Die Atmosphäre des Übernatürlichen

Etwa zu dieser Zeit wurde offenkundig, daß viele Yoga-Fähigkeiten für Ma ganz normal waren. Sie änderte sich nicht, aber das sogenannte Wunderbare trat stärker und häufiger in den Vordergrund. Von nah und fern kamen Leute nach Shahbagh und baten Ma um Heilung von ihren Krankheiten. Heilungen kamen oft durch einen Blick, eine Berührung, das Geschenk einer Blume oder auf vielfache andere Weise zustande. Ma tat aktiv nichts, um Heilungen zu bewirken. Im allgemeinen sagte sie: »Betet zu Gott. Er wird tun, was für den Patienten am besten ist. Kümmert euch nur gut um den Kranken und sorgt für die bestmögliche ärztliche Hilfe. Für alles Übrige müsst ihr auf Gott vertrauen.«
       Manche Leute bestanden darauf, daß sie den Patienten besuchte; sie hofften, daß er dadurch gesund würde. In solchen Fällen sagte Ma die Zukunft auf ihre eigene Weise voraus. Sie schaute sich um und fragte ihre Gefährten: »Was sagt ihr? Er bittet mich zu kommen, weil er meint, daß der Kranke dann durchkommt. Wird es so sein?« Normalerweise bejahten die Gefährten das entschieden, und Ma ließ sie das dreimal wiederholen. Dann sagte sie: »Wer weiß, wenn ihr alle es sagt, ist es vielleicht so.« Die Leute von Shahbagh machten ebenso wie Ma‘s spätere Gefährten die Erfahrung, daß sie - obwohl allen dieses Ritual bekannt war - die Frage manchmal nicht nachdrücklich bejahen konnten, sondern unerklärlicherweise stotternd und zögerlich antworteten. Ma sagte dann: »Warum zögert ihr? Vielleicht wird sich der Patient dann nicht erholen.« und so geschah es immer.
       Eines Tages kam die Frau des Devotees Atul Datta mit der Bitte zu Ma, ihren schwerkrank im Bett liegenden Sohn zu besuchen. Ma schenkte ihrem Anliegen keine Beachtung, so schien es der Frau zumindest. Dann bat sie Bholanath, sich bei Ma für sie zu verwenden. Aus Ma‘s Worten und Verhalten schlossen ihre Gefährten, daß der Junge seine Krankheit nicht überleben würde. Doch Bholanath besuchte zusammen mit Ma ihr Haus. Ma antwortete auf ihre Bitten: »Selbst wenn ich euch sage, was ihr tun müsst, werdet ihr es nicht ausführen können.« Das konnten sich die Eltern nicht vorstellen; sie versprachen fest, alles zu tun, was sie verlangte. Ma trug ihnen auf, den Jungen 18 Tage lang nicht aus dem Bett zu lassen. Unmittelbar nach diesem Besuch begann sich der Zustand des Jungen langsam zu bessern, doch plötzlich trat eine Verschlimmerung ein, und er starb. Ma sagte der untröstlichen Mutter: »Siehst du, am Montag hat man ihm erlaubt aufzustehen.« Die Mutter konnte das nicht glauben und verlor ihr Vertrauen zu Ma. Nach einiger Zeit erfuhr sie von anderen Familienmitgliedern, daß der Junge an dem bewußten Montag auf dem Balkon gesehen worden war, wie er einen vorbeikommenden Hochzeitszug beobachtete. Voller Reue kam die Mutter wieder nach Shahbagh. Ma tröstete sie in ihrem doppelten Kummer.
       Manchmal machte Ma auf eigene Initiative Besuche. Als sie einmal in der Nähe des Shahbagh-Tors spazieren ging, fuhr eine Droschke vorbei. Sie gab dem Kutscher ein Zeichen; er hielt an und sie stieg ein. Auf die Frage des Kutschers, wohin sie fahren wolle, erwiderte Ma: »Zu Ihrem Haus.« Ohne ein weiteres Wort fuhr der Kutscher, ein Moslem, zu seinem Haus. Dort fanden sie einen im Sterben liegenden alten Mann, dessen Angehörige weinten. Ma bat Bhaiji, der sie begleitete, ein paar Süßigkeiten zu besorgen. Diese wurden an die Familie und ihre Nachbarn verteilt. Dann verließ Ma das Haus. Bhaiji wollte später wissen, zu welchem Ergebnis dieser Besuch geführt hatte, und fand heraus, daß der alte Mann von seiner scheinbar tödlichen Krankheit genesen war.

Bisweilen nahm Ma die Krankheiten anderer Leute auf sich. Als Didi einmal nach Shahbagh kam, sah sie Ma an einer plötzlichen Erkältung leiden. Auf ihre Nachfrage stellte sich heraus, daß Pramatha Naths junger Sohn Pratul, der eine Prüfung ablegen mußte, eine heftige Erkältung hatte kommen fühlen. Er hatte Ma gebeten, dies zu verhindern. Nach einiger Zeit erholte sich Ma.
      Aus solchen Vorfällen zogen Bholanath und andere die Lehre, Ma nicht um Heilung Kranker zu bitten. Sie stellten fest, daß für sie Leben und Tod dasselbe waren. Sie sagte: »Bittet mich nicht, irgendjemanden zu heilen. Jeder muß sein Schicksal selbst ausarbeiten. Wenn man ihm absichtlich Hindernisse in den Weg legt, können sich äußerst ungünstige Folgen ergeben.«
      Wenn Ma gebeten wurde, ihre Yoga-Fähigkeiten zu gebrauchen, hatte das auch andere bedauerliche Folgen. Einmal waren Bholanath und Ma bei dem Treuhänder Jogesh Chandra Ghosh eingeladen. Zu dieser Zeit wohnte die Besitzerin des Shahbagh, Nawabzadi Pyari Bano, in Calcutta. Sie war aus persönlichen Gründen seit Jahren nicht mehr in Dacca gewesen. Ma und Bholanath stellten fest, daß der Treuhänder und seine Familie sehr in Sorge waren, da an diesem Tag am Calcutta High Court die Entscheidung in einem Rechtsstreit der Nawabzadi fallen sollte. Sie wollten von Ma wissen, was in Calcutta geschah. Da sie nicht wagten, Ma direkt darauf anzusprechen, baten sie Bholanath, sich für sie zu verwenden. Ma tat immer ihr Bestes, ihm zu gehorchen, und so beschrieb sie nun, als er darauf bestand, die gerade ablaufenden Ereignisse und sagte, sie würden den Prozess gewinnen. Bevor sie die Frage beantwortete, hatte sich Ma, von den anderen unbemerkt, eine glühende Kohle auf den Handrücken gelegt. Viel später erklärte sie, warum sie sich diese Verletzung zugefügt hatte: »Es ist möglich, eine bestimmte Handlung (Kriya) auszuführen, die einen konkreten Effekt in einer anderen Sphäre hat. Es heißt auch, daß der Sadhaka, wenn er Yoga-Fähigkeiten absichtlich benutzt, dafür eine Buße zu leisten hat. Dieser Körper nimmt manchmal die Haltung eines Sadhaka ein. Diese und auch andere Erklärungen sind möglich.«
      Nachdem solche Dinge ein- oder zweimal vorgekommen war, setzte sich Bholanath nicht wieder für solche Anliegen anderer Leute ein und ließ Ma‘s Kheyala gelten.
      Übrigens entwickelte die Nawabzadi Pyari Bano solche Hochachtung für Ma, daß sie sie darum bat, bei einem Familientreffen zugegen zu sein, auf dem alte Streitigkeiten auf den Tisch kommen sollten. Sie glaubte, daß durch Ma‘s Anwesenheit alle Differenzen freundschaftlich beigelegt würden. Später lud Pyari Bano Bholanath und Ma zu den Hochzeiten ihres Sohns und ihrer Tochter ein. Sie selbst besuchte die Kirtans in Shahbagh. Ihre ganze Familie stand Ma so nahe, wie irgendeine andere in Dacca.
      Seit der Zeit des Sadhana-Lila in Bajitpur verzehrte Ma kaum jemals eine ganze Mahlzeit. Als sie im April 1924 nach Dacca kam, nahm sie nur zweimal am Tag drei Mundvoll Nahrung, einschließlich Wasser, zu sich. Als Didi Ma kennenlernte, aß sie sogar noch weniger. Montags und Donnerstags nahm sie die drei Mundvoll und an den anderen fünf Tagen nichts als jeweils neun Körner Reis zu sich. Dies war keine strenge Regel. Manchmal wich sie davon ab, ohne daß dies zu Komplikationen geführt hätte. Etwa zu dieser Zeit stellte sich heraus, daß Ma ihre Hand nicht zum Mund führen konnte. Die Hand blieb auf halbem Weg stehen, und sie mußte den Kopf beugen, um an das Essen in ihrer Hand zu kommen. Niemand wußte besser als Bholanath, daß alle Phasen in Ma‘s Leben spontan und natürlich eintraten. Sie zu tadeln wäre ebenso nutzlos gewesen wie bei einem unbeteiligten Zeugen. Er nahm die Pflicht auf sich, sie wie ein Kind zu füttern. Didi war sehr froh, daß auch sie Ma diesen Dienst leisten durfte, als sie zu ihnen nach Shahbagh zog.
      Als Gelehrte Ma in späteren Jahren über diese Phasen befragten, erklärte sie: »Dieser Körper lebte einmal vier oder fünf Monate lang von drei Körnern Reis am Tag. Niemand konnte so lange von so karger Kost leben. Es sieht wie ein Wunder aus. Aber so geschah es diesem Körper tatsächlich. Es geschah, weil es möglich ist. Der Grund liegt darin, daß wir das, was wir essen, keineswegs brauchen. Der Körper absorbiert nur die Quintessenz der Nahrung. Alles andere wird ausgeschieden Durch Sadhana wird der Körper befähigt, alles zu seiner Erhaltung Notwendige direkt aus seiner Umgebung aufzunehmen, auch wenn er keine physische Nahrung zu sich nimmt. Der Körper kann auf dreierlei Weise ohne Essen erhalten werden. Die erste Weise wurde gerade erläutert, nämlich durch minimale Aufnahme des Nötigen von außen. Zweitens kann er allein von Luft leben, denn wie ich gerade sagte, existiert alles in allen Dingen. So sind auch die Eigenschaften aller Dinge in bestimmten Maße in der Luft vorhanden. Und schließlich kann es geschehen, daß der Körper überhaupt nichts aufnimmt, und doch unbeeinträchtigt wie im Samadhi erhalten bleibt. So könnt ihr feststellen, daß es durch Sadhana durchaus möglich ist, ohne das zu leben, was wir Essen nennen.«
      Ma enthielt sich zeitweise auch des Trinkens, einmal sogar zehn Tage lang, ein anderes Mal dreiundzwanzig Tage lang. Am vierundzwanzigsten Tag verlangte sie einen Schluck Wasser und sagte: »Ich wollte sehen, wie Die Ma von Dacca es ist, wenn man nicht trinkt, aber das Bedürfnis nach Wasser erlischt vollkommen. So geht es nicht. Die Sitte verlangt, daß ein Anschein von normalem Benehmen aufrechterhalten wird.« Gelegentlich konnte Ma aber auch enorme Mengen von Nahrung verzehren. Didi berichtet, daß Ma einmal auf die Bitte, mehr zu essen, die Speisen doppelt so schnell wie sonst hinunterschluckte. Sie sagte zu Didi: »Du bist zu langsam. Ruf einen anderen, der dir helfen soll!« Doch selbst zwei Personen konnten sie nicht so schnell füttern, wie sie aß. Der Mann, der sie zum Essen aufgefordert hatte, war inzwischen zutiefst erschrocken; er bat sie aufzuhören. Ma erwiderte klagend: »Erst forderst du mich zum Essen auf, und kaum fange ich an, sagst du mir, ich solle aufhören. Was soll ich nun tun?«