. Er lachte: ”Seht ihn euch an! Müde und verschlafen. (Zu ihm) Was machst Du? Sitzt und schläfst auf dem Felsen? Weißt Du, was Meditation bedeutet? Was Samadhi bedeutet? Die Unendlichkeit zu berühren. Weißt Du, welche Kraft, welche Energie Du bekommst, wenn Du die Unendlichkeit auf diese Weise berührst? Du sagst, dass Du drei Stunden lang tiefe Meditation und Samadhi erlebt hast. Dennoch siehst Du hinterher müde und verschlafen aus. Geh und wasch Dir Dein Gesicht.” Zu jener Zeit gab es hier keinen Wasservorrat. Wir bildeten gewöhnlich eine Kette von Wasserträgern vom Ganges bis zur Küche im Keller. Swami Sivananda sagte zu dem Mann, ”Schließ Dich ihnen an, mach den Tank voll, dann weißt Du, was Samadhi bedeutet.” Samadhi ist also nicht bloßes Sitzen. Wenn das Samadhi ist, haben alle Steine am Gangesufer Samadhi erreicht!

Das zweite Erlebnis ist mir selbst passiert. An einem Tag im Jahre 1948 ging ich im Abstand von drei Stunden mehrmals hinunter zum Ganges. Ich sah einen fast nackten Asketen mit halb geschlossenen Augen unter einem Baum sitzen. Ich dachte, er wäre ein großer Yogi, der mehr als zehn Stunden am Stück meditieren konnte. Eines Nachts gab es etwas Aufruhr in dem Tempel, wo er als Gast untergebracht war. Am nächsten Tag war er abgereist. Als ich mich erkundigte, sagte der Tempelpriester zu mir, dass er gar kein wirklicher Sadhu (heiliger Mann), sondern ein schlechter Kerl und dass seine Fähigkeit, unbeweglich zu sitzen, das Resultat irgendeiner Droge war!

Wenn man jemanden lange Zeit stillsitzen sieht und versucht, es ihm nachzumachen, ohne erfolgreich zu sein, dann gibt man entweder die ganze Sache auf, bildet sich ein, man hätte diesen Zustand auch erreicht oder findet eine Abkürzung dahin. Irgendjemand kommt vorbei und sagt: ”Du verschwendest deine Zeit. Versuche mal diese Droge hier, und dann wirst du wirkliche Samadhi erleben.” Und dann glaubt man vielleicht, dass der spirituelle Lehrer es genauso macht. Es führt zu allerlei Perversionen. Wenn man also diese Menschen, die sich in Höhlen zurückgezogen haben, nachahmt, wird man vielleicht wie sie, aber vielleicht auch nicht. Vielleicht gleitet man ins Tamas (Trägheit), was sehr leicht passieren kann, ab. Also braucht man ein wenig mehr Wissen.

Für einen Mouni Jivanmukta (einem Selbstverwirklichten, der das Schweigegelübde abgelegt hat) ist es möglich, seine Shakti (Kraft) an einen Adhikari (qualifizierter oder reifer Suchender) zu übertragen. Adhikari ist das allerwichtigste. Ein Student, der innerlich reif ist (wie Sukadeva), braucht nur ein klein wenig Konzentration, und er weiß, was wirklich ist. Aber was geschieht all den tausenden von Menschen, die nicht so weit entwickelt sind, die noch etwas mehr theoretische Hilfe benötigen? Swami Sivananda meinte, dass  die Yoga Vedanta Forest Academy Wissen über sowohl Theorie als auch Praxis vermitteln sollte. Ein Mouni Jivanmukta mag keinen großen theoretischen Hintergrund haben. Wenn man hinunter nach Binares oder andere solche Orte geht, wird man Menschen finden, die lehren, sich aber nicht an ihre Lehren halten. Swami Sivananda respektierte sie, wie jeden anderen, aber ohne sie besonders zu achten. Das folgende Ereignis veranschaulicht dies: Das heutige Postamt war damals unser Büro. Drei von uns saßen zusammen mit Swamiji im Büro.

In jenen Tagen hatten wir nicht so viel zu tun, so dass es eine Menge Freizeit gab und Swami Sivananda viel Zeit für uns hatte. Eines Tages früh am Morgen kam ein Doktor der Philosophie herein. Swami Sivananda hieß ihn willkommen. Er setzte sich und sagte: ”Swamiji, ich habe eine Frage. Bitte sage mir, was der Unterschied zwischen Nirvikalpa Samadhi und Savikalpa Samadhi.” Das war eine Gelegenheit für uns zu lernen – wir hätten uns nicht gewagt, eine solche Frage selbst zu stellen – darum legten wir alle die Arbeit nieder und lauschten. Das war eine Eine-Million-Dollar-Frage! Swamiji setzte die Brille auf und sah ihn an. ”Hast du schon gefrühstückt?”, fragte er ihn. ”Möchtest du gern Tee oder Kaffee?” Der Mann musste antworten. Er sagte: ”Tee, Swamiji.” Nun wurden Tee, Früchte und Bücher gebracht. Der Doktor genoss seinen Tee und etwas Idli (indisches Gericht). Und dann kam seine Frau. Sie kam ins Büro, blickte finster drein und sagte: ”Wie lange habe ich da auf dich gewartet! Komm, wir gehen.” Und still stand er auf, verbeugte sich vor Swamiji und sagte: ”Ich gehe.” Als er gegangen war, lachte Swamiji lange. Es war ein schönes Lachen. ”Er will wissen, was Savikalpa Samadhi ist. Seine Frau sieht ihn ein Mal an und er geht.” Das ist der Typ Mensch, den man sonst wo findet – pandits (Schriftgelehrte) mit enormem Wissen, die einen mit Diskursen über einen halben Vers der Bhagavad Gita stundenlang fesseln können. Fantastisch. Swami Sivananda liebte sie, bewunderte ihren Intellekt, aber das war alles!

Es gab noch ein sehr amüsantes Ereignis. Auf Swami Sivanandas All-Indian-Tour begegneten ihm einige Gelehrte in Varanasi. Als er, sie grüßend, an ihnen vorbeiging, fragte einer von ihnen etwas auf Sanskrit. Swami Sivananda drehte sich zu ihm und fragte: ”Comment ca va, comment vous appelez vous?” (zwei französische Sätze, die er gelernt hatte). Der Schriftgelehrte starrte ihn mit heruntergeklapptem Unterkiefer an. Er verstand die Antwort nicht. (Moral: Sprache dient der Kommunikation, nicht der Angeberei.) Also muss man kommunizieren, und man muss lernen, wie man kommuniziert. Theorie und Praxis müssen Hand in Hand gehen. Das eine ist nicht der Feind des anderen sondern sein Freund und das eine ist ohne das andere nutzlos. Außer der Gefahren, die ich schon genannt habe, gibt es noch eine Weitere. Swami Sivananda selbst hat uns erzählt, dass sein einziger Wunsch war, unter einem Baum zu sitzen und die Namen Gottes zu singen, Japa (Mantrawiederholung) zu machen – und weiter nichts. Er mochte Kirtan gern und begann jede Tätigkeit damit. Jede Gelegenheit erforderte das Singen der Namen Gottes. Wenn jemand krank war, jemand starb, tot war, geboren wurde oder heiratete, wenn ein Gründungsstein gelegt wurde oder ein Gebäude abgerissen, sang er Hare Rama.

In einem seiner frühen Briefe an seinen ältesten Schüler Swami Paramanandaji hatte er sogar gesagt, dass wir ganz Indien allein durch Sankirtan verändern sollten. Er liebte es, als er noch im Swargashram lebte, Sankirtan Konferenzen zu leiten oder an diesen teilzunehmen. Noch bevor es die Divine Life Society (gemeinnützige Organisation, von Swami Sivananda gegründet) gab, hatte er einige Sankirtanisten-Gruppen zwecks Organisation und Durchführung von Sankirtan-Konferenzen begründet. Aber sehr bald entdeckte er, dass es zu einer Art Emotionalismus degenerierte – Menschen sprangen und tanzten und nannten es Ekstase. Ekstase kann man zweifelsohne durch Sankirtan erreichen, aber das kann nicht jeder. Und bald kam es zu einem Machtkampf, weshalb er sich innerhalb eines oder zwei Jahren eines anderen besann. Er sagte: ”Sankirtan allein ist nicht gut. Es führt zu Emotionalismus. Es bedarf etwas Jnana, etwas Verständnis. Kirtan heißt, Gottes Namen zu singen, nicht einen musikalischen Wettkampf zu führen. Das Bhava (die innere Einstellung) ist wichtig, und man muss lernen, Bhava zu erkennen und zu verstehen.” Mit den Jahren entwickelte er ein System der Synthese. Praxis ist extrem wichtig, aber nicht ohne Verständnis. Wenn man theoretisches Verständnis erlangt, muss es gleichzeitig einem selbst und anderen helfen. Man soll so viel lernen, wie man kann und dann hinausgehen und dieses Wissen teilen, ohne zur glauben, dass man allwissend ist. Je mehr man theoretisches Verständnis und das praktische Wissen erlangt, desto mehr soll man es verbreiten und Gott widmen und als Verehrung darbringen. Swami Sivananda bestand darauf. Man soll alles teilen, was man hat – das Wissen von Yoga und Vedanta eingeschlossen.

Auf diese Weise legt man seine Schüchternheit ab und eigene Ideen und Wissen werden klarer. Ansonsten ist man sein einziger und größter Bewunderer! Man ist absolut überzeugt davon, alles gelernt zu haben und zu wissen, und solange man nichts sagt, gibt es niemanden, der dieser Überzeugung widerspricht. Doch wenn man etwas sagt, und ein paar Leute lachen, dann erkennt man, dass man gar nicht so clever ist! Also gibt es da einen Ansporn, mehr zu lernen. Swami Sivananda hat diese Yoga Vedanta Forest Academy gegründet, um uns in der Theorie und Praxis des Yoga Vedanta auszubilden – nicht bloß Theorie, nicht bloß Praxis sondern beides zusammen – damit dieses Wissen weit verbreitet werden konnte; damit die, die neugierig sind, mit der Zeit vielleicht Jnanis werden, weil sie herausfinden, was sie suchen und sie auch den Weg und das Ziel kennen.