Der letzte Flug über den Horizont (Unterkapitel)

In den siebziger Jahren war Ma vollends als einzigartig anziehende Persönlichkeit von großer spiritueller Kraft anerkannt. Niemand zweifelte an ihrer subtilen Wirkung auf alle, die in ihren Einflußbereich kamen. Die Leute warteten stundenlang, um nur einen kurzen Blick auf sie zu erhaschen. Sie standen lange Zeit Schlange, um ihr nahezukommen und vielleicht ein paar Worte mit ihr zu wechseln oder ihr einige Blumen zu überreichen. Schon bei der ersten Begegnung erkannte man sie spontan als unfehlbare Freundin, stets bereit, die Bürde des Lebens zu teilen und zu erleichtern oder größere Freude ins Leben zu bringen.
      Der Ablauf der Satsangs und der Gespräche unter vier Augen hatte sich langsam und kaum merklich gewandelt; wer in diesen Jahren zu Ma kam, empfand die formelle Atmosphäre als normal und konnte sich nicht vorstellen, daß früher jedermann leichten Zugang zu ihr hatten, daß es ungeplante Zusammenkünfte gab, bei denen man sich viele Stunden lang mit ihr unterhalten konnte. Die Leute gewöhnten sich daran, um persönliche Gespräche zu bitten und geduldig zu warten, bis sie an der Reihe waren. Es gab sogar eine Art Verwaltung, die Termine für öffentlichen Darshan und private Gespräche festsetzte.
      Langjährige Devotees wurden oft von den großen Massen neu Hinzugekommener an die Seite gedrängt. Viele fühlten sich dieser Situation nicht gewachsen und hörten auf, die Ashrams zu besuchen. Die Tage der Versammlungen im intimen Kreis, der von allgemeinem heiterem Lachen unterbrochenen geistreichen Gespräche, schienen vergangen. Ma hatte kaum noch Zeit, nach ihrem eigenen Kheyala durchs Land zu reisen. Ihre Reiseroute wurde schon Monate im Voraus festgelegt, so daß die Organisatoren und Gastgeber reichlich Zeit hatten, sich gebührend auf ihren Besuch vorzubereiten. Die Veranstaltungen nahmen gigantische Ausmaße an. Wohin Ma auch ging, folgte ihr eine enorme Menschenmenge, selbst in so entlegene Orte wie Uttarkashi oder Suktal. Von den Gastgebern wurde erwartet, daß sie auch sämtliche Mahatmas einluden, die normalerweise alle Veranstaltungen Ma‘s mit ihrer Anwesenheit beehrten. Ma sagte nicht mehr: »Es wird geschehen, wenn dieser Körper das entsprechende Kheyala hat« oder Ähnliches, aufgrund dessen man auf Anweisungen von ihr wartete, bevor man für sie Reisen organisierte. Nun sagte sie: »Wenn ihr diesen Körper aufnehmen könnt, dann trefft die Vorbereitungen, die euch angemessen scheinen.« So schien das Menschliche Oberhand über das Göttliche zu gewinnen. Die Erdenschwere ist übermächtig. Man versuchte, den fliegenden Vogel am Boden zu halten und in einen Käfig zu sperren!

Es scheint, als hätte Ma ihren langsamen Rückzug ebenso unauffällig eingeleitet wie ihr allmähliches Auftauchen im Scheinwerferlicht öffentlicher Bewunderung. Sie hatte die Menschen sehr langsam an ihre ehrfurchtgebietende Gegenwart gewöhnt, sie war ständig gereist, um die Wirkung ihrer magnetischen Anziehungskraft breit zu streuen und den Besucherscharen die Rückkehr in ihr normales Leben zu ermöglichen. Jetzt zog sich Ma, wie die strahlende Sonne plötzlich hinter vorbeitreibenden Wolken verschwindet, in physische Unerreichbarkeit zurück. Sie zeigte sich den zudrängenden Massen kaum noch, aber wenn man sie doch einmal aus nächster Nähe sah, war sie so heiter und schön wie eh und je.
      Wenn man diesen Aspekt ihres Lebens aus späterer Sicht betrachtet, kann man mit einigem Recht annehmen, daß sich darin nur ihre grenzenlose Menschenfreundlichkeit zeigt. Hätte sie sich ganz plötzlich zurückgezogen, während alle Devotees noch an ihre strahlende Gegenwart gewöhnt waren, so wäre das für Hunderte und Tausende niederschmetternd gewesen, denen die Versicherung ›Ma ist hier, wir haben nichts zu fürchten!‹ sozusagen als Lebensgrundlage diente.
       Es wurde bekanntgegeben, Ma sei unwohl, und deshalb müßten viele lästige Regeln für den Darshan eingeführt werden. Die alten Devotees konnten dies kaum verstehen. Sie hatten oft gesehen, wie Ma mit ›Krankheiten‹ umging. Beschwerden hatten den üblichen Lauf ihres Lebens früher nie gestört. Letztlich konnte ihr nichts zustoßen, falls sie nicht selbst das Kheyala hatte, daß es geschehen solle. Sie hatte sich, aus welchen Gründen immer, vielfältigen ›Beschwerden‹ ausgesetzt und sich dann zu gegebener Zeit von ihnen befreit. Die verzweifelten Gebete um ihre Genesung waren nie zuvor unerhört geblieben. Ihre Leiden waren nicht durch körperliche Ursachen hervorgerufen gewesen, und zu ihrer Behandlung waren keine Medikamente erforderlich. Niemand dachte daher im Ernst daran, daß Ma diesmal kein Kheyala haben könnte, ihre Unpäßlichkeit zu beenden. Sie war sehr still. Sie schien ihr sonst so freudiges Auftreten gezügelt zu haben. Alle, die ihr nahestanden, machtenernste Gesichter - eine sehr ungewöhnliche Sachlage.
      Außer ihrer Unnahbarkeit aufgrund der großen Menschenmengen und der Zunahme feierlicher Veranstaltungen, die Ma von allen Seiten in Beschlag zu nehmen schienen, gab es weitere subtile Hinweise auf ihr nahendes Ende, die damals aber niemand richtig deutete. Im September 1980 starb Didi Gurupriya in Varanasi. Sie war auf Ma‘s eigene Veranlassung lange in Bombay in ärztlicher Obhut gewesen. Im Rückblick gewinnen verschiedene Ereignisse Bedeutung. Didi war seit vielen Jahren leidend gewesen. Haribaba Maharaj hatte ihre ausschließliche Hingabe an Ma immer bewundert. Er hatte es auf sich genommen, viele religiöse Riten für Didis Genesung auszuführen, denn er war est von der Unfehlbarkeit solcher von den Schriften empfohlenen Hilfsmittel überzeugt. Oft kam er an Didis Bett und sagte: »Steh auf, Didi! Du bist nicht mehr krank!« Tatsächlich ließ sich Didi zu seinen Lebzeiten nicht ganz von ihrer Krankheit bezwingen.
       Didi erholte sich und konnte Ma wieder eine Zeitlang begleiten. Oft hörte man von ihr, daß sie Ma‘s ›Pitajis‹, den berühmten Mahatmas, sehr dankbar sei, besonders Haribaba Maharaj, den sie als eine Versicherung gegen Ma‘s Kheyala, sich aus der Welt zurückzuziehen, betrachtete. Sie war überzeugt, daß die Mahatmas feste Ankerplätze für Ma‘s Kheyala seien.
       Zu Didis und aller anderen großem Kummer verstarb Haribaba Maharaj, Ma‘s beständigster Gefolgsmann aus der Schar der großen Sadhus, am 3. Januar 1970 in Varanasi. Er war seit einiger Zeit kränklich und hatte immer wieder verlangt, man solle ihn von Delhi, wo er sich zur Behandlung aufhielt, zu Ma bringen. Ma besuchte ihn häufig, wenn sie durch Delhi kam; mehr als einmal fuhr sie eigens nach Delhi, um ihn zu sehen. Als sein Zustand sich verschlechterte, brachte ihn Ma mit vollem Einverständnis aller seiner Devotees in den Ashram nach Varanasi. Sie war in seinen letzten Augenblicken bei ihm. Er schaute sie stetig an, als er, neben einem Porträt seines Ishta-Devata Gauranga sitzend, seinen letzten Atemzug tat. Für ihn waren Ma und Gauranga eins.
       Didi erlitt wenige Jahre nach Haribabas Tod einen Rückfall. Sie mußte nun immer häufiger bei ihren Ärzten in Bombay bleiben. Vor ihrer chronischen Erkrankung war Didi seit den Tagen von Shahbagh Ma‘s ständige Gefährtin gewesen. Sie hatte Ma zeitweise ganz allein persönlich betreut und zugleich zur Gründung aller wichtigen Ashrams beigetragen und solche enormen Veranstaltungen wie das Savitri Mahayajña in Varanasi von 1947 - 1950 organisiert. Sie hatte eine wichtige Rolle bei der Gründung des Kanyapeeth gespielt. Ihre akribisch geführten Tagebücher sind unschätzbare Informationsquellen für Ma‘s Reisen von 1926 bis 1964.

Abhaya stellte Didi einmal eine der für ihn typischen ungewöhnlichen Fragen: Ob sie Ma jemals habe schlafen sehen? Didi hatte darüber nie nachgedacht und antwortete mit wachsender Verwunderung: »Weißt du, Abhaya, weder ich noch sonst jemand hat Ma je vom Schlaf übermannt gesehen! Selbst wenn sie mehr als zwölf Stunden ohne Unterbrechung an einer Stelle saß, wie es in Dacca so oft geschah, haben wir sie nie ermüdet oder schläfrig gesehen. Hauptsächlich aus diesem Grund merkte es niemand, daß Ma viele Stunden lang saß. Die Leute kamen und gingen, die Neuangekommenen waren froh, Ma noch anzutreffen. Wenn ich dagegen mal beim Satsang einnicke, schrecke ich plötzlich auf und sehe Ma‘s Augen auf mir ruhen! So ist es immer - ausnahmslos! Wenn ich aber aufmerksam den Vorträgen zuhöre und hoffe, daß Ma sieht, welch reges Interesse ich der Tagung entgegenbringe, schaut sie nie in meine Richtung. Sobald sich aber meine Augen schließen, stelle ich fest, daß sie mich unentwegt ansieht!«
       Ma stimmte in das allgemeine Lachen ein, sprach Didi aber folgendes Lob aus: »Wißt ihr, ihre Gedanken sind immer hierher [auf Ma] gerichtet; ganz gleich, was sie tut oder mit wem sie spricht, ihre Gedanken bleiben auf das eine Ziel gerichtet; wenn sie aber einnickt, ist dieser Strom unterbrochen und mein Kheyala wird von ihr angezogen.«
       Didis Krankheit nahm im September 1980 eine Wendung zum Ernsten. Ma fuhr am 11. September von Vrindavan nach Bombay und kam am 12. an. Ihr Kheyala war, Didi am selben Tag mit Zustimmung von Bhaiya (B.K. Shah) nach Varanasi zu bringen. Bhaiya hatte von Beginn ihrer Krankheit an die Verantwortung für Didis Behandlung und Pflege übernommen. Er hatte gesagt: »Wenn du mich ›Bhaiya‹ [Bruder] nennst, dann gewähre mir auch das Vorrecht, mich von nun an um deine Angelegenheiten zu kümmern.« Die bemerkenswerte Haltung des Dienens, die Bhaiya, seine Frau Lila und seine ganze Familie an den Tag legten, ist nicht zu überschätzen. Ihr Haus war über dreißig Jahre lang eine Erweiterung des Ashrams. Ma verließ sich im Lauf der Jahre immer mehr auf ihn. Nun traf er schnell und präzise alle Vorbereitungen für die Reise. Didis Abteil, unmittelbar neben Ma‘s gelegen, war ein Klinikzimmer auf Rädern. Als Ma am nächsten Tag in Varanasi ankam, brachte sie Didi im Ashram unter, blieb aber nicht bis zum Ende bei ihr. Sie blieb eine kurze Weile allein mit Didi in ihrem Zimmer. Die Mädchen aus dem Ashram, die Didi pflegten, sahen dann, daß Ma ihr dreimal sanft mit der Hand vom Kopf bis zu den Zehen strich. Ma bat dann, gehen zu dürfen: »Soll ich jetzt gehen?« Didi stimmte zu, dennoch wiederholte Ma ihre Frage noch zweimal und erhielt dieselbe Antwort. Danach reiste Ma wieder nach Vrindavan, um im dortigen Ashram dem Bhagavata Saptah beizuwohnen.
       Didi öffnete um 10 Uhr abends ihre Augen und schaute Ma‘s Foto an ihrem Bett weiter und stetig an. Ohne das geringste Blinzeln blieben ihre Augen fast elf Stunden geöffnet, bis sie am nächsten Morgen verschied. Man hörte Ma, die in Vrindavan beim Satsang saß, leise ausrufen: »Didi ist fortgegangen!«
       Sie wartete, bis ihr die Nachricht überbracht wurde und reiste dann nach Varanasi zurück. Von Vrindavan über Bombay nach Varanasi, von dort zurück nach Vrindavan und noch einmal nach Varanasi. Ma verbrachte fünf aufeinanderfolgende Nächte in der Eisenbahn. Es schien, als könne sie nicht an einem Ort verweilen, um auf die unvermeidliche Nachricht vom endgültigen Dahinscheiden einer so langjährigen Freundin zu warten. In Varanasi angekommen, zog sich Ma still auf ihr Zimmer zurück und gab Panu Brahmachari alle Anweisungen für die letzten Riten. Sie schlug vor, daß die sterblichen Überreste mit den Ehrungen für die Asketen unserer Tradition behandelt werden sollten. Didi hatte wie Bhaiji und Bholanath von Ma das Sannyasa Mantra erhalten.

In der altüberlieferten Weise wurde Didis Leichnam daher in neue ockerfarbene Gewänder gekleidet und vor dem Ashram, der seine Enstehung, Konsolidierung und Erweiterung ihren fast alleinigen Bemühungen verdankte, im heiligen Wasser des Ganges versenkt. Der ganze Ashram nahm an den Zeremonien teil. Ma blieb in ihrem Zimmer. Sie sagte: »Ich will nicht Zeugin der Versenkung dieser Götterfigur sein.«
      Nie zuvor hatte man bei Ma ein solche Stimmung endgültigen Abschieds bemerkt, obwohl in ihrer Nähe viele enge Vertraute gestorben waren. Vielleicht sollte man Ma solche menschlichen Schwächen nicht unterstellen, aber möglicherweise lockerte der Verlust ihrer schwesterlichen Gefährtin für über 50 Jahre ein wenig ihre Verankerung auf der Erde. Aus Ma‘s Jahre zuvor geäußerten Worten über Didi hatten ihre Zuhörer geschlossen, daß Didi in ihrem Vorleben als Dididmas erstgeborenes Kind auf die Welt gekommen war, das schon in früher Kindheit starb. Sie schien anzudeuten, daß das kleine Mädchen nur gekommen war, um Ma‘s Ankunft anzukündigen. Aus diesem Grund nannte Ma sie Didi, ›ältere Schwester‹. Wenn Didi den Weg für Ma‘s Geburt bereitet hat, ist dann die Vermutung zu weit hergeholt, daß sie mit ihrem Tod auch Ma‘s Aufmerksamkeit auf das Ende ihrer Lilas in der Welt lenkte?
      Daß Ma 1981/82 den Weg ohne Rückkehr zur endgültigen Lösung aller Bindungen beschritt, wird sehr deutlich, wenn wir die Ereignisse dieser Phase betrachten.
      Ma‘s letztes positives Kheyala richtete sich, soweit das heute auszumachen ist, auf die Feier des Atirudra Yajña in Kankhal. Das hat in mehrfacher Hinsicht symbolische Bedeutung. Wie bei allen anderen Manifestationen der Shakti in Ma waren die Anfänge sehr bescheiden: einige junge Frauen, Gefährtinnen Ma‘s, sahen zufällig ein Yajña. Es kam ihnen fast gleichzeitig in den Sinn, wie schön es wäre, wenn sie unter Ma‘s Schirmherrschaft ein solches feierliches Ritual veranstalten könnten. Dieser Traum schien unerfüllbar, denn seit ungezählten Jahrhunderten waren vedische Riten männliches Monopol. Doch als eine von ihnen den Wunsch Ma‘s gegenüber auszusprechen wagte, sagte sie leichthin: »Warum tut ihr es nicht?« Da Ma offensichtlich einverstanden war, wurden andere Autoritäten konsultiert. Da niemand dagegen war, wurde ein kleines Komitee gebildet. Die zweite Hürde war das Geld. Die jungen Frauen legten ihre Ersparnisse zusammen, aber das war selbstverständlich nur ein Tropfen im Meer der Gesamtkosten.
      Das Projekt zog jedoch wie ein Schneeball in ungeahntem Ausmaß weitere Mittel und menschliche Hilfestellung an. Aus unerwarteten Quellen kam Geld, ein angesehener Architekt erklärte sich bereit, in Einklang mit den vedischen Vorschriften die Halle für das Yajña zu entwerfen; kompetente Ingenieure und Bauleiter fanden sich in dem Wunsch, hilfreich zu sein, aus freien Stücken ein. Die Detailplanung des ganzen Unternehmens übernahm Pandit Vamadeva Mishra. Ma leitete die Vorbereitungen zum Yajña ganz in ihrem alten Stil. Zum Acharya [Hauptpriester] wurde mit ihrer Billigung Vamadeva Mishra bestimmt. Sie hörte allen seinen Vorschlägen mit gütigem Verständnis zu und gab einige Anregungen, die dankbar angenommen wurden. Wie immer konnte Ma Mängel mit absolut sicherem Urteil ausgleichen.
      Zur Stätte des Geschehens wurde Kankhal bestimmt, eine an religiösen Legenden reiche Ortschaft. Deren berühmteste und weithin akzeptierte besagt, daß hier einst König Daksha mit einem Yajña begann, das mitten in seinem Verlauf von Shivas Gefolge gestört wurde, da der König den Gott beleidigt hatte. Es gibt in Kankhal nahe der für das Atirudra Yajña bestimmten Stelle in Ma‘s Ashram einen alten Tempel, der als Dakshas Haus bekannt ist. Alle frommen Leute in Kankhal, alle Oberhäupter der Klöster erklärten, kein anderer als Ma könne das aus den Legenden berühmte Yajña eben dort vollenden, wo es ursprünglich unterbrochen wurde.
      Als wäre ein Zauberstock geschwungen worden, spürte das Komitee aus jungen Frauen, daß ihnen alles leicht von der Hand ging. Eine verborgene Kraft blühte im glanzvollen Atirudra Yajña auf und rief Bewunderung, Ehrfurcht sowie ein nachdenklich stimmendes Gefühl hervor, plötzlich ins Satya Yuga versetzt zu sein, in dem solche Ereignisse normal waren. Auf Ma‘s Frage, in welcher Weise die Öffentlichkeit an diesem höchst exklusiven Ritual beteiligt werden könne, sagte Pandit Vamadeva, daß alle, die den Klang der vedischen Mantras hörten und die Halle ehrerbietig umschritten, den größten religiösen Gewinn davon hätten. Wehmütig zitierte er einen Text, der die Ausführenden des Yajña mit Packeseln vergleicht, die auf ihren Rücken eine äußerst kostbare Last tragen! Das Laienpublikum sei der wahre Nutznießer solcher Rituale.

Ma ließ einen ca. 1 Meter breiten Weg um die Halle anlegen, auf dem Tausende von Männern, Frauen und Kindern 11 Tage und Nächte lang diszipliniert und ohne Drängeln mit gefalteten Händen die Halle umschritten. Sie lauschten dem wohlklingenden Chor von 135 Stimmen, der die vedischen Mantras rezitierte, und betrachteten die aus elf Feuerstellen in gelb orange, rot, safran, gold, weiß und grau aufzüngelnden heiligen Flammen.
      Ma nahm an allen Aktivitäten teil. Sie schien in dieser Phase ihre frühere Gesundheit und Vitalität wiedererlangt zu haben. Ständig gab sie Rat, Anweisungen und machte weitere Verbesserungsvorschläge. Pandit Vamadeva, obwohl anfangs ein Fremder, sah sie bald als die Quintessenz des Geistes der Shastras an. In allen Fragen wandte er sich an sie. Professor Vyas Mishra, ein Kenner der vedischen Riten sagte, sie habe einmal sogar die bei einer besstimmen Hymne erforderliche Bewegung von Arm und Ellbogen korrigiert, ohne Worte, einfach indem sie es selbst vormachte. In diesem Moment wurde ihm klar, bis in welche letzten Feinheiten sie die Anweisungen der heiligen Schriften kannte. Die vedischen Gelehrten aus Madras, Gujarat, Uttar Pradesh und Maharashtra bildeten eine geistesverwandte Gruppe. Sie lebten fast zwei Wochen in einem Kloster des Udasin Akhara zusammen, wo sie sich den Regeln eines asketischen Lebens unterwarfen. Sogar die örtlichen Pandits, die an dem Yajña teilnahmen, wohnten für die Dauer der Veranstaltung nicht in ihreneigenen Häusern. Die ganze Gegend ähnelte einem Rishi-Ashram des Altertums, einer Waldeinsiedelei. So schloß sich die Kluft zwischen legendärer Vorzeit und Moderne.
      Ma‘s Kheyala beherzigend gestattete der Acharya dem Komitee junger Frauen, die Halle zu betreten und bei den Privilegierten Platz zu nehmen. Das war eine Abweichung von der Norm. Die Pandits meinten jedoch, nirgendwo in den Schriften sei die Teilnahme von Frauen ausgeschlossen; in alten Zeiten saßen sie nicht nur unter den Zuschauern, sondern beteiligten sich auch am Gespräch mit den größten Gelehrten.
      Es war typisch für Ma, daß sie jeden Fall für sich betrachtete. Kurz vor Beginn des Yajña bat ein junger Berufsfotograf darum, in der Halle fotografieren zu dürfen. Ma sagte ihm, nur wer geweiht und initiiert sei, dürfe die Halle betreten. Er war jedoch sehr aufs Fotografieren versessen und erklärte, er sei schon von Geburt ein Brahmane. Ma schickte ihn zum Acharya, der ihm, nachdem er sein Problem angehört hatte, sagte: ›mataram priccha‹ [frage Mutter]. So kam er wieder zu Ma. Ganz unerwartet machte sie für ihn eine Konzession. Sie sagte: »Geh zur Ganga, nimm ein Bad und zieh dir neue, gewaschene und ungenähte oder seidene Kleider an.« Sie gab ihm auch eine bestimmte Anzahl von Wiederholungen des Gayatri Mantras auf. Hocherfreut ging er sogleich zum Ganges.
      Während des Yajña verfaßte Ma eines Tages ein Gebet in Bengali, das jedem, der als Teilnehmer oder Zuschauer dabei war, überreicht wurde. Es lautete:

he atirudrayajñasvarupa bhagavan,
amar hridaye jyoti prakasha havo.

»Der Du Dich als Atirudrayajña manifestierst,
offenbare Dich bitte als Erleuchtung in meinem Herzen.«

Dieses Gebet ließe sich gewiß seitenlang ausdeuten; die elementarste Bedeutung trägt uns jedoch geradewegs vom Karmakanda [Ritual] durch das Upasanakanda [Hingabe] zum Jñanakanda [Erkenntnis] des vedischen Erbes. Der schöne Vers enthüllt die dem ganzen vedischen Textkorpus zugrundeliegende Harmonie. Ritual, Hingabe und Erkenntnis sind keine einander ausschließenden Wege, sie laufen parallel; so ist die Botschaft der Veden zu verstehen. Auch die Upanishaden sind letztlich ein integraler Bestandteil der Veden.
      Nach dem Yajña im April/Mai 1981 schien Ma sich in sich selbst zurückzuziehen. Es war, als hörte sie Fragen nicht, oder sie antworte leise: »Was immer geschieht, genau so soll es sein«, oder »Warte ab und sieh«. Sie setzte ihre unaufhörlichen Reisen fort, aber dies waren nun keine freudigen Flüge von einem Ast zum anderen mehr; sie waren sorgfältig vorausgeplant, damit alle Erwartungen, einen Blick auf den ›Vogel‹ zu erlangen, erfüllt werden konnten.
      Am 9./10. Januar 1982 hielt sich Ma in Allahabad auf, um die Ardha Kumbha Mela zu besuchen. Die Nacht verbrachte sie in dem von Bindu für sie gebauten kleinen Bungalow. Die Oberhäupter der Akharas [Mönchsorden] luden sie ein, an der Prozession zur Eröffnung des Festes teilzunehmen. Ma erwiderte: »Pitaji, dieser Körper ist so schwach, ihr werdet Schwierigkeiten bekommen, wenn er weiter zusammensinkt. Aber wenn ihr ihn mitnehmen wollt, dann tut es.«
      Die Mahatmas antworteten: »Tausende haben sich an den Ufern der heiligen Flüsse versammelt. Sie werden aus deinem Darshan großen Gewinn ziehen. Ihre und unsere Gebete werden deine Bewegungen unterstützen - wir werden uns größte Mühe geben, daß dir keine Unnanehmlichkeiten entstehen.« Ma lächelte und sagte: »Ich kenne keine Unannehmlichkeiten. Was Ihr auch sagt, ich bin einverstanden.«
      Ma nahm, damit alle sie sehen konnten, auf einem geschmückten Elefanten an der pompösen Prozession teil. Während etlicher vorausgehender Kumbha Melas in Hardwar und Prayag war Ma nicht als eine unter vielen Würdenträgern behandelt worden, sondern als die Verkörperung des Einen, den alle religiösen Strömungen anbeten und verehren.
      Ma besuchte das für unseren Ashram errichtete Lager. Unglücklicherweise riefen schwere Regenfälle ein allgemeines Chaos hervor: alles triefte vor Nässe; die Hütten brachen fast zusammen. Der Sturmwind machte die Lage noch mißlicher. Nie zuvor war so etwas vorgekommen. Die Vorkehrungen des Ashrams waren bei allen Festen, zu denen vorübergehend Lager aufgebaut wurden, immer mehr als ausreichend gewesen. Alle diese improvisierten Zusammenkünfte in Ma‘s Beisein waren erfüllt von freudiger Erregung über das Neue und Außergewöhnliche. Doch diesmal war es anders. Alles schien außer Kontrolle zu geraten, das Lager wurde schon vor Ende des Festes geräumt.
      Vor ihrer Abreise lud Ma die Mahatmas und alle Bewohner von Allahabad, die sie im Lauf der Jahre kennengelernt hatte, zu einem Festessen in das Anandamayi-Lager ein. Jeden einzelnen nannte sie namentlich. Sie kümmerte sich sogar um die Fahrgelegenheit für eine schwerbehinderte Frau, die zögerte, die Einladung anzunehmen. Die mit Arbeit voll ausgelasteten Freiwilligen im Ashram-Lager bemühten sich nach Kräften, alles bestens zu organisieren. Perfektion in allem war immer Ma‘s Standard, und die wurde hier unter schwierigsten Bedingungen erzielt. Niemand erkannte, daß dies ihr Abschied von Prayag und dem Triveni-Sangam war, die sie mehr als ein halbes Jahrhundert hindurch regelmäßig besucht hatte.
      In 31, George Town, Niraj Nath Mukerjis Haus, wo Ma in Allahabad logierte, sprach sie allen Familienmitgliedern ihr Lob aus und rief sich die langjährige Verbindung mit jedem einzelnen ins Gedächtnis. Die Familie freute sich über Ma‘s Worte, war aber einigermaßen verblüfft, da Ma nie zuvor eine solche Abschiedsrede gehalten hatte. Niemand erfaßte, daß sie tatsächlich von einem altvertrauten Ort Abschied nahm.
      Das Jahr 1982 hatte mit der katastrophalen Unordnung auf der Kumbha Mela begonnen. Vielleicht war das ein Omen. Nichts war mehr wie vorher. Ma war weiterhin krank und sah schwach aus, aber sie willigte in alle für sie organisierten Programme ein. Sie war ständig unterwegs, nie hatte sie zwischen den vielfachen Aktivitäten in verschiedenen Städten mehr als einige wenige Ruhetage.

Am 1. April unternahm Ma eine anstrengende Reise in den weit entfernten Bundesstaat Tripura. Der Maharaja von Tripura hatte sie eingeladen, ihre Geburtsprovinz zu besuchen; es wurden Vorbereitungen im großen Stil getroffen. Tripura hatte eine kommunistische Regierung; es gab Stimmen in der Bevölkerung, die sich diesem öffentlichen Willkommen für eine ›religiöse Persönlichkeit‹ widersetzten.
      Die Reise war von Mißverständnissen und unnötiger Panik geprägt. Nach dem Eindruck etlicher Zeugen wären die jungen Kommunisten selbst bereit gewesen, Freiwillige zu stellen und Ma zu betreuen. Zwar kam der Ministerpräsident (der kommunistischen Regierung), um Ma respektvoll zu begrüßen, doch es verbreitete sich ein Gerücht, daß widrige Ereignisse eintreten würden. Der Polizeipräsident wollte keine Risiken eingehen. Die stündlich anwachsende Menge übertraf alle Erwartungen. Leute aus weit entfernten Dörfern marschierten ein, um ihre Ma, die berühmte ›Tochter von Tripura‹, zu sehen.
      Statt für sie eine erhöhte Empore zu errichten, auf der sie weithin sichtbar gewesen wäre, wollten die Organisatoren sie schnell aus der Reichweite der Leute entfernen. Das öffentliche Festprogramm wurde im Eiltempo absolviert, bevor die von den Veranstaltern befürchteten Zwischenfälle eintreten konnten. Der Polizeipräsident scheuchte sie unter strikter Eskorte zum Bahnhof. Er fühlte sich offensichtlich während ihre Aufenthalts in Tripura für ihre Sicherheit verantwortlich. Man hörte Ma mehrfach sagen ›Janata Janardana‹ [Gott in Gestalt der Volksmenge]; sie beklagte, daß sie keine Gelegenheit bekam, mit ihr in Kontakt zu treten. Man hatte tausendmal gesehen, daß Menschenmengen für sie keine Unanehmlichkeit bedeuteten; Diese Eile war wirklich sehr bedauerlich. Man erlaubte ihr nicht, die Gebete tausender Menschen um Darshan zu erfüllen. Auf der Rückreise machte Ma einen sichtlich ermatteten Eindruck. Sie beschuldigte niemanden, sondern nahm die Enttäuschung der Leute auf ihre eigene Kappe. Sie sah müde und elend aus.
      Auf der Rückreise von Tripura besuchte Ma den Agarpara Ashram. Von dort fuhr sie nach Kankhal weiter - eine sehr lange Reise von drei Tagen und Nächten. Das war noch nicht das Ende ihrer Fahrten. Sie unternahm eine weitere Reise nach Kanpur und kehrte von dort zur Feier ihres 86. Geburtstags nach Kankhal zurück.
      Nie zuvor hatten die Devotees ein solches Geburtstagsfest erlebt. Nichts schien zu klappen. Es ging Ma so schlecht, daß niemand vorzuschlagen wagte, sie möge aus dem Bett aufstehen. Die Vorbereitungen für die Puja wurden in ihrem Zimmer getroffen. Es gab nirgendwo Platz für eine große Versammlung, da heftiger Regen die Sitzgelegenheiten unter einem Pandal [Schirmdach] unbenutzbar gemacht hatten. Die Leute standen einfach herum oder mußten anderweitig Schutz vor dem Regen suchen. Das Durcheinander war deprimierend. Später sagte Ma: »Führt die Puja vom nächsten Jahr an vor dem Portrait in der Halle aus.« Damals verstand das niemand als Prophezeihung. Alle meinten, sie spreche über die Beschwerlichkeiten, denen die Menge durch den unerwarteten Regen ausgesetzt war.
      Ma nahm weiterhin an verschiedenen Veranstaltungen im Ashram teil. Am 16. Juni empfing sie den Jagadguru Shankaracharya von Sharada Peetham. Endlich hatte Ma einen würdigen Gesprächspartner gefunden, zu dem sie die enthüllenden Worte sprach: »Pitaji, das ist keine Krankheit. Es ist ein Zustand der Spannung zwischen dem Manifesten und dem Ruf zurück ins Unmanifeste.«

Diese Worte bedürfen wohl tiefer Meditation, um einen Funken der Erleuchtung aus ihnen zu gewinnen. Sie enthalten vielleicht den Schlüssel zur Bitterkeit des göttlichen Leidens. Geboren zu werden ist eine Freude, aber der göttliche Mensch entscheidet sich damit zugleich, dafür mit dem Preis der Sterblichkeit, dem Tod, zu zahlen. Schon dies allein zeigt die Größe der Gnade und des Mitgefühls, die Gott mit seinen Geschöpfen verbindet. Vielleicht aufgrund dieser Wahrheit messen Christen dem Kreuz die für Anhänger anderer Religionen so schwer verständliche überragende Bedeutung bei.
      Ma kam in den Kishenpur Ashram in Dehra Dun. Sie nahm an einigen Riten und Zeremonien teil, die in fast ununterbrochener Folge dort stattfanden. In verzweifelter Bemühung, Ma‘s Kheyala abzuändern, beteten die Devotees unablässig um ihre Genesung. Ärzte aus Bombay und Varanasi, die sie lange kannte, kamen nach Dehra Dun. Ma war ihnen dankbar. Sie fanden jedoch keine Krankheit, die sie hätten behandeln können. Auf die Frage: »Ma, leidest du?« antwortete sie: »Nein, überhaupt nicht.« Sie schien von ihrem Körper, der unter Schmerzen und Kurzatmigkeit litt, losgelöst zu sein.
      Bhaiya kam und übernahm mit einigen anderen die Nachtwache in Ma‘s Zimmer. Eines Tages sagte er mit Nachdruck: »Ma, ich muß dich sitzen sehen, bevor ich nach Bombay zurückfahre!« Er wollte sie damit zu einer kleinen Bewegung ihrer stoffpuppenhaft erschlafften Glieder anregen.
      Einige Tage später wies Ma ihre Pflegerinnen an, sie in eine sitzende Stellung aufzustützen. Die Mädchen brachten diverse Kissen und hoben sie in sitzende Position. Sie schaute Bhaiya lange mit heiterem und mitfühlenden Gesichtsausdruck an. Bhaiya verstand, daß sie kein Kheyala hatte zu gesunden, aber sie hatte eine Anstrengung gemacht, seine Worte zu erfüllen. Bhaiya stand mit gefalteten Händen und Tränen in den Augen vor ihr. Er staunte über die immer stärker überströmende Quelle der Gnade, die selbst eine oberflächliche Bitte um der eigenen Beruhigung willen hundertfach erfüllte.
      Normalerweise zollte Ma den Wünschen der Mahatmas immer höchsten Respekt. Doch das Ersuchen des Jagadguru Shankaracharya, sie möge zur Durga Puja nach Shringeri kommen, lehnte sie freundlich ab. Auf seine wiederholten Bitten, sie möge gesunden, erwiderte sie: »Dieser Körper ist nicht krank, Pitaji. Er wird ins Unmanifeste zurückgerufen. Alles was Ihr jetzt geschehen seht, führt auf dieses Ereignis hin.« Dies war sein zweiter Besuch bei Ma auf dem Rückweg von seiner Pilgerschaft zu den Tempeln im Himalaya. Beim Abschied am 2. Juli 1982 erklärte sie noch einmal, daß sie seinen Wunsch nicht erfüllen könne, und fügte hinzu: »Als Atma werde ich immer bei Euch sein.«
      Ma wohnte vom 5. bis 24. Juli in Kalyanvan, einem Anwesen in unmittelbarer Nähe des Kishenpur Ashrams, wo sie sich unerreichbar hinter eine undurchdringliche Mauer zurückzuzog. Öffentlicher Darshan fand nicht statt. Ma hatte kein Kheyala, Briefe oder Nachrichten anzuhören. Mit einiger Beharrlichkeit entlockte Bhaskarananda ihr eine Botschaft an die Devotees, die sie überhaupt nicht zu sehen bekamen: »Bemüht euch, die Gnade eures Gurus durch euer Streben zu erfüllen.« Am 24. Juli gegen 9 Uhr morgens äußerte sie den Wunsch, Kalyanvan zu verlassen, und wurde in einem Auto zum Kishenpur Ashram gebracht. Panu Brahmachari zögerte, ihr die Fahrt nach Kankhal zuzumuten. So kam Ma in denselben Ashram, in dem fast 44 Jahre zuvor Bholanath hingeschieden war.

Ma hatte schon etwa drei Monate keine Nahrung mehr zu sich genommen. Die Mädchen, die sie betreuten, konnten ihr ab und zu ein paar Tropfen Wasser einflößen. Eine verzweifelte Stimmung hatte sich breitgemacht. Alle Devotees zermarterten sich den Kopf mit der Frage, warum ihre geliebte Mutter überhaupt leiden müsse und warum sie nichts tun konnten, um sie wieder zu ihrer gewohnten Art des Zusammenseins mit ihnen zurückzubringen. Vielleicht als Antwort auf diesen Ruf so vieler verängstigter Herzen sagte Ma einmal ganz klar, scheinbar zu den Mädchen an ihrem Bett:
      »Wo immer ihr seid, taucht ganz und gar in zielgerichtetes Sadhana ein.«
      Dieser letzte Ausspruch Ma‘s strahlt auf alle aus, die Unterstützung und Mut von ihr bezogen - und weiter beziehen werden -, auf dem Weg weiterzuschreiten, den sie als würdigstes Lebensziel für alle Menschen gewiesen hat.
      Manchmal hörte man Ma sehr leise Mantras aussprechen. In der Nacht vom 25. zum 26. wiederholte sie das heilige Panchakshara-Mantra in seiner umgekehrten Form: ›Shivaya Namah‹. Nach shivaitischer Tradition wird das als Zeichen für die Ablösung von allen weltlichen Bindungen gedeutet. Der Yogi ist bereit, sein letztes Bindeglied zur Welt, den Körper, aufzugeben.
      Für uns alle kam die Wirklichkeit ihres Daseins in unserer Mitte am 27. August 1982, gegen 8 Uhr abends zu Ende.
      Ma hatte weder Lebewohl gesagt, noch ihren Betreuern irgendwelche Anweisungen hinterlassen. Erstaunlich spontan wurden die Kräfte mobilisiert und Vorbereitungen getroffen, ihren Leichnam in einer Prozession nach Kankhal zu geleiten. Der Autokonvoi mußte am Eingang der heiligen Stadt Hardwar anhalten. Nur der Wagen mit Ma‘s Körper fuhr langsam weiter, so daß Tausende, die die Straßen säumten, ihm die letzte Ehre erweisen konnten.
      Die Hügel am Fuße des Himalaya sind heiliges Gebiet. Alle Mönchsorden haben in Hardwar ihr Hauptquartier. Einhellig kamen sämtliche Mahatmas zusammen, um Ma‘s sterbliche Überreste in Empfang zu nehmen. Die Frage, welcher Sekte der Vorzug zu geben sei, stellte sich nicht. Ihr, die nie das ockerfarbene Gewand irgendeines Ordens getragen hatte, erwiesen nun alle die höchste Ehre. Der Mahanirvani Akhara übernahm die Vorbereitungen für die letzten Riten des Samadhi. Sein Mahanta, Shri Giridhar Narayan Das Puri, stand Ma seit vielen Jahre sehr nahe. Oft hatte sie ihn gebeten, an ihrer statt traditionelle Segnungen der Menschenmengen zu übernehmen, z.B. das Austeilen von Batasas [Zuckerplätzchen] nach einem Nama-Yajña oder einem besonderem Kirtan. Nun trat er hervor, um den Ashram in allen Fragen des Rituals anzuleiten.
      In der Trauerfeier kamen Menschen aller Schichten und Stände zusammen. Mrs. Indira Gandhi, die Premierministerin von Indien, reiste an und gesellte sich zu den jungen Frauen aus Ma‘s Umgebung. Fürsten mit ihren Familien und andere Würdenträger standen wartend in der riesigen Menge, die aus allen Ecken Indiens zusammengeströmt war. Ausländer und Inder zollten Ma vereint ihre letzte Ehre. Den Mahatmas, die bereits der Welt entsagt hatten, kam es vor, als löse sich nun ihre allerkostbarste Bindung. Swami Brahmananda schrieb schmerzlich: »Wer wird jetzt so herzlich ›Baba! Baba!‹ zu uns sagen?«
      Ma‘s Devotees waren gewohnt an das Fest ihrer Gegenwart in der versammelten Menge, gewohnt an den ersehnten Anblick ihrer majestätisch schönen Gestalt, an die unsägliche Freude, dem mitfühlenden Blick absoluten Akzeptiertseins zu begegnen. Aber sie waren vollkommen unvorbereitet, von dieser einen Person Abschied zu nehmen, die in das innerste Gewebe ihres Seins eingedrungen war. Auch wenn sie Ma einige Tage, Wochen oder gar Monate nicht gesehen hatten, wußten sie, daß sie bei ihnen war, in jedem Atemzug, den sie taten, in der Erde, auf der sie schritten, im Raum, der sie umgab und in der Zeit, die sie begrenzte. Wie sollten sie sich damit abfinden, daß ihre Erde, ihre Luft, ihre Zeit, ihre Orte und sie selbst Ma nicht mehr sehen würden! Wer konnte privilegierter sein als sie, und wer unglücklicher!

Für alle, die Ma verehrten, begann eine neue Reise. Schließlich hatte sie gesagt:

»Ich bin immer bei euch!«

      Diese Worte Ma‘s bleiben ein stetiger, unerschöpflicher Quell der Inspiration für alle, die den Weg zum vollen Verständnis ihrer Botschaft an die Menschheit angetreten haben:

»Allein von Gott zu sprechen ist der Mühe wert.«