Das Überbewusstsein und die anderen Ebenen des Bewusstseins

Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen den ersten drei Bewusstseinsebenen und der vierten: (Fast) alle Menschen erfahren täglich die ersten drei Bewusstseinsebenen. Die vierte wird allerdings nur von wenigen erfahren. Manche kommen von selbst zu diesem Erleben der Einheit, die meisten durch systematisch geübte spirituelle Praktiken.

Die vier Bewusstseinsebenen sind nicht als gleichberechtigte Ebenen zu verstehen, sondern als Hierarchie: Tiefschlafbewusstsein ist die niedrigste Ebene. Traumbewusstsein ist die zweite Ebene. Wachbewusstsein ist dem Traumbewusstsein überlegen: Im Wachbewusstsein erkennt man, dass die Traumwelt „nur“ ein Traum, eine Illusion war und aus dem eigenen Geist geschaffen wurde. Wenn man im Traum von einem Tiger verfolgt wurde und aufwacht, sagt man sich: „Es war nur ein Traum.“

Überbewusstsein und Wachbewusstsein

Shiva und ShaktiDas Überbewusstsein wiederum ist dem Wachbewusstsein überlegen. Vom Standpunkt des Überbewusstseins ist das Wachbewusstsein wie das Traumbewusstsein. Die so genannte Wachwelt ist auch nur Illusion. Die Kategorien Zeit und Raum sind Illusion. Welt und Individuum sind in Wahrheit nur Manifestationen von Bewusstsein (Shiva) und reiner Energie (Shakti), die letztlich eins sind, jenseits von Zeit und Raum.

Es gibt einen Unterschied zwischen Wachbewusstsein und Überbewusstsein im Verhältnis zum darunter liegenden Bewusstseinszustand: Wenn man vom Wachbewusstsein aus einschläft und träumt, kann man alles dabei Erfahrene im Wachbewusstsein wieder vergessen. Man kann also wieder in den gleichen Alptraum rutschen und wieder vor dem gleichen Tiger angsterfüllt davonlaufen. Wenn man dagegen einmal im vollen Überbewusstsein gewesen ist, wird diese Erfahrung der Einheit auch im Gedächtnis bleiben, wenn man wieder in das Wachbewusstsein zurückkommt.

Wirkung des Überbewusstseins auf den Alltag des Wachbewusstseins

Auch wenn man die Welt wieder in Zeit, Raum, Sinneswahrnehmungen, Gedanken und Erinnerungen wahrnimmt, bleibt die Erkenntnis aus dem Überbewusstsein: „Alles ist eins.“ Es ist ähnlich wie bei einer optischen Täuschung: Wenn man sie einmal durchschaut hat, wird man von ihr nicht mehr getäuscht, auch wenn man weiter in der Lage ist, zu erkennen, warum andere dadurch getäuscht werden. So führt das Überbewusstsein zu Moksha, zur Befreiung, und zu Jnana, zur Erkenntnis. Diese Erkenntnis der Einheit führt den Selbstverwirklichten zur Erfahrung universeller Liebe, wenn er im Normalbewusstsein handelt. Swami Sivananda nennt dies das „Doppelbewusstsein“ des Jivanmukta, des lebendig Befreiten. Er vermag zum einen, die Welt so zu sehen, wie jeder andere im Wachbewusstsein. Zum anderen bleibt die Erinnerung aus dem Überbewusstsein, dass letztlich alles eins ist, alles miteinander verbunden, dass jedes individuelle Bewusstsein Ausdruck des einen, allumfassenden Kosmischen Bewusstseins ist.

Luzide Träume und Überbewusstsein

Mann in MeditationEine Analogie ist das „luzide Träumen“, bei dem der Träumer weiß, dass er träumt. Er sieht zwar die Traumwelt, sieht sich selbst in der Traumwelt, weiß aber, dass alles Traum ist und seinem Unterbewusstsein entspringt. So kann er das Träumen genießen, Erkenntnisse gewinnen, sich aber ganz frei fühlen. Und er kann aufwachen, wann immer er es möchte. So ist es auch mit dem Jivanmukta. Er weiß: Alles ist Manifestation der Kosmischen Shiva-Shakti. Er sieht jedoch die Welt auch in der Dualität. So kann er in der Welt sein Karma ausarbeiten, relative Erkenntnisse gewinnen, anderen in der Dualität helfen. Und er kann in der Meditation jederzeit vollständig in den vierten Bewusstseinszustand, ins Überbewusstsein, wechseln.

Zwischenebenen des Bewusstseins

Zwischen den vier beschriebenen Hauptbewusstseinszuständen gibt es eine Reihe anderer Bewusstseinszustände. Tagträume beispielsweise sind zwischen Wachen und Träumen angesiedelt, ebenso die für Autofahrer so gefährlichen Döszustände. Von besonderem Interesse sind die so genannten außergewöhnlichen Bewusstseinszustände zwischen Wachen und Überbewusstsein oder auch zwischen Überbewusstsein und Traumbewusstsein. Die verschiedenen außergewöhnlichen Bewusstseinszustände befinden sich in einem Dreieck zwischen Wach-, Traum- und Überbewusstsein:

Dreieck zwischen Wach- , Traum- und Überbewusstsein

Patanjali und die außergewöhnlichen Zustände des Bewusstseins

Die außergewöhnlichen Bewusstseinszustände können auf verschiedene Weisen entstehen. Der Yoga-Meister Patanjali schrieb im Yoga Sutra vor etwa 2000 Jahren: „Siddhis sind (1) angeboren, kommen durch (2) Aushadhi (medizinische Kräuter, Drogen), (3) Mantras, (4) Tapas (spezielle Praktiken, Disziplin, Askese) oder (5) Samadhi (höhere Meditation).“ Siddhis kann man sowohl als außergewöhnliche Fähigkeiten als auch als außergewöhnliche Bewusstseinszustände verstehen. Patanjali beschreibt also fünf verschiedene Weisen, in diese außergewöhnlichen Bewusstseinszustände zu gelangen:

(1)    Von selbst: Manche Menschen haben ganz natürlich die Fähigkeit, in andere Bewusstseinszustände zu kommen. Das kann in unserer Gesellschaft sehr problematisch sein, weil dies oft pathologisiert, also als Krankheit angesehen wird und weil wenig Verständnis dafür existiert, und noch weniger Wissen, wie man damit umgeht.

(2)    Aushadhi (medizinische Kräuter, Drogen): Weil Menschen intuitiv wissen, dass die Erfahrung des Normalbewusstseins nicht alles sein kann, versetzen sich viele mittels Rauschmitteln auf künstliche Weise in Rauschzustände. Interessanterweise werden in fast allen Kulturen bewusstseinsverändernde Rauschmittel verwendet. Diese reichen von alkoholischen Getränken über Pilze, Pflanzen, Wurzeln, zu den Mohnprodukten Opium, Heroin, Kokain bis zu synthetischen Drogen wie Ecstasy. Die Einnahme bewusstseinsverändernder Drogen kann sehr gefährlich sein, auch wenn seltene Rituale mancher schamanistischen Kulturen diesen Weg gehen. Die meisten spirituellen Traditionen (klassisches Yoga, wie es auch bei Yoga Vidya gelehrt wird, Buddhismus und so weiter) verzichten auf die Einnahme von jeglichen bewusstseinsverändernden Substanzen beziehungsweise verbieten sie sogar. Und zwar aus gutem Grund: Erstens können die Substanzen abhängig machen, zweitens Psychosen erzeugen, drittens die Hirnfunktionen/den Geist dauerhaft schädigen. Und viertens ist die so erlangte Bewusstseinsveränderung nur vorübergehend: Oft sieht der Alltag anschließend umso grauer aus.

(3)    Mantras: Im weiteren Sinne sind hier neben den klassischen Mantras auch Rituale, Musik und Tanz gemeint. Menschen erfahren in der katholischen Messe andere Bewusstseinszustände. Viele neuapostolische und evangelikale Kirchen, die besonders in Afrika und Amerika großen Zulauf haben, nutzen Gesang, Musik, Tanz, Trommeln und so weiter und erzeugen damit veränderte Bewusstseinszustände. Fast alle Stammesreligionen und schamanistische Kulturen kennen das. In der westlichen Jugendkultur suchen junge Menschen in Tanz, Musik und Gruppenerlebnissen bewusst oder unbewusst veränderte Zustände des Bewusstseins.

(4)    Tapas (Spezielle Praktiken, Askese): Viele spirituelle Systeme kennen diverse Praktiken, die zu veränderten Bewusstseinszuständen führen. Dazu können Fasten, Schweigen, Schlafentzug, Kasteiungen, Körper- und Atemübungen gehören. Gerade im Kundalini-Yoga gibt es eine Fülle von Übungen. Hier geschieht dies allerdings weniger durch Entzug, beispielsweise von Nahrung, Schlaf oder Sprechen, oder gar über körperliche Kasteiungen, wie sie im christlichen Mittelalter und noch heute in einigen christlichen Klöstern üblich waren oder sind, sondern durch Übungen, die die Lebensenergien, das Prana, erhöhen. Wenn das Prana erhöht wird und vermehrt durch die Sushumna, die feinstoffliche Wirbelsäule, fließt, und die Chakras öffnet, erweitert sich das Bewusstsein. Der Übende erfährt höhere Ebenen der Existenz. Der Vorteil bei den Kundalini-Yoga-Praktiken: Wenn der Übende anschließend aus der wonnevollen höheren Bewusstseinsebene in das Normalbewusstsein zurückkehrt, bleibt das Mehr an Prana, das Mehr an Lebensenergie erhalten. So kann er das Gefühl von Kraft, Liebe und Freude konkret in den Alltag bringen. Auch moderne psychotherapeutische Techniken wie Rebirthing und Holotropes Atmen gehören zur Kategorie der Tapas: Mittels bestimmter Übungen soll Zugang zu anderen Bewusstseinsebenen erlangt werden. Diese Techniken haben allerdings nicht diese aufladende Wirkung auf das Prana.

(5)    Samadhi (höhere Stufen der Meditation): Samadhi an sich ist Überbewusstsein. Meditation mündet nach langer Übung irgendwann in Samadhi. Es wird definiert als Zustand, in dem die Subjekt-Objekt-Spaltung überwunden wird. Von Samadhi gibt es wieder verschiedene Stufen. Der höchste Samadhi, Asamprajnata Samadhi, auch Nirvikalpa Samadhi genannt, ist gleichbedeutend mit Turiya, dem höchsten Bewusstseinszustand der vollständigen Einheit.

Man kann die außergewöhnlichen Bewusstseinszustände in erweiterte, höhere und tranceartige Bewusstseinszustände unterteilen.