Wege zum Unendlichen

 

2. Die Ausdehnung des Bewusstseins

Jetzt kommen wir zur tieferen Betrachtung von Sadhana, dem praktischen Leben wie es wirklich ist und nicht, wie es oberflächlich von außen ausschaut.

Angenommen man sieht zwei Gegenstände, die sich beide voneinander unterscheiden. Es ist unmöglich zwei Gegenstände auseinander zu halten, wenn der unterscheidende Betrachter nicht irgendetwas Drittes ist. Wenn man sogar selbst eines der beiden Gegenstände ist, der sich von dem anderen unterscheidet, dann hätte man keine Kenntnis über die Tatsache, dass es sich eigentlich um zwei Gegenstände handelt. Das beobachtende Prinzip, das man selbst ist, steht immer außerhalb von zwei Gegenständen, die aus irgendeinem Grund verschieden sind.

Nun stellt sich eine andere Frage: es ist nicht nur wichtig zu wissen, dass der Unterscheider nicht dasselbe wie die beiden verschiedenen Objekte ist, sondern dass er auch den Bereich, die Örtlichkeit der beiden Objekte irgendwie durchdringt. Die so genannte Entfernung zwischen den beiden Gegenständen wird durch die Wahrnehmung des Betrachters überbrückt. Das bedeutet, dass das beobachtende Prinzip nicht nur in dem einen bzw. dem anderen Gegenstand gegenwärtig sein muss, sondern es muss sich auch in der Mitte befinden. Wenn es sich nur auf der einen bzw. der anderen Seite befände, wäre auch das unterscheidende Wissen überhaupt nicht vorhanden. Darum muss es im Betrachter etwas geben, das sich über der Örtlichkeit der beobachteten Gegenstände befindet.

Die Kenntnis von zwei Gegenständen beruht nicht auf einer örtlich bedingten Körperfunktion des Betrachters, sondern ist ein Bewusstsein, das die beiden Gegenstände durchdringt und gleichzeitig in der Beziehung wirkt, die zwischen den beiden Gegenständen besteht. Der Unterschied zwischen den beiden Gegenständen beruht auf ein Bewusstsein der Beziehung zwischen beiden unterschiedlichen Dingen. Wenn diese Beziehung fehlen würde, gäbe es auch keine verschiedenen Dinge.

Das Schwierigste in der Welt ist das Erfassen oder die Kenntnis was ‚Beziehung’ ist. Bei einer Zusammenkunft entsteht zwischen den Teilnehmern eine Beziehung. Der Eine hat eine Beziehung zum Anderen und umgekehrt. Es besteht irgendwie eine Verbindung. Worin liegt die Bedeutung dieser ‚Beziehung’? Man berührt sich nicht, und doch besteht eine Beziehung. Auch wenn jemand sich weiter entfernt befindet, so gibt es doch so etwas wie eine innere Beziehung. Diese Beziehung hat etwas Faszinierendes. Wo befindet sich diese Beziehung? Sie befindet sich weder bei dem Einen noch bei dem Anderen, die angenommen eine Beziehung miteinander haben. Diese Beziehung befindet sich zwischen diesen beiden Menschen.

Woraus besteht diese Beziehung? Ist sie Teil von einem selbst oder Teil der anderen Seite? Diese so genannte Beziehung, die die Menschen voneinander verschieden erscheinen lässt, wenn sie in der Projektion der anderen Seite sind, wird Teil der einen und berührt nicht die andere Seite.

Angenommen, es gibt zwei Personen, A und B, die gegenseitig in Beziehung stehen. Jetzt muss man genau aufpassen. Wenn kein Sichtkontakt zwischen beiden besteht, gibt es auch keine Beziehung zwischen beiden, d.h. zwischen A und B. Dann existiert A auf der einen und B auf der anderen Seite, d.h. kein Sichtkontakt, keine Beziehung.

Wenn es also zwischen Beiden nichts gibt, dann entwickelt sich auch kein Bewusstsein füreinander, weder auf der einen, noch von der anderen Seite. Es gibt also keine Beziehung. „Das ist mein Bruder. Er steht mir sehr nahe“, ist eine Aussage. Was ist das für eine Beziehung? Sitzt er auf meinem Schoß, berührt mich körperlich? Nein. Eine Beziehung kann dennoch vorhanden sein, auch wenn es keinen Sichtkontakt gibt, die beiden weit voneinander entfernt sind, vielleicht sogar in verschiedenen Ländern. Es ist nicht so einfach zu sagen, was da geschieht, wodurch diese Beziehung dennoch zustande kommt.

Wenn man einmal annimmt, dass es so etwas wie eine unsichtbar wirkende Beziehung gibt, dann sollte sie entweder von der einen oder anderen Seite ausgehen. Die Beziehung geht entweder von A oder B bzw. umgekehrt aus. Damit gehört sie der einen oder anderen Seite an. Wenn die Beziehung von A ausgeht und nichts mit B zu tun hat, dann wird sie B auch nicht berühren. In diesem Beispiel gehört die Beziehung zu B und nicht zu A. Doch sie muss beiden Seiten angehören, ansonsten ist keine Unterscheidung möglich. Wie kann aus einem zwei werden? Dieses ist das Rätsel beim Beziehungskonzept.

Dieses Problem beruht auf der physischen Beobachtung der Dinge und der Vorstellung, die jeder über materielle Substanzen hat, sowie der individuellen Substanz. Mein, dein, Vater, Mutter, - sie alle werden als physikalische Einheiten betrachtet. „Da kommt meine Mutter.“ Genau weiß man eigentlich nicht, was da kommt. Es handelt sich um eine große Figur auf zwei Beinen. Dieses ist die eigentliche Vorstellung der Dinge.

Das Durchdringen im Beobachtungsprinzip des Unterscheidungsprozesses kann nicht von physischer Natur sein. Als Mensch sitzt man nicht zwischen zwei Dingen, um diese voneinander unterscheiden zu können, wie ein Polizist, der zwei streitende Gruppen physikalisch voneinander trennt. Auf diese Weise kann man Dinge nicht wirklich voneinander unterscheiden. Man kann schließlich sogar Sonne und Mond oder Sterne voneinander unterscheiden und deren Unterschied erfassen. Was für einen Entfernung liegt zwischen den Menschen und den Sternen, die beobachtet werden. Die Entfernung ist offensichtlich unerheblich, und doch gibt es eine Beziehung.

Wodurch erfasst man die unterschiedlichen Himmelkörper, die viele Lichtjahre von der Erde entfernt sind? Was geschieht denn da wirklich? Man war nie zuvor direkt bei irgendeinem Stern. Die Augen berühren die Sterne nicht. Es gibt keine verständliche Beziehung, und doch kann man die Sterne sehen. Wer/ Was sieht tatsächlich die Sterne? Man ist es nicht wirklich selbst, denn man ist hier auf Erden. Wie ist es möglich über eine derart große Entfernung zu den Sternen und der Sterne untereinander, die Sterne zu erfassen? In einer unsichtbaren, alldurchdringenden Weise berührt man mit seinem wahrnehmenden Bewusstsein die Sterne. Darin liegt der Grund, dass man selbst die weit entfernten Existenzen im Universum erfassen kann.

Man muss jedoch erst verstehen, wer man ist, bevor man versucht andere Dinge als solche in ihrer Wirklichkeit zu erkennen. Es wurde bereits die falsche Vorstellung erwähnt, die man von seiner Umgebung und seiner existierenden Örtlichkeit hat. Man glaubt, man sei nur an einem Ort. In Wahrheit ist man überall, sonst wäre die geistige Überbrückung der räumlichen Distanz nicht möglich. Doch wie kann man überall sein, während man sich offensichtlich wie bei einer Kameraaufnahme nur an einem bestimmten Ort befindet? Es beruht auf einer anderen Form der wahren Substanz des Menschen, die den ganzen Raum durchdringt.

Um sich selbst von den Fesseln des Endlichen zu befreien, erleidet man Todesqualen, heißt es in den Einführungen zur Yogapraxis. Darum sollte man sich ‚neben’ sich selbst stellen.

Kann man sich vorstellen, außerhalb von sich selbst zu stehen? Wenn irgendein Element von einem selbst sich nach außen bewegen würde, könnte kein äußerlich existierendes Objekt erkannt werden, denn der eigene innere Körper fühlt sich nicht für das Kennen lernen eines äußeren Objektes verantwortlich. In subtiler Form ist man weit von seinem Körper weit entfernt. Ein Gedanke, der mit dem Körper verbunden ist wird als kalpita vritti bezeichnet. Damit ist eine Modifikation des Geistes gemeint, die mit dem Körper verbunden ist. Eine andere Geistesfunktion, das nicht-körperliche Denken, heißt dagegen akalpita vritti. Nicht-körperliches Denken ist der Gedankenprozess, der äußerlich wirkt. Damit bewegt man sich außerhalb seines eigenen Körpers.

Um ein Beispiel zu geben: man sitzt an einem Punkt und schaut auf etwas, das weit entfernt ist. Kann man sich vorstellen, dass man mit seiner Willenskraft seine Vorstellung so weit ausdehnt und sich in das gesichtete Objekt transformiert, wobei man sich vorstellen muss, dass man das Objekt nicht anschaut, sondern, dass dieses Objekt den ursprünglichen Zuschauer betrachtet. Ein weiteres Beispiel bzgl. eines Baumes, den man vor sich hat. Man schaut den Baum an. Doch kann man sich vorstellen, dass der Baum den eigentlichen Betrachter ansieht? Zu diesem Zweck muss man sich in der psychischen Funktion des Körperlosen üben. Unter ‚körperlos’ versteht man, dass man nicht an seinen Körper gebunden ist. Man transformiert sich selbst in den Baum oder in irgendetwas Anderes und schaut aus dieser neuen Perspektive auf sich selbst. Dadurch wird man selbst zum Wahrnehmungsobjekt. Das andere Ding, von dem man glaubt, es sei ein Objekt, wird zum Betrachter oder zum Wahrnehmungssubjekt.

Wenn diese Praxis möglich wird, dann ist man nicht mehr an diesen einen Körper gebunden, weil man sich auf jeden anderen Körper projizieren kann. Warum sollte man sich nur an einen Körper binden? Es gibt Millionen von Menschen auf dieser Welt. In welcher Weise sollte man besser als die Anderen sein? Man besteht, wie jeder andere auch, aus einem Bündel materieller Verbindungen.

Zu diesem Zweck, kann man sich von seinem individuellen Körper lösen, seinen Geist auf die am Himmel scheinende Sonne projizieren, sodass man sich glücklicher fühlt und es nicht nur eine Willensübung bleibt. Bringe das Bewusstsein zu den Sternen und schau von dort auf dich selbst. Dann sieht man sich von dort aus an einem bestimmten Punkt auf Erden sitzend.

Man kann sich auch mit der Sonne identifizieren und sein Bewusstsein dorthin transformieren. Man kann die Leuchtkraft, die Energie der Sonnenstrahlen und das Licht der Sonne fühlen, das auf den eigenen Körper fällt. Dabei sitzt man auf der Erde.

Man braucht dafür eine große Portion an Willenskraft. Man muss sich in ein Objekt hineinversetzen und sich dessen gewahr werden. So einfach ist das. Das Bewusstsein wird transformiert und man sieht sich aus einer anderen Perspektive. Das eigene Bewusstsein denkt dabei zunächst nicht wie das Körperbewusstsein, in das man sich hinein transformiert bzw. gedacht hat. Doch irgendwann beginnt das Objektbewusstsein so zu denken wie man selbst, heißt es in der Yogapsychologie, und der Geist anderer Menschen sei auf diese Weise manipulierbar. Nicht einmal ein Elefant könne einem Schaden zufügen, wenn man das eigene Bewusstsein in den Geist des Elefanten transformiert hat. Der Geist des Elefanten denkt wie der eigene Geist.

In der Srimad Bhagavata Mahapurana gibt es einen wundervollen Vers. Der Heilige Shuka ging beinahe ziellos in irgendeine Richtung als sein Vater Vyasa nach ihm rief: „Mein Sohn, wo bist du?“ Die Antwort schallt von allen Bäumen um ihn herum. Jedes Blatt begann sich als Antwort zu bewegen und zu schütteln. Die Blättern sagten: „Ich bin hier.“ Das bedeutet, dass der körperlose Shuka in seinem durchdringenden Charakter in die so genannten äußeren Existenzen in Form der Blätter eingetreten war. Er selbst schaute durch die Blätter auf sich selbst. Dieses wurde zur Umkehrung der Wahrnehmung. Anstatt auf die Welt zu schauen, schaut die Welt auf den ursprünglichen Betrachter. Kann man sich vorstellen, was das für ein Yoga ist?

Die Bindung an den eigenen Körper ist derart stark, sodass man niemals verstehen wird, was das für ein Prozess ist. „Was macht es denn, wenn es dort etwas gibt? Ich bin mir selbst genug.“ Dieses ist die innere Stimme von Ahamkara.

Kann man wirklich in Dinge eintreten, die sich in der äußeren Welt befinden und das eigene Ich von deren Standpunkt aus betrachten, sodass man sich scheinbar irgendwo anders befindet als man körperlich tatsächlich ist? Man hat sein Bewusstsein vom eigenen Körper gelöst und sich an etwas Anderes gebunden, das nun zum Subjekt wird, und der ursprünglich eigene Körper wird zum Objekt. Was geschieht dann? Man wird zu einem völlig anderen Menschen. Man kann jeden x-beliebigen Körper annehmen. Man muss nicht notwendigerweise der Eine oder Andere sein. Man kann denken wie jeder andere Mensch oder wie irgendetwas Anderes, vorausgesetzt, der eigene Geist hat sich von seinem ursprünglichen Standpunkt in einen anderen Körper hinein transportiert.

Es heißt, dass Bhagavan Sri Krishna einen Berg angehoben hätte. Der durchdringende Charakter seines Bewusstseins wurde zum Subjekt, der hinter dem Berg steht. Es ist keine Schwierigkeit, die eigene Hand zu heben, doch man kann nicht die Hand eines anderen oder den Fuß eines Elefanten heben, so als gehörte sie bzw. er zu einem selbst. Der Elefant kann sein eigenes Bein heben, doch für den Menschen ist es nicht möglich, denn es ist zu schwer für ihn.

Angesichts des Gewichts eines Elefanten ist man wohl nicht in der Lage, es anzuheben. Doch er selbst kann seine Gliedmaßen heben, denn er ist rein subjektiv, seines Seins bewusst, hat sich mit seinem enormen Körper identifiziert, sodass er nicht außerhalb von sich selbst steht. Doch er befindet sich außerhalb des betrachtenden Menschen. Darum ist das Bewusstsein des Menschen nicht in der Lage, die Gliedmaßen eines Elefanten zu heben.

Wenn man allerdings Sri Krishna sieht, wie er einen Berg hebt, so bedeutet es für ihn nur, als würde er seine Hand heben, weil er seine Existenz nach außen transformiert hat. In seinem Bewusstsein hat er keinen Berg angehoben; er hat in seiner ausgedehnten Form lediglich seinen Arm gehoben. Er transferierte seine Existenz zu dem Berg, und so hat sich der Berg selbst gehoben, als würde ein Elefant selbst sein Bein heben.

Dieses ist das Prinzip der Yoga-Praxis. Man könnte sich mit dieser Technik selbst zu Gott hin ausdehnen. Das ist nicht unmöglich. Dieses sind nur vorbereitende Instruktionen zum Zweck des psychologischen Transports des Bewusstseins von einem Punkt zu einem anderen, sodass man nicht nur an einen bestimmten Körper gebunden ist.

Man muss sich darüber im Klaren sein, dass der eigene Körper weder schöner noch wertvoller als der Körper irgendeines anderen Menschen ist. Jeder Körper wird irgendwann nach dem Tod zu Staub. Wenn sich die Seele nach dem Tod zurückzieht, ist niemand wertvoller als irgendjemand anders. Der Egoismus eines Menschen ist unvorstellbar. Man kennt nur seine eigenen Probleme, wenn überhaupt. Man hängt derart an seine eigene Örtlichkeit und vergisst dabei alle anderen. Was hindert den Menschen daran, im Denken ein wenig großzügiger zu sein, das Umfeld einzubeziehen und sich vielleicht sogar so zu verhalten, als wäre man ebenfalls außerhalb von sich selbst? Das Äußerliche verschwindet; das Universale tritt ein.

Das Universale ist nichts weiter als die Aktivität des eigenen Geistes unter der Bedingung des Äußeren. Das Äußere wird zu einer universalen Durchdringung, denn man hat sich in viele andere Dinge in Raum und Zeit und sogar in den Schöpfer selbst hineingedacht. Man kann sogar das eigene Bewusstsein in das Zentrum des Kosmos hineintransportieren.

Wissenschaftler behaupten, dass die Welt durch einen Urknall entstanden ist. Nun gut, doch was war vor diesem Ereignis? Das ist das Zentrum des Kosmos. Man schließe einfach die Augen und fühle die eigene Anwesenheit in der Situation an jenem Ort, bevor das Ereignis der Schöpfung stattfand. Dann spürt man sich vielleicht selbst als Schöpfer des Kosmos.

Die Welt wird sich vor einem verneigen, doch jetzt geschieht das nicht; jetzt verneigt man sich vor ihr, denn sie wurde zum Herrn des Menschen und die Menschen sind ihr Diener. Warum dient man überhaupt jemand? Weil man sich selbst von dem isoliert hat, was einen kontrolliert. Man sollte sein Bewusstsein dorthinein transportieren, was den Menschen scheinbar kontrolliert. In dem Augenblick kontrolliert man sich selbst, so wie es der Elefant in dem Beispiel zuvor machte.

Das alles ist nur schwer vorstellbar. Yoga ist nicht einfach. Es bedarf einer außerordentlichen Willenskraft, um etwas Anderes zu werden als man ist. Das Schlimmste ist sich vorzustellen, etwas Anderes zu sein als man tatsächlich ist. Niemand will das wirklich. „Ich bin das. Wer könnte schon so sein wie ich bin? Was glaubst du, wer du bist? Weißt du, wer ich bin?“ Diese Art von Gesprächen, die Art von Gefühlen sind die Schmerzen im menschlichen Leben. Man stirbt als Ego und niemand ehrt den anderen Menschen danach wirklich. Wenn alle so egoistisch denken, führt dies zwangsläufig zu Zusammenstößen. Niemand toleriert den Anderen. Diese Intoleranz egoistischer Prinzipien ist die Ursache zahlloser Konflikte in dieser Welt. Schlachten werden geschlagen. Es entstehen immer wieder neue Kriegsherde. Jeder unterscheidet sich von jedem. Warum sind die Dinge so verschieden? Weil die Körper so verschieden sind, und dies geschieht wiederum, weil sich das Räumliche einmischt.

Angenommen die Leser dieses Textes und die Besucher von Yoga-Seminaren sind spirituelle Sucher. Für die Inhalte interessieren sich keine Geschäftsleute. Künstler, Büroangestellte, andere wiederum interessieren sich für diese Inhalte, doch nach dem Lesen und Studieren bleiben sie, was sie zuvor waren, d.h. Künstler, Büroangestellte usw. Nichts hat sie verändert. Das Studieren dieser Texte oder die Vorträge auf den Yoga-Seminaren haben nichts verändert, nichts bewirkt.

Von Stund an könnte man in einen neuen Ausbildungsprozess eintreten, seine Sichtweise für die Werte verändern. Es macht keinen Sinn an heiligen Orten, wie z.B. Rishikesh zu leben. Man kann dort bleiben, woher man kommt. Man könnte überall hingehen, was macht das schon? Nicht der Ort ist wichtig! Die Umstände, die einen Menschen in die richtige Richtung bringen sind wichtig. Die Menschen gehen nicht nach Rishikesh oder besuchen andere heiligen Plätzen in der Welt, um dort Gold oder Edelsteine zu finden, sondern sie wollen die spirituell aufgeladene Atmosphäre erfahren, die den Menschen in die Lage versetzt, spirituell, universal, nicht-egoistisch, nicht-subjektiv und göttlich zu denken.

Wenn kein Umdenken möglich ist, nützt weder das Studieren von heiligen Schriften noch das Reisen zu heiligen Plätzen, wie Rishikesh. Letzteres wird nur zu einem Besuch eines Touristen, sonst nichts. Veränderungen finden nicht statt. Der Mensch kommt und geht, wie er war und ist. Er mag immer wieder dorthin zurückkehren, doch nichts geschieht. Wie oft jemand auch immer kommen wird, er bleibt immer derselbe.

Das Training ist nicht ausschließlich verbal oder beobachtend zu sehen. Es handelt sich auch nicht um irgendwelche Gespräche oder Unterhaltungen. Es geht gefühlsmäßig vielmehr um eine innere Notwendigkeit, mehr zu werden als man ist. Möchte man nicht mehr sein als man ist, oder ist man mit dem zufrieden, was oder wer man ist? Selbstverständlich will man mehr sein, etwas darstellen. Doch wie soll das geschehen? Will man viele Dinge um sich sammeln oder scharen? Angenommen man hätte irgendwelches technisches Krimskrams mit viel Zubehör, andere Werte oder was auch immer angesammelt, Verwandte, Bekannte und Freunde um sich geschart. Wird man dadurch wirklich bereichert? Viele Reiche sind von sich der Auffassung, sie seien mehr oder besser als andere, weil sie viel Geld und/ oder viele Freunde hätten. Aber sie können unmöglich dadurch wirklich wertvoller sein, nur weil sie Dingen verhaftet sind, die sich von ihnen unterscheiden. Eine Ansammlung so genannter Freunde wird nicht wirklich den Charakter verändern, sondern man bleibt wer oder was man ist.

D.h., man wird nicht mehr durch eine Ansammlung von Dingen, denn sie werden nicht Teil von einem selbst. Sie bleiben völlig unabhängig und außerhalb. Die Anhäufung von Werten wird nicht die Qualität eines Menschen steigern oder einen besseren Menschen aus ihm machen. Man wird selbst mit noch so großer Bereicherung immer der kleine dumme Typ von Mensch bleiben, der man war und ist.

Mahmud von Ghazni eroberte große Teile Indiens viele Male und raffte dabei viel Gold zusammen. Er stapelte seine Eroberungen zu einem kleinen Hügel. Es schien, als ob er als Mensch ein wenig größer geworden sei, doch irgendwann kam die Zeit, wo er seinen letzten Atemzug tat. Der Tod ereilte ihn. Als er so dalag, seinen letzten Atemzug tat und den Goldhügel vor Augen hatte, verschied er als armer Mann, der er war, bevor er das Gold sammelte, denn das Gold wurde nicht Teil von ihm; es blieb als Hügel außerhalb von ihm.

Also man kann nicht mehr werden als man ist, ausgenommen durch die Erhöhung seiner Gedankenwelt. Man ist nicht irgendein Objekt, weder Gold noch Silber oder gar die Freunde; man ist der eigene Geist. Der Geist sieht, wer man ist. Wenn sich dieser Geist selbst erweitern kann, dann hat man sich erweitert.

Seinen Horizont zu erweitern bedeutet, sich irgendwohin auszudehnen, wo man körperlich nicht ist. Kann man sich irgendwo, außerhalb von dem Ort befinden, wo man sich gerade als kleiner Körper aufhält? Körperlich ist das nicht möglich, denn man kann seinen Körper nicht sekundenschnell von Europa nach Indien bewegen. Doch man ist nicht nur Körper, sondern auch Geist. Was auch immer man ist, beruht auf den Geist. Man mag glücklich oder unglücklich sein, doch das liegt nicht an dem Körper vor Ort, sondern nur am Geist, der etwas empfindet oder denkt.

Der Geist sollte sich über diese örtliche Begrenzung, bedingt durch den Körper, hinaus ausdehnen. Dann wird daraus eine größere Persönlichkeit. Dieser Mensch wird zum Supermann; ein Sterblicher neigt zu einer unsterblichen Existenz. Er dehnt sich immer weiter aus und überwindet die Begrenzung des Raumes. Diese Ausdehnung bezieht sich nicht auf etwas Messbares oder Geometrisches. Der Körper wird auch nicht voluminöser oder übermächtig groß. Es geht auch nicht um die Erhöhung des Seins. Das Bewusstsein hat sich vielmehr über seinen inneren Körper erhoben und ist darüber hinausgegangen.

Da das Bewusstsein rein subjektiv ist, kann man sich nicht selbst betrachten. Man kann sich darum auch nirgendwo anders sitzen sehen. Man muss sich darüber im Klaren sein. Das Bewusstsein ist rein subjektiv. Es kann nicht zu einem Objekt werden. Wenn es also heißt, dass Bewusstsein muss sich ausdehnen, damit man mehr wird als man ist, dann bedeutet dies, dass das ‚Ich’ zu einem größeren ‚Ich’ wird. Dieses hat nichts mit irgendwelchen äußerlichen Besitztümern zu tun, denn das ‚Ich’ befindet sich nicht außerhalb von einem selbst, sondern es handelt sich um das eigene Selbstsein.

Darum kann man sich nur schwer vorstellen, was dieses alles ist oder bedeutet. Es ist ein schwieriges Unterfangen, denn seit seiner Geburt denkt der Mensch in eine falsche Richtung. Dieses Gedankegut scheint für jeden, der sich damit beschäftigt, neu zu sein. Es scheint schier unmöglich, aussichtslos. Viele glauben an dieser Stelle, sie seien für die Gottverwirklichung ungeeignet und müssten noch sehr oft wiedergeboren werden. Man gedenkt, noch viele Geburten in Anspruch zu nehmen, doch ist das nicht notwendig, vorausgesetzt man ist in der Lage, von dem Ausgangspunkt zu denken, wo man sich befindet, und wohin man von hieraus strebt. Man kann alles in dieser Welt erreichen, vorausgesetzt man wird zu dem, wonach man verlangt. Alles, was sich wirklich außerhalb befindet, bleibt unerreichbar. Zu viele Wünsche auf einmal sind auch nicht gut. Alles, was man selbst nicht ist, bleibt unerreichbar, wird sich von einem entfernen, bevor man es je erreichen könnte.

Man muss wissen, dass man nur sich selbst wünschen kann. Man kann sich nur selbst besitzen; man kann niemand anders besitzen. Doch auch ein Anderer wird kommen, vorausgesetzt, man ist zu Jenem geworden. Dann hört dieser Jemand auf zu existieren und man wird zu Ihm. Dann wird man universal wirken. Diese Situation ist kaum vorstellbar. Es ist verwunderlich, wie das möglich sein soll. Wenn dieses nicht möglich ist, dann ist der Sinn der eigenen Existenz in dieser Welt in Zweifel zu ziehen; dann führt man ein bedeutungsloses Leben der Plackerei, der Selbstbehauptung, der Hoffnungslosigkeit und Dummheit, und man wird den Körper mit derselben Dummheit verlassen, wie man geboren wurde. Eines Tages wird man dann in derselben Dummheit wiedergeboren und ein weiteres hoffnungsloses Leben beginnt.

Der Tod ist keine Lösung für die Probleme des Lebens, sondern nur eine Fortsetzung der Probleme. Es ist so, als würde man seinen Gläubigern entfliehen. Wie weit kommt man damit? Die Gläubiger werden ihren Schuldnern überallhin verfolgen.

Ein kleines Kalb, das seine Mutter in unübersichtlicher Ansammlung von Kühen verloren hat, rennt hierhin und dorthin, läuft Zickzack. Es wird nicht eher ruhen, bis es seine Mutter wieder gefunden hat. Irgendwann findet es seine Mutter. In gleicher Weise verfolgen den Menschen seine Handlungen, wohin er auch immer gehen mag. Darum ist der Tod keine Lösung für seine Schwierigkeiten. Die Schulden werden nicht gelöscht, nur weil man stirbt. Man nimmt seine Konten mit, denn die Schulden sind die Pflichten des Geistes. Schulden sind nicht dem Körper zuzuordnen. Darum kann man den Körper verlassen, doch der Geist hat den Kredit abzutragen, der den Menschen als machtvolle Energie verfolgt, und man muss eines Tages in der nächsten Geburt die Schulden nebst Zinseszins doppelt abtragen.

Niemand kann sich dem entziehen. Wenn man Fehler gemacht hat, schlagen diese Fehler zu Buch, kommen auf einen zurück. Wer etwas Gutes tut, auf den fällt dieses ebenfalls zurück, doch denkt man hier weder an Gutes noch Böses. Man denkt dabei an Befreiung von der Sklaverei individueller Existenz.

Dieses alles klingt sehr merkwürdig, fremdartig, denn es scheint unmöglich derart zu denken. Der höchste Segen ist ein außerordentlich schwieriger Schatz. Etwas, was man sich nicht vorzustellen vermag. Man muss im Sinne eines ausgedehnten Seins zu etwas mehr werden, zu etwas Anderem werden. Man muss größer werden, natürlich nicht im Körperumfang, sondern größer in der Dimension eines bewussten Denkens, sodass man nicht nur eine Sache bedenkt, sondern alles gleichzeitig einbezieht. Dieses ist der, in der Yoga-Technik beschriebene Prozess, wobei man sich selbst außerhalb von sich selbst befindet. Von außen schaut man auf sich selbst, sodass die Bindung an den eigenen Körper vergeht. Das Karma dieses Körpers bindet sich nicht selbst. Man ist völlig frei. Man wird zu einem überkörperlichen Seher.

Wenn diese Technik immer weiter ausgedehnt werden kann, in einen immer größeren Umfang der Universalität der Dinge in der Welt, dann wird man zu einem ‚Weltmensch’. Dieses bezeichnet man als ‚Supermann’. Die Welt wird zum eigenen Körper. Man kann sich vielleicht vorstellen, was man dann fühlen wird. Dieses kleine Bewusstsein, dass sich normalerweise nur mit dem eigenen Körper beschäftigt, ist plötzlich mit der ganzen Welt verbunden und durchdringt alles überall, alles gehört zur eigenen äußeren Form.

Kann man sich vielleicht auch vorstellen, wie es sich anfühlen könnte so zu denken, als würde einem die ganze Welt gehören? Es ist kaum jemand in der Lage dazu, weil es den meisten Menschen unmöglich ist, das Bewusstsein der individuellen körperlichen Existenz zu transferieren und in das Universum eintreten zu lassen. Es bestehen große Schwierigkeiten, etwas Anderes zu werden als man ist. So stark ist die Bindung an den eigenen physischen Körper. Darum kann man es auch nicht ertragen, wenn man ein Wort gegen diesen Körper sagt!

Yoga ist schwierig, Sadhana nicht einfach. Sadhana ist das absolute Bemühen mit einem aufrichtigen Geist der eigenen Psyche zu begegnen und, wie bereits erwähnt, man denke spirituell und nicht psychologisch. Der psychologische Geist projiziert sich selbst als Beobachter eines anderen Objekts. Der spirituelle Geist betrachtet sich als etwas, was sich beobachtet, sodass sich die Beziehung zwischen der einen und der anderen Sache aufhebt, und damit zu einem beziehungslosen, allgegenwärtigen, ausgedehnten Bewusstsein wird.

Man ist kein Mensch, weder Sohn noch Tochter von irgendjemand. Man ist ein Element des Bewusstseins, das geboren wurde, das aus seinem Körper austreten und als anderer Körper inkarnieren möchte. Dieses so genannte ‚Ich’ möchte nicht in die nächste Welt eintreten; es wird hier abgeschüttelt. Wenn das so genannte ‚Ich’ abgeschüttelt wurde, was bleibt dann noch für die nächste Welt übrig? Wieso denkt man nicht daran? Wenn man nicht das ist, was man zum Zeitpunkt des Todes abschüttelt, warum glaubt man dann, dass man es jetzt sei? Selbst jetzt unterscheidet es sich von dem, was man glaubt zu sein. Wieso ist es dann unmöglich so zu denken? Wenn man dieses Ding, das man zum Zeitpunkt seines Todes abschüttelt, nicht ist, was ist man dann? Das ist hier der entscheidende Punkt. Darauf muss man sich konzentrieren, und man wird sehen, dass man sofort vom Endlichen befreit wird, das durch eine falsche Denkweise injiziert wurde.

Ausbildung ist der Prozess des richtigen Denkens in Richtung auf die Durchdringung des eigenen Selbst, das über dem steht, was man ist. Ein ausgebildeter Mensch wird mehr als das, was er ist; er bleibt nicht derselbe wie zuvor. Ausbildung ist die Kunst eines größeren Seins, viel mehr als das Aneignen. Dieses ist eine schwierige Technik, doch wenn man vorankommt, dann wird man gesegnet sein.