Einführung

Das Kandar Anubhuti ist eine tief philosophische und spirituelle Abhandlung mit einer tiefen mystischen Bedeutung des Heiligen Arunagirinathar, der unter den Shakti-Heiligen von Tamilnadu einzigartig ist. ,Kandar’ auf Tamil bedeutet ,Skanda’ auf Sanskrit; es ist einer der Namen des spirituellen Sohns von Shiva. Andere Namen für ihn sind Subrahmanya, Sharavanabhava, Shanmukha, Karttikeya, Guhan, Velayudhan, Murugan usw. Er ist der jüngere Bruder von Ganesha. ,Anubhuti’ ist eher ein Sanskritbegriff, der auch auf Tamil im gleichen Sinne verwendet wird, nämlich direkte, unmittelbare Erfahrung Gottes. Er bezeichnet die spirituelle Vereinigung der Seele mit Gott im Sinne der höchsten nondualen advaitischen 9 Verwirklichung.

Es ist Sakshatkara, direkte Erfahrung. Daher bedeutet Kandar Anubhuti die unmittelbare, direkte Göttliche Erfahrung von Lord Skanda. Für Arunagiri ist Lord Skanda nicht nur eine persönliche Gottheit (Ishta Devata), sondern das Höchste Absolute selbst, wie er es auch in vielen Versen offenbart, besonders in den Versen 2, 13, 28 und 49. Also können wir sagen, dass ,Kandar Anubhuti’ schlicht und einfach „Gotteserfahrung“ bedeutet. Der heilige Arunagiri ist der Autor vieler poetischer Werke, von denen das Kandar Anubhuti sein Meisterwerk ist. Obwohl es ein kleines Werk aus 51 Versen, Stanzas, ist, ist es sehr reich an spiritueller Weisheit und voll tiefer Bedeutung. Es ist ein Schatz an seltenem Wissen für Wahrheitssucher und eine Goldgrube der Hingabe für Gottliebende.

Es ist ein ungewöhnliches Werk einer geheimnisvollen Synthese von Bhakti und Jnana, von Hingabe und Wissen – wobei sie sich gegenseitig überlappen; sie berühren das Herz, entzünden reine Emotionen und rufen gleichzeitig tiefe Gedanken hervor und transzendieren den Intellekt. Es mag genügen zu sagen, dass es ein Mantra-Shastra, eine Abhandlung über mystische Inhalte, ist und dass es auf eine Ebene mit dem bekannten Mantra-Shastra Tiru- Mantiram gestellt wurde – eine Abhandlung von 3000 Versen des Heiligen Tirumular, der jeweils ein ganzes Jahr in Samadhi versunken blieb, um danach einen einzigen Vers weiter zu geben und dann wieder in Samadhi versunken zu sein.

Das Tiru-Mantiram ist das zehnte Buch des Panniru Tirumurai der Shaivaiten, d. h. der 12 heiligen Werke der Shaivas (Shiva-Anhänger). Entsprechend wird das Kandar Anubhuti als das zehnte Buch des Murugaval Panniru Tirumurai der Anhänger Murugans betrachtet. So kann man den Ruhm und die Großartigkeit des Werkes bis zu einem gewissen Grad verstehen, aber um es in seinem vollen Ausmaß zu erfassen, muss es in sein eigenes Wesen absorbiert und Teil der eigenen Erfahrung werden. Es heißt, dass das Kandar Anubhuti explizit und implizit viele Mantras enthält. Die Namen Gottes wie Murugan, Kanda, Shanmukha, Guhan, Velava sind selbst Mantras; und das Werk ist voll mit diesen Namen Gottes. Außerdem gibt es in vielen Versen Mantras in Form mystischer Formeln. Zum Beispiel ,Velum Mayilum Thunai’ in Vers 1, ,Naathaa Kumaraa Namah’ in Vers 36, (Naan) Iraiyoon Parivaaram’ in Vers 37, ,Guruvaai Varuvaai Arulvaai Guhane’ in Vers 51 – Näheres findet sich in den Erklärungen der Verse. Es gibt auch noch einen weiteren Grund, warum das Kandar Anubhuti als ein Mantra-Shastra betrachtet wird. ,Mananaat Traayate Iti Mantrah’ – das, wodurch man durch Manana, tiefes Nachdenken, darüber (von Samsara) gerettet, befreit wird, ist ein Mantra.

Wahrlich, ein tiefes Nachdenken und Meditation über dieses mystische Werk und seine Inhalte befreit einen aus der Bindung. Der Velvon Lord Skanda, der mit Ihm identisch ist, ist eine mystische göttliche Waffe, mit der Er die Asuras (Dämonen) vernichtet. Der Vel, der absolute Weisheit ist, zerstört auch die inneren Asuras oder Feinde, nämlich Avidya (Unwissenheit), Kama (Sinnesgelüste) und Karma (Schicksal; Gesetz von Ursache und Wirkung) und befreit den Jiva (die individuelle Seele) von der Seelenwanderung. Der Vel ist eine geheimnisvolle göttliche Kraft. Der heilige Arunagiri bezieht sich darauf als den Mantra-Vel in einem seiner Tiruppugazh Lieder. Und in den 51 Versen des Kandar Anubhuti wird der Vel in 25 Versen direkt angerufen.

Auch aus diesem Grund wird das Werk als ein Mantra-Shastra betrachtet. Weil es so erfüllt ist mit den Namen Gottes, die Mantras sind; weil es viele mystische Formeln (Mantras) birgt, die einen, wenn man darüber nachdenkt oder sie wiederholt vom Rad von Geburt und Tod befreien; weil es mit Anrufungen an den Vel erfüllt ist, der seiner Natur nach mystisch ist und Avidya zerstört, ist eine tägliche Rezitation dieses wundervollen Mantra-Shastra, des Kandar Anubhuti, in der Lage, einem das zu gewähren, was man ernsthaft sucht und genau in der Weise, in der man sucht. Darum ist das Kandar Anubhuti für Skanda-Verehrer ein heiliges Buch für tägliches Parayana (hingebungsvolle Rezitation) und es gibt selbst heute noch Gläubige, die von ihren persönlichen Erfahrungen und dem wunderbaren Schutz berichten können, den sie von Gott erhalten haben, indem sie Zuflucht zur Wiederholung eines einzigen Verses oder selbst eines Teils eines Verses aus dem Kandar Anubhuti genommen haben. Ich möchte dazu am Rande zwei solche Ereignisse berichten:

(1) Ein Verehrer, der täglich das Kandar Anubhuti wiederholte (Parayana), ging auf einem Dschungelpfad von einem Dorf zu einem anderen. Da wurde er plötzlich von einem Dieb angesprochen. Der Verehrer riss den Stiel eines Betel blattes ab, das er bei sich hatte und warf ihn nach dem Dieb, wobei er den Satz „Tholaipatturuvath Thodu Velavane“, „O Lord Velayudha, der den Vel schleuderte, um (das Herz des Asura Surapadma) zu durchbohren.“ (die letzte Zeile von Vers 4) rezitierte. Und siehe da! Der Betelstiel wirkte wie der Vel und tötete den Dieb sofort.

(2) Der Shaiva Siddhanta Maha-Samajam in Madras hat in tamilischer Sprache ein Buch mit dem Titel „Kandar Anubhuti“ mit den ursprünglichen Versen, ihren jeweiligen Yantras (Darstellungen der Chakras) und Mula-Mantras (zu den Chakras gehörige Wurzel-Mantras) veröffentlicht. Sein Autor ist Sri M.P. Thyagaraja Mudaliar, B. A., der Sekretär des Samajam. Er wurde von einem Sannyasin, der große Siddhis durch sie erlangt hatte und dem die Yantras und Mula-Mantras in der Meditation offenbart wurden, in die Verse und Yantras eingeführt. Der Autor hat in seinem Buch ein interessantes Ereignis wie folgt beschrieben: Es war im Jahr 1956. Ein Amerikaner, Mr. Edward James, machte Rituale zur Verehrung der Göttlichen Mutter (Devi Upasana) und stieß auf einige Hinder - nisse bei seinen Praktiken.

Er schrieb von Amerika an Mudaliar, ob er ihm einige Mittel vorschlagen könne, um die Hindernisse zu überwinden. In seiner Antwort wies Sri Mudaliar auf die Notwendigkeit hin, Ganeshas Gnade anzurufen, um das Hindernis zu überwinden und riet ihm, den ersten Vers des Kandar Anubhuti zusammen mit dem zum Vers gehörenden Mula-Mantra und Yantra zu wiederholen (Aadumpari Vel...). Mr. James tat das und nach etwa drei Monaten hatte er eine mysteriöse Erfahrung. Er schrieb: „Während ich so meditierte, erschien eine Person in meinem Raum, gewandet in reine weiße Kleider und mit einem Kamandalu (Bettelschale) in der Hand, umgeben von Elefanten und gab mir und meiner Frau, die auch in Meditation war, aus dem Kamandalu ein wenig heiliges Wasser zu trinken. Dann löste sich alles in einer Masse von Licht auf. Seitdem bin ich völlig transformiert und fahre mit meinem Devi Upasana ohne irgendwelche Hindernisse fort.“

Aus den oben beschriebenen Ereignissen können wir uns den immensen Nutzen vorstellen, den man aus einem täglichen systematischen Parayana des Kandar Anubhuti gewinnen kann. Wenn eine Zeile oder ein einziger Vers so viel bewirken können, was könnte dann durch eine Rezitation des ganzen Werkes nicht erreicht werden? Während die Wiederholung eines bestimmten Verses mit seinem Mula-Mantra und Yantra entsprechende Ergebnisse schenkt, löst eine selbstlose, tägliche Rezitation aller 51 Verse ohne konkrete Erwartung an Gott nicht nur die eigenen physischen und psychischen Krankheiten auf und beschützt vor allen Gefahren, sondern gewährt einem auch die höheren Segnungen reiner Liebe Gottes und Göttlicher Weisheit. Dies ist meine eigene Überzeugung und Erfahrung.

Meines Wissens gibt es keinen Kommentar über das Kandar Anubhuti auf Englisch, obwohl ich gehört habe, dass vor über 25 Jahren jemand eine reine Übersetzung auf Englisch veröffentlicht hat, aber ich konnte keine nähere Information und keine Kopie davon bekommen. Auf Tamil gibt es natürlich viele Kommentare über dieses großartige Werk und jeder davon hat seinen spezifischen Zweck oder ist durch bestimmte Vorlieben geprägt. So gibt es z.B. Kommentare rein für Schüler, direkt und einfach, so dass sie die Bedeutung verstehen können, während sie die Verse rezitieren; andere für die Allgemeinheit, entstanden aus Vortragsreihen, die anschließend überarbeitet und veröffentlicht wurden; für Gelehrte, mit zahlreichen Zitaten aus den verschiedenen tamilischen Werken; für Verehrer, wo besonders der Ruhm und die Großartigkeit Lord Skandas betont werden, mit Anekdoten und Geschichten, um ihren Herzen Glauben einzuflößen; und so weiter.

Es gibt Kommentare, die auf der Philosophie des Shaiva Siddhanta beruhen und solche, die auf der Philosophie des Vedanta beruhen. Mein Bestreben ist es, die Verse hauptsächlich vom Standpunkt eines Sadhakas aus, eines Suchers nach der Wahrheit, zu interpretieren und zu erklären, mehr um ihnen bei ihrer Praxis hilfreich zu sein und weniger literarisch und akademisch. Daher habe ich mich besonders darauf konzentriert, den tieferen Sinn hinter den markanten Ausdrücken und Worten zu analysieren und zu finden, um im Suchenden die notwendige, unerschütterliche innere Über zeugung hervorzurufen, welche eine große Unterstützung für Sadhakas ist, in ihrer Praxis beständig zu bleiben und sich weiter zu bemühen, bis das Ziel erreicht ist. Ich möchte hier erwähnen, dass das Kandar Anubhuti für mich eine ihrer Natur nach rein spirituelle Abhandlung ist, und darum lässt es keinerlei niedere und verstiegene Interpretationen zu, nur um den Leuten zu gefallen.

Es ist ein heiliges Buch und muss deshalb mit echter Glut und Hingabe auf eine heilige Weise behandelt werden. Selbst wenn es weit hergeholt erscheinen mag, wäre es angemessen und ratsam zu versuchen, unsere Anstrengungen darauf zu lenken, den Geist des Heiligen zu verstehen und seine Absicht, warum er der Welt ein solches Werk gegeben hat und die Verse in einer göttlichen Weise erklärt, erhaben über jegliche sinnliche und weltliche Ansichten. Wie das Sprichwort sagt: „Es ist besser auf einen Löwen zu zielen und ihn zu verfehlen, als einen Schakal zu jagen und ihn zu fangen“. Darum war es mein Bemühen, die Verse rein vom Gesichtspunkt eines spirituellen Suchers aus zu interpretieren und zu erklären, um im Einklang mit dem Titel des Werks zu sein und der Absicht, mit der der heilige Arunagiri es der Welt gab – um anderen zu helfen, auch diese Seligkeit zu erlangen, die er selbst genossen hat.

Es mag daher nicht viel Gelehrtheit, Belesenheit, literarischer Wert oder grammatikalische Perfektion in diesem Buch zu finden sein, weil mehr Wert und Aufmerksamkeit darauf gelegt wurde, dass die Erklärungen von praktischem Nutzen für Sucher sind und ihnen das notwendige Verständnis und die Stärke liefern, um den täglichen Kämpfen mit ihrer niederen Natur zu begegnen, sie schrittweise zu überwinden und schließlich das Ziel der Gotteserfahrung zu erreichen. Meine Bemühungen wären reichlich belohnt, wenn auch nur einem Sucher ein wenig auf seinem inneren Marsch zum Ziel geholfen würde. Natürlich versteht es sich von selbst, dass ich den größten Nutzen davon hatte, diesen Kommentar zu schreiben, da sich mir viele großartige Wahrheiten und Geheimnisse im Verlauf meiner Arbeit enthüllt haben. Möge die Gnade von Lord Skanda unseren Pfad erleuchten und unsere Bemühungen mit Erfolg krönen, ist mein aufrichtiges Gebet.

 

9.Advaita = „Nicht-Zweiheit“, die Vedanta-Philosophie der Einheit