Goraksha Shataka - Version 2

 

Vers 100: Wechselatmung mit Visualisierung

 

Wenn (der Yogi) den Atem durch das linke Nasenloch (Ida) einzieht, soll er, nachdem er ihn maßvoll (angehalten hat), wieder durch das andere Nasenloch ausatmen. Wenn er den Atem durch das rechte Nasenloch (Pingala) eingezogen hat, soll er ihn anhalten, und dann durch das linke (Nasenloch) ausatmen. (Indem er) in dieser Weise in Verbindung mit der (jeweiligen) Meditation auf (eines der) beiden (innerlich visualisierten) Abbilder von Sonne und Mond (praktiziert), werden sämtliche (feinstofflichen) Energiekanäle des Yogi innerhalb von drei Monaten gereinigt.


    प्राणं चेदिडया पिबेत्परिमितं भूयोऽन्यथा रेचयेत्
    पीत्वा पिङ्गलया समीरणमथो बद्ध्वा त्यजेद्वामया |
    सूर्यचन्द्रमसोरनेन विधिना बिम्बद्वयं ध्यायतः
    शुद्धा नाडिगणा भवन्ति यमिनो मासत्रयादूर्ध्वतः || १०० ||

    prāṇaṃ ced iḍayā pibet parimitaṃ bhūyo'nyayā recayet
    pītvā piṅgalayā samīraṇam atho baddhvā tyajed vāmayā |
    sūrya-candramasor anena vidhinā bimba-dvayaṃ dhyāyataḥ
    śuddhā nāḍi-gaṇā bhavanti yamino māsa-trayād ūrdhvataḥ || 100 ||

    pranam ched idaya pibet parimitam bhuyo’nyaya rechayet
    pitva pingalaya samiranam atho baddhva tyajed vamaya |
    surya-chandramasor anena vidhina bimba-dvayam dhyayatah
    shuddha nadi-gana bhavanti yamino masa-trayad urdhvatah || 100 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

    prāṇam : den Atem, die Lebensenergie (Prana)
    cet : wenn (Ched)
    iḍayā : durch Ida (den Mondkanal, das linke Nasenloch)
    pibet : man einatmet (den Atem "einsaugt", pā)
    parimitam : den (bei gefüllter Lunge) angehaltenen ("beschränkten" Atem, Parimita)
    bhūyaḥ : wieder (Bhuyas)
    anyayā : durch den anderen (Kanal, das andere Nasenloch, Anya)
    recayet : man soll ausatmen (ric)
    pītvā : nachdem man eingeatmet hat (“eingesaugt” hat, pā)
    piṅgalayā : durch Pingala (den Sonnenkanal, das rechte Nasenloch)
    samīraṇam : den) Atem ("Wind", Samirana)
    atho : nun, dann (Atha U)
    baddhvā : nachdem man angehalten hat (bandh)
    tyajet : man entlasse (ihn, tyaj)
    vāmayā : durch den linken (Kanal, das linke Nasenloch, Vama)
    sūrya-candramasor : von Sonne (Surya) und Mond (Chandramas)
    anena : auf diese (Idam)
    vidhinā : Art (und Weise, Vidhi)
    bimba-dvayam : auf die beiden (Dvaya) Abbilder (Bimba)
    dhyāyataḥ : (in Verbindung) mit der Meditation (Dhyana)
    śuddhāḥ : rein (Shuddha)
    nāḍi-gaṇāḥ : die Scharen (Gana) der feinstofflichen Energie-)Kanäle, (Nadi)
    bhavanti : werden (bhū)
    yaminaḥ : des sich zügelnden (Yogis, Yamin)
    māsa-trayāt : drei ("einer Dreiheit von", Traya) Monat(en, Masa)
    ūrdhvataḥ : nach (Urdhva)

Anmerkungen: Dieser Vers wird mit ein paar Lesarten in der Hatha Yoga Pradipika (2.10) sowie in der Yogachudamani Upanishad (Vers 98) überliefert. Letztere liest im dritten Pada bindu-dvayam "die beiden Punkte" statt bimba-dvayam, wobei mit Bindu entweder auf die beiden innerlich visualisierten (symbolischen) Abbilder von Sonne und Mond bezug genommen wird (Bindu kann auch ein innerlich wahrgenommenes Licht bedeuten), oder es sind die beiden in YCU 60 erwähnten Arten des Bindu (Shukra und Maharajas) gemeint (vgl. Vers 72 der Version 2 des Goraksha Shataka). Diese haben ihren Sitz jeweils in der körperlichen Entsprechung von "Mond" und "Sonne" (vgl. YCU 61 bzw. GŚ 2, 73).

In HYP 2.10 fehlt dieser Aspekt der Meditation bzw. Visualisierung. Dort heißt es im dritten Pada sūrya-candramasor anena vidhinābhyāsaṃ sadā tanvatāṃ, wobei sich "Sonne" und "Mond" wieder auf Pingala und Ida im ersten Halbvers beziehen: "(der Yogis), die in dieser Weise die Praxis (Abhyasa) von Sonnen- und Mond(kanal) kontinuierlich ausüben ..."