Goraksha Shataka

 

Vers 49: Drei Stufen des Pranayama: Wirkungen

 

Auf der niedrigsten Stufe (der Atemverhaltung) verspürt der im Lotussitz sitzende Yogi eine intensive Hitze, auf der mittleren Stufe verspürt er ein Zittern, und auf der höchsten Stufe erhebt er sich plötzlich (von seiner Unterlage, oder: zum Brahmarandhra).


    अधमे च घनो घर्मः कम्पो भवति मध्यमे |
    उत्तिष्ठत्युत्तमे योगी बद्धपद्मासनो मुहुः || ४९ ||


    adhame ca ghano gharmaḥ kampo bhavati madhyame |
    uttiṣṭhaty uttame yogī baddha-padmāsano muhuḥ || 49 ||

    adhame ca ghano gharmah kampo bhavati madhyame |
    uttishthaty uttame yogi baddha-padmasano muhuh || 49 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

    adhame : auf der niedrigsten (Stufe, Adhama)
    ca : aber (Cha)
    ghanaḥ : eine intensive ("dicke", Ghana)
    gharmaḥ : Hitze (Gharma)
    kampaḥ : ein Zittern (Kampa)
    bhavati : entsteht ("wird", bhū)
    madhyame : auf der mittleren (Stufe, Madhyama)
    uttiṣṭhati : erhebt sich (von seiner Unterlage, oder: zum Brahmarandhra, ud + sthā)
    uttame : auf der höchsten (Stufe, Uttama)
    yogī : der Yogi (Yogin)
    baddha-padmāsanaḥ : der den Lotussitz (Padmasana) eingenommen ("gebunden", Baddha) hat
    muhuḥ : plötzlich, für einen Augenblick (Muhur)

Anmerkungen: Die Bedeutung des Verbs uttiṣṭhati "er steht auf, erhebt sich, steigt auf, springt auf" kann in diesem Vers in zweierlei Weise verstanden werden: in wörtlicher Bedeutung wäre gemeint, dass der Yogi von seiner Sitzunterlage "abhebt", d.h. es wird das Phänomen der Levitation beschrieben. In übertragener Bedeutung wäre gemeint, dass der Yogi in seinem Bewusstsein entlang der Wirbelsäule zum höchsten Punkt, dem Brahmarandhra, aufsteigt.

Auch in der Hatha Yoga Pradipika 2.12 sowie der Gheranda Samhita (5.57) werden die Wirkungen der drei genannten Stufen der Atemverhaltung beschrieben, wobei jeweils eine der beiden genannten Verständnismöglichkeiten von uttiṣṭhati zum Tragen kommt. In der HYP heißt es dazu:

    kanīyasi bhavet svedaḥ kampo bhavati madhyame |
    uttame sthānam āpnoti tato vāyuṃ nibandhayet || 2.12 ||

"Auf der niedrigsten (Stufe) entsteht Schweiß (Sveda), auf der mittleren Zittern (Kampa), und auf der höchsten (Stufe) erreicht man den (höchsten) Ort (Sthana) - daher man soll den Atem (Vayu) anhalten." (HYP 2.12)

Brahmananda, der Kommentator der HYP erklärt hierzu, dass man auf der höchsten (Uttama) Stufe der Atemverhaltung das Brahmarandhra, den "Öffnung zum Brahman" genannten Ort (Sthana), erreicht: uttame prāṇāyāme sthānam brahma-randhram āpnoti. Eine weitere Bedeutng von sthāna ist "vollkommene Ruhe", d.h. das "Stillstehen" des Geistes.

In der Gheranda Samhita (5.57) heißt es wiederum:

    adhamāj jāyate gharmo meru-kampaś ca madhyamāt |
    uttamāc ca bhūmi-tyāgas tri-vidhaṃ siddhi-lakṣaṇam || 5.57 ||

"Die Erscheinungsformen (Lakshana) der (durch Atemverhaltung erlangten) übernatürlichen Fähigkeiten (Siddhi) sind von dreierlei Art: durch die niedrigste (Form) entsteht Hitze (Gharma), durch die mittlere das Zittern (Kampa) der Wirbelsäule ("des Berges Meru"), und durch die höchste (Form) entsteht das Verlassen (Tyaga) des Erdbodens (Bhumi)." (GhS 5.57)

Zum Kompositum baddha-padmāsanaḥ vgl. die Anm. zu Vers 43.