Der Pionier auf dem Pfad der Entsagung

Ma wählte ihre ältesten Anhänger dazu aus, sich dem Ideal der Weltentsagung als vollkommenster Lebensweise hinzugeben. Auf ihren Wanderungen durch die Berge hatte sie das Kheyala, Shashanka Mohan solle in aller Form in eine der Mönchsgemeinschaften eingeführt werden. Im März 1934 war Ma bei einer ihrer Wanderungen in Salogra bei Solan auf einen Tempel am Wegrand gestoßen, neben dem sich eine Höhle befindet. Sie ist so klein, daß niemand darin ausgestreckt liegen oder  aufrecht stehen kann. In dieser Höhle lebte Ma eine Zeitlang. Damals waren Bhaiji und Hansa Datta Tiwari bei ihr. Hari Rams Bruder Madan Joshi war Arzt in Solan. Als er kam, um Ma seine Aufwartung zu machen, fand er sie ganz entspannt in der Höhle sitzen, strahlend wie immer. Nach einem Schneefall war es in den Bergen bitter kalt, aber das schien ihr nichts auszumachen. Solan war die Hauptstadt des Fürstentums Bhagat. Raja Durga Singh von Bhagat war als Fürst von lauterem Charakter und religiöser Neigung bekannt. Er verehrte einen Weisen namens Shogi Baba, der damals in Solan lebte. Von Ma hatte der Raja Sahib zwar gehört, aber anfangs war er am Darshan einer ›heiligen Frau‹ nicht interessiert.
      Dr. Joshi hatte Ma nach Solan eingeladen, aber aufgrund eines plötzlichen Kheyala für Shashanka Mohan fuhr sie stattdessen nach Hardwar. Sie schrieb an Shashanka Mohan in Dacca und Swami Shankarananda in Varanasi, einen neuen Devotee, sie möchten nach Hardwar kommen. Ma war voller Enthusiasmus und schien sehr erfreut, als Didi mit ihrem Vater in Hardwar eintraf. Sie sagte zu Shashanka Mohan: »In Solan hatte man schon Vorbereitungen für unseren Aufenthalt getroffen, aber ich hatte plötzlich das Kheyala, du solltest Sannyasa nehmen. Diese heiligen Orte sind für den Sadhana gut geeignet; sie ziehen Gottliebende und Heilige an. Ich habe Swami Shankarananda schon vorgeschlagen, er solle für dich einen geeigneten Guru finden. Chaitra Sankranti (der 13./14. April) ist ein glückverheißender Tag. Es bleibt wenig Zeit, deshalb müssen alle Vorbereitungen schnell getroffen werden.«
      Diese Worte trafen Shashanka Mohan wie ein Schock. Auf eine so radikale Veränderung war er nicht gefaßt. Außerdem war es für ihn unverstellbar, seinen Kopf vor einem anderen, für ihn bisher namenlosen, Guru zu beugen. Unglücklich antwortete er: »Ich kann an keinen anderen Guru denken. Ich glaube nicht, daß ich mich einem anderen als dir unterordnen kann. Ich habe immer gehofft und geglaubt, du würdest mich führen. Warum willst du, daß ich zu einem anderen Guru gehe? Ma erwiderte sanft: »Ich kann dich nicht in Sannyasa einweihen«, worauf er entgegnete: »Ich brauche nichts, was du nicht für mich tun kannst.«
      Dann sagte Ma ruhig: »Nun, in diesem Fall brauchen wir weiter keine Vorbereitungen zu treffen. Sie wurde ernst und sagte nichts mehr. Ihr freudiger Gesichtsausdruck, mit dem sie das Gespräch eröffnet hatte, verschwand vollkommen.
      Es war Abend. Shashanka Mohan zog sich zurück; man sah ihn hinausgehen und viele Stunden am Ufer des schnell vorbeifließenden Ganges sitzen, mit Blick auf die bewaldeten Berghänge am gegenüberliegenden Ufer. Mit was für Gedanken schlug er sich herum? Er war ein stolzer Mann, mehr zu befehlen gewohnt als zu gehorchen. Die Aussicht, jeden Halt und jede Stütze einer lang vertrauten Lebensweise aufzugeben und sich auf eine Reise ins Unbekannte einzulassen, muß ihn bis auf den Grund der Seele erschüttert haben. Er war das Oberhaupt einer weitverzweigten Familie. Vielleicht überlegte er hin und her, ob es recht sei, sich ihr für immer zu entziehen. Er wäre dann niemandem mehr zu irgend etwas verpflichtet. Er muß auch an seine Tochter und deren Zukunft gedacht haben. Er könnte sie dann nicht mehr beschützen, und sie müßte, so gut sie konnte, allein für sich sorgen. Dies sind natürlich Mutmaßungen. Er teilte seine Gedanken niemandem mit. Alle Devotees der frühen Zeit waren sehr kultiviert und vornehm. Tatsache ist, daß er spät in der Nacht zu Ma kam und mit sanfter Stimme sagte: »Ich glaube, ich bin mit den Gedanken, die mir ungebeten in den Sinn kamen, herausgeplatzt. Jetzt bin ich bereit, dein Kheyala auszuführen und zu tun, was du sagst.«
      Ma strahlte. Sogleich machte sie Pläne für das wichtige Ereignis. Sie sagte ihm: »Du hast keinen Grund zu denken, daß du zu einem anderen Guru gingest. Es gibt nur Eine Wirklichkeit.«

Ma war im Ashram von Bholagiri Maharaj wohlbekannt. Sein Nachfolger Shri Mangal Giri Maharaj willigte ein, Shashanka Mohan in den Orden der Giris einzuweihen, einen der angesehensten Sannyasi-Orden in Indien. Der Initiant muß ein Yajña ausführen, bei dem er sich von seinen Bindungen an die Welt lossagt. Dem Opferfeuer überantwortet er sein Selbstverständnis als Individuum, als Mitglied seiner Familie, Gesellschaft, Nation, selbst seiner Kaste und seines Glaubens. Das ›Ich‹ soll von allen Begrenzungen befreit werden, damit es sich mit dem Einen und dadurch mit dem ganzen Universum identifizieren kann. Ein Sannyasi gehört niemandem und an keinen bestimmten Ort, und daher gehört er allen und überallhin.
      Ma und eine Handvoll Gefährten waren Zeugen dieser feierlichen Zeremonie, des höchsten Gipfels, den ein in der Hindutradition aufgewachsener, geborener Brahmane erklimmen kann. Nach einem vollen und produktiven Leben in der Welt war Shashanka Mohan hervorragend befähigt, der Welt zu ihrem größeren Heil zu entsagen. Sein neuer Name war Swami Akhandananda Giri. In einem ockerfarbenen Gewand kam er zu Ma, um sich vor ihr zu verbeugen. Sie sagte: »Du hast bislang unablässig (akhanda) deiner Familie und deinem ärztlichen Beruf gedient. Weihe dich von jetzt an ebenso unablässig der Selbstverwirklichung.«
      Sadhus und Mahatmas, den Asketen verschiedener Orden, erwies Ma immer höchsten Respekt, aber sie ermutigte niemanden, sich im Namen der Religion seinen Pflichten zu entziehen. Ein Vorfall kann hier geschildert werden, der zeigt, was sie in dieser Hinsicht lehrte. Er trug sich einige Jahre später in Dehra Dun zu. Während Ma vor dem Tor des neuerbauten Ashrams in Kishenpur spazieren ging, sah sie einen Sadhu in der Nähe stehen. Sie sprach ihn auf Bengali an. Er antwortete ebenfalls auf Bengali, obwohl er nicht wie ein Bengale aussah. Sie bat ihn hinein und lud ihn ein, im Ashram zu Abend zu essen. Nach dem Essen setzte er sich zu Ma. Sie fragte ihn:
      »Bist du ein Sannyasi
      »Nein.«
      »Warum kleidest du dich dann wie einer?«
      »Praktisch bin ich einer. Ich habe der Welt entsagt.«
      »Um dein Tapasya zur Selbstverwirklichung zu auszuüben?«
      »Daran habe ich nicht gedacht. Im Moment möchte ich nichts mit der Welt zu tun haben.«
      »Heißt das, daß du aus persönlichen Gründen dein Zuhause verlassen hast und nicht zurückgehen willst?«
      »Ja.«
      »In diesem Fall führst du alle Welt irre, und dir selbst tust du auch keinen Gefallen.«
      »Ich habe mit keinem Menschen etwas zu tun. Es geht niemanden etwas an, was ich mit meinem Leben mache.«
      »Das stimmt nicht. Deine äußere Erscheinung als Asket bedeutet den Leuten etwas. Es ist unsere Tradition, einen Menschen zu unterstützen, der sich intensiv dem Sadhana widmet, denn er hat keine anderen Hilfsquellen. Er hat den Willen, sich selbst zu versorgen, aufgegeben und vertraut ganz dem göttlichen Willen. Die Menschen unterstützen ihn, wie sie jeden unterstützen würden, der sich selbstlos im Dienste der ganzen Gesellschaft engagiert. Dieses Kleid darf nicht getragen werden, um damit persönliche Probleme zu lösen oder sich schwierigen Situationen entziehen. Wenn du dich nicht ausschließlich dem Sadhana widmest, hast du kein Recht, Essen und Unterkunft von den Leuten anzunehmen, die dein Gewand sehen und dir spontan etwas geben, ohne deine Redlichkeit zu prüfen.«
      Der junge Mann, der einen kultivierten und gebildeten Eindruck machte, schwieg. Ma sagte ihm, er könne im Ashram bleiben, solange er wolle, aber es wäre besser für ihn, nach Hause zu gehen und sich der Situation zu stellen, vor der er weggelaufen sei. Am nächsten Morgen wurde der junge Mann nicht mehr gesehen, wahrscheinlich hatte er sich entschlossen, Ma‘s Rat zu befolgen.
      Eine andere Begebenheit: Ein junger Mann aus einer der reichsten Industriellenfamilien des Landes kam zu Ma, um sie über seinen zukünftigen Lebensweg um Rat zu fragen. Er war wie ein Brahmachari gekleidet und hatte schon viele Jahre im Ashram seines Gurus gelebt. Sein Problem war folgendes: Er wollte ein Sadhu werden, aber sein Guru hatte ihn nach 12 Jahren aufgefordert, heimzugehen und die Pflichten eines Haushälters zu übernehmen. Was sollte er tun? Ma sagte ihm: »Ich sehe gar kein Problem. Du mußt immer deinem Guru gehorchen, wenn du ihn als solchen anerkennst. Wenn er von dir verlangt, daß du heiratest und in der Welt arbeitest, dann ist es das, was du zu tun hast. Warum zögerst du?«
      Nach einiger Zeit ging der junge Mann fort, offenbar nicht recht befriedigt von Ma‘s Worten. Nachdenklich sagte sie zu der kleinen Gruppe, die das Gespräch verfolgt hatte: »Seht ihr, der Weg spirituellen Strebens ist schwierig und voller subtiler Fallgruben. Deshalb braucht man immer einen Führer. Manchmal findet ein Sadhaka Gefallen an den vielen Vergünstigungen, die ihm zufallen - besonders wenn er ein paar unbedeutende Yoga-Kräfte erworben hat. Auch das anfängliche Verlangen nach Ruhm und Ehre als Sadhu kann die Urteilskraft eines Schülers umwölken und ihn daran hindern, sein Pflicht klar zu erkennen.«
      Ma erklärte, Seelenstärke und Gehorsam seien für ein Leben des Sadhana unerläßlich. Als Shashanka Mohan berufen wurde, hat er den Guru nicht enttäuscht. Von Ostbengalen nach Hardwar - eine Reise, die sein Leben in vielfacher Weise verwandelte. Wie gütig Ma ausgesehen haben muß, als er im feuerfarbenen Gewand des Entsagenden vor ihr stand - dem Genius des Landes gemäß auf der höchsten Stufe die ein Mensch im Leben erreichen kann.