Abschied von Shahbagh

Die Devotees von Dacca erfuhren, daß Ma wieder einmal ihre Abreise vorbereitete. Ihre Freundin Hiranbala Ghosh sagte: »Du mußt bald wiederkommen, sonst schließen wir die Tore von Shahbagh und lassen dich nicht mehr herein!« Ma lächelte und erwiderte nur: »Ist das so?« Am Tag ihrer Abreise sah Didi Ma in einer ganz sonderbaren Stimmung durch die ausgedehnten Gärten gehen. Hier und dort strich sie mit der Hand zart über die Mauern, doch sie machte einen abwesenden, rätselhaften Eindruck. Didi wagte nicht, sie nach dem Grund für dieses seltsame Verhalten zu fragen.
       Während Ma und Bholanath durch Rajasthan reisten, wurden die Liegenschaften der Nawabzadi der britischen Regierung übergeben. Das führte dazu, daß Jogesh Chandra Ghosh, Bhudeb Basu und Bholanath entlassen wurden. Sie mußten aus Shahbagh ausziehen. Die Devotees taten sich zusammen und mieteten ein Haus in der Stadt, in das Ma‘s Eltern, Amulya und seine Mutter und ein Junge namens Kamalakanta einzogen. Die Tonfigur der Kali wurde in einem der Zimmer aufgestellt. Hiranbala Ghoshs scherzhaft gemeinte Worte hatten sich als prophetisch erwiesen. Als Ma nach Dacca zurückkam, ermutigte sie die bekümmerte Familie von Jogesh Ghosh, sie solle sich um die verlorene Stellung keine Sorgen machen; was geschehen sei, werde sich in Zukunft als segensreich erweisen. Viel später erkannten sie, wie wahr diese Worte waren.
       Bhaiji litt schon seit längerer Zeit an Tuberkulose. Er hatte Dacca verlassen, um sich in gesünderem Klima zu erholen. Ma hatte ihn in Vindhyachala besucht. Auch er kehrte nun nach Dacca zurück und nahm seine Arbeit wieder auf. Seine Ärzte hatten ihm zwar geraten, sich pensionieren zu lassen und jede Anstrengung zu vermeiden, denn er habe nur noch wenige Monate zu leben, doch Ma sagte: »In den nächsten paar Jahren wird dir nichts passieren. Komm zurück nach Dacca und arbeite wieder. Dann sehen wir weiter.«
       Wie alle anderen war auch er überzeugt, daß sein Leben durch Ma‘s Gnade verlängert worden war. Mr. Finlow, der Direktor für Landwirtschaft in der Regierung von Bengalen, schätzte und respektierte seinen Stellvertreter sehr. Eines Tages fragte er Bhaiji: »Wie sind Sie von dieser tödlichen Krankheit genesen?« Ohne zu zögern antwortete Bhaiji: »Ich wurde durch die Gnade von Shri Ma geheilt. Sie gab mir keine Amulette oder dergleichen. Ich war in ärztlicher Behandlung; die Ärzte erklärten die Krankheit für unheilbar, und ich weiß, daß sie es ohne Ma‘s Gnade auch gewesen wäre.« Mr. Finlow antwortete bedächtig: »Ich bezweifle das nicht. Auch in unserem Land haben wir von ähnlichen Fällen göttlicher Gnade gehört.«
       Die Devotees feierten Ma‘s Geburtstag in großem Stil in Siddheshwari. Bholanath führte die Tithi-Puja aus. Dies war die zweite Puja; die erste war 1927 in Shahbagh festlich zelebriert worden.
       Das gemietete Haus wurde wieder aufgegeben, da es nicht günstig gelegen war; ein anderes Haus mit Namen Uttama-Kutir wurde für Ma und Bholanath angemietet. Alle Devotees bemühten sich nach Kräften, ein Grundstück zu finden, auf dem sie einen Ashram als geeigneten festen Wohnsitz für Ma und Bholanath bauen wollten.

Ma war inzwischen fast ständig auf Reisen. Sie kam nur für wenige Tage nach Dacca und fuhr dann wieder in entfernte Städte. Gegen Ende des Jahres 1928 besuchte sie Varanasi. Bei diesem Aufenthalt lernte sie Mahamahopadhyaya Gopinath Kaviraj kennen, den damaligen Rektor des Queens College, das heute die Sampurnananda Sanskrit University ist. Von früh bis spät zog ein endloser Strom von Besuchern durch das Haus, in dem Ma und Bholanath logierten.
       Niemand machte sich Gedanken darüber, ob dieser Ansturm dem Hausbesitzer angenehm war. Die Besucher kamen einzeln, in Familien oder in großen Gruppen; sie brachten Blumen, Kränze, Süßigkeiten, Kleider und Räucherstäbchen. Sie belagerten Ma ununterbrochen, so daß sie nicht dazu kam, sich zu waschen und umzuziehen, zu essen oder auszuruhen. Tag und Nacht gingen ineinander über, trotzdem kamen die Leute, angezogen von der magnetischen Persönlichkeit, die nun die Einschränkungen einer traditionsverhafteten Lebensweise hinter sich gelassen hatte. Bholanath bemühte sich vergebens, Ma von der schonungslosen Verausgabung ihrer Zeit und Kraft abzuhalten. Dazu war es bereits zu spät. Ma hatte ihm in Shahbagh einmal gesagt, er solle es sich gut überlegen, bevor er die Tore zur Welt öffnete. Jetzt erinnerte sie ihn an diese Warnung: »Damals hast du nicht auf mich gehört, wie kannst du jetzt das übergelaufene Wasser wieder aufhalten? Bholanath sah ein, daß die Flut nicht mehr einzudämmen war. Im Grunde hatte er nichts gegen die permanente freudige Feststimmung, darum schwanden seine Vorbehalte bald. Vielleicht mußte er seine Zweifel einmal äußern, denn wie wir wissen, strebte er nie öffentliche Aufmerksamkeit für Ma an.
       Gopinath Kaviraj war sehr davon beeindruckt, wie sie auf schwierige Fragen einging und tiefgründige Antworten voll Geist und Humor gab. Die Satsang-Treffen waren nicht nur erhellend, sondern auch erfreulich unterhaltsam. Dies waren die Anfänge von Ma‘s ›Gesprächen’. Überall, wo Ma sich aufhielt, wurde es nun üblich, daß die Besucher Fragen stellten und Ma antwortete. Sie hielt nie lange Vorträge, und sie sprach auch nicht ungefragt von sich aus. Ihre absolute Stille inmitten einer Menschenmenge war ebenso erstaunlich wie die viele Stunden währenden unermüdlichen Antworten auf unendliche Fragen. Sie ging auf Fragen aller Art ein und beantwortete sie mit unfehlbarer Urteilskraft auf der Verständnisebene des Fragenden. Sie kleidete sich zwar weiterhin wie eine verheiratete Frau und trug Saris mit breiten Bordüren, wahrte aber jetzt nicht mehr unauffällige Zurückhaltung. Sie hatte die für sie bestimmte Bühne betreten.
       Ma und Bholanath kamen zum ›Uttama Kutir‹ in Dacca zurück, allerdings nur für wenige Wochen, in denen sich das Haus in einen kleinen Shahbagh verwandelte. Einmal verließ Ma mit Bholanath das Haus und ging nach Siddheshwari. Sie richtete sich in dem einzigen Zimmer des kleinen Ashrams ein. Bholanath zog in den Tempel und widmete sich offenbar unter Ma‘s Anleitung seinem Sadhana. Seine latente Neigung zu einem auf das Jenseits gerichteten Leben konnte sich in Siddheshwari voll entfalten. Siddheswari wurde durch Ma‘s Lila ein ganz besonderer Ort, den man auf mystische Weise mit Bholanath verbunden wußte.
       Ma äußerte ihr Kheyala, nicht in den Uttama Kutir zurückzukehren - ein plötzlicher Entschluß, der die Devotees tief bestürzte. Es war ein radikalerer Umbruch als der Auszug aus Shahbagh. Die meisten Leute, die sich um Ma und Bholanath geschart hatten, sollten schnelle Entschlüsse, totale Veränderungen, den Verlust behaglicher Häuser und freundlicher Gefährten kennenlernen. Ma durchlebte dies alles auf ihre eigene Art, vielleicht, um sie auf die künftigen Wechselfälle ihres Lebens vorzubereiten.
       Sämtliches Inventar des Uttama Kutir wurde ausgeräumt. Ma‘s Eltern, die zu Besuch gekommen waren, kehrten wieder in ihr Dorf zurück. Ashu und Amulya hatten bereits in anderen Städten Anstellungen gefunden. Der neu hinzugekommene Junge Kamalakanta siedelte nach Siddheshwari über, um Ma und Bholanath bei der täglichen Hausarbeit zu helfen. Die Devotees aus Dacca wurden gebeten, ihre Besuche auf zehn Minuten zu begrenzen, und so blieb Siddheshwari still und abgeschieden.