Goraksha Shataka

 

Vers 30: Sitz der Kundali

 

Oberhalb des Kanda liegt Kundali, die Schlangenkraft. Achtfach geringelt, verschließt sie mit ihrem Maul stets die Öffnung des Tors zum Brahman.


    कन्दोर्ध्वे कुण्डली शक्तिरष्टधा कुण्डलीकृता |
    ब्रह्मद्वारमुखं नित्यं मुखेनावृत्य तिष्ठति || ३० ||


    kandordhve kuṇḍalī śaktir aṣṭa-dhā kuṇḍalī-kṛtā |
    brahma-dvāra-mukhaṃ nityaṃ mukhenāvṛtya tiṣṭhati || 30 ||

    kandordhve kundali shaktir ashta-dha kundali-krita |
    brahma-dvara-mukham nityam mukhenavritya tishthati || 30 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

    kandordhve : oberhalb (Urdhva) des Kanda
    kuṇḍalī : die Kundali
    śaktiḥ : die Kraft, Energie (Shakti)
    aṣṭa-dhā : achtfach (Ashtadha)
    kuṇḍalī-kṛtā : geringelt, in Kreise gelegt (Kundalikrita)
    brahma-dvāra-mukham : die Öffnung, den Eingang (Mukha) des Tors zum Brahman, zum Absoluten (Brahmadvara)
    nityam : immer, stets (Nitya)
    mukhena : mit dem Maul (Mukha)
    āvṛtya : verdeckend, verschließend (ā + vṛt)
    tiṣṭhati : liegt ("befindet sich", sthā)

Anmerkungen: Kundali ist ein Synonym für Kundalini, die von den Yogis als "Schlangenkraft" verehrte Form der kosmischen Energie (Shakti). Sie wird hier als achtfach geringelt beschrieben, während es in der Shiva Samhita (2.23) sowie der Gheranda Samhita (3.49) heißt, sie sei dreieinhalbfach gewunden: sārdha-tri-karā kuṭilā suṣumṇā-mārga-saṃsthitā "dreieinhalbfach gewunden (Kutila), befindet sich (Kundali) an der Bahn (Marga) der Sushumna" (ShS 2.23).

    mūlādhāra ātma-śaktiḥ kuṇḍalī para-devatā |
    śayitā bhujagākārā sārdha-tri-valayānvitā || 3.49 ||

"Am Muladhara liegt die Kundali, die Energie (Shakti) des Selbst (Atman), die höchste Gottheit (Paradevata), in Form (Akara) einer Schlange (Bhujaga) mit dreieinhalb Windungen (Valaya)." (GhS 3.49)

Interessant ist, dass in der Gheranda Samhita der Sitz der Kundalini im Bereich des Muladhara Chakra angesiedelt wird, während es in der Hatha Yoga Pradipika (3.107-108) im Einklang mit dem Goraksha Shataka heißt: kandordhve kuṇḍalī śaktiḥ suptā ... kuṭilākarā sarpa-vat "Oberhalb des Kanda schläft (Supta) die Energie namens Kundali ... in gewundener Form, wie eine Schlange (Sarpa)" (Hatha Yoga Pradipika 3.107-108). Allerdings kann Muladhara auch "Nabel" bedeuten (in der GhS steht an dieser Stelle kein Wort im Sinne von Chakra) - dann befände sich der Sitz der Kundalini in der Nabelgegend (mūlādhāre), was wiederum dem Ausdruck "oberhalb des Kanda" (kandordhve), der "oberhalb vom männlichen Glied und unterhalb des Nabels" liegt (vgl. Vers 16), entspräche.

Für den Sitz der Kundalini in der Nabelgegend spricht eindeutig auch die Shandilya Upanishad (1.4.8), eine weitere Yoga Upanishad, die sowohl den Sitz der Individualseele bzw. des "Lebensprinzips" (Jiva), des Prana und der Kundalini im Nabelzentrum (Nabhichakra) verortet: "Der Sitz der Kundalini (Kundalinisthana) ist auf der Höhe des Nabels (Nabhi), unter und über ihm" (nābhes tiryag adhordhvaṃ kuṇḍalinī-sthānam). Der Text bezieht sich im folgenden mit nahezu denselben Worten wie das Goraksha Shataka auf das achtfache Geringeltsein der Kundalini: "Die (Schlangen-)Kraft (Shakti) ist gemäß ("in Form", Rupa) ihrer acht(fachen) Natur (Prakriti) achtfach (Ashtadha) geringelt" (aṣṭa-prakṛti-rūpā'aṣṭa-dhā kuṇḍalī-kṛtā śaktir bhavati).

Die allgemein verbreitete Ansicht ist jedoch die, dass sich die Kundalini im Muladhara Chakra befindet. So heißt es in der Shiva Samhita (2.21-23), die Kundali sitze im Adhara genannten Lotus (Padma), der sich zwei Fingerbreit (Angula) oberhalb des Anus (Guda) und zwei Fingerbreit unterhalb des männlichen Glieds (Medhra) befindet.

Mit "Öffnung des Tors zum Brahman" (brahma-dvāra-mukham) ist die untere Öffnung der Sushumna gemeint, die von der Kundalini verdeckt wird, solange sie "schläft". In der Gheranda Samhita (3.51) heißt es in diesem Zusammenhang: kuṇḍalinyāḥ prabodhena brahma-dvāraṃ vibhedayet "Durch das Erwecken (Prabodha) der Kundalini soll man das Tor zum Brahman öffnen".