Der Aufstieg des Geistes

 
 
   10 Die Krise des Bewußtseins (3)

Da sich die Instinkte nicht außerhalb des Lebensprozesses befinden, ist ihre Rolle im menschlichen Leben etwas schwierig zu verstehen. Da instinktives Handeln oder Begehren Bestandteile des eigenen Verhaltens sind, werden alle Bemühungen, ihren Ursprung und ihre Funktion zu untersuchen, selbst für einen guten Psychologen zu einer schwierigen Aufgabe. Für gewöhnlich hält sich der durchschnittliche Mensch für vernünftig, wobei er unbewußt davon ausgeht, daß sein Charakter, sein Verhalten und sein Handeln den unwürdigen instinktiven Impulsen aus seinem Inneren überlegen seien. Auch wenn die meisten Menschen zu dem Eingeständnis bereit wären,  daß sie gelegentlich auch in den angeblich selbstlosen Bewegungen ihrer Natur von instinktiven Trieben beherrscht werden, akzeptieren sie die Existenz von “sozialen Instinkten” nur ungern, da das soziale Leben seit jeher als eine kultivierte und großartige Korrektur der selbstsüchtigen Begierden der persönlichen Instinkte angesehen wird. Dies ist auch der Grund dafür, daß die soziale Tat und speziell das, was sozialer Dienst genannt wird, als edles menschliches Ideal verherrlicht wird, das frei und fern von den unrühmlichen Begierden der persönlichen Instinkte existiert. Eine psychologische Analyse, von der man Objektivität erwarten darf, wird jedoch nichts als selbstverständlich akzeptieren, auch nicht den Ehrenkodex des eigenen Landes, der vielleicht schon seit Jahrhunderten definiert, was edel ist und was nicht.

        Wie wir bereits beobachtet haben, befindet sich ein Instinkt nicht außerhalb der menschlichen Natur. Er ist ein aus dem Unbewußten aufsteigender Drang, der vom Verstand nicht kontrolliert werden kann und in Richtung eines speziell anvisierten Zieles wirkt, wobei er sich häufig in unvernünftigen und unüberlegten Handlungsweisen äußert, mit denen das Individuum das Ziel zu erreichen sucht, auf welches es vom Instinkt aufmerksam gemacht wurde. Lassen wir die Details dieses Themas im Moment jedoch beiseite, und richten unsere Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Es ist wahr, daß “Gesellschaft” die Bezeichnung für eine dem Charakter nach ähnliche Gruppe von Individuen ist, die zum Zweck der Erfüllung eines gemeinsamen Interesses miteinander leben und arbeiten. Aus dieser Tatsache ließe sich schließen, daß die menschliche Gesellschaft nichts enthält, was nicht auch im Individuum entdeckt werden kann, und daß letzteres nichts anderes als ein Teil des ersteren ist. Hieraus würde sich nun wiederum folgern, daß die Gesellschaft nicht frei von den Schwächen der menschlichen Natur sein kann, auch wenn viele Individuen zusammenkommen, um sowohl über die Notwendigkeit als auch über die Mittel und Wege zur gemeinschaftlichen Steuerung des Kurses nachzudenken, den das öffentliche Leben, frei von den selbstsüchtigen Grundzügen individueller Eigenarten, zum sozialen Wohle aller einschlagen soll. Diese Theorie hat natürlich einiges für sich, da man anhand einer wirklich sachlichen Beobachtung der menschlichen Natur feststellen wird, daß das kollektive Interesse die Forderungen der privaten Interessen des Individuums nicht völlig ignorieren kann. Dies ist vielleicht auch der Grund dafür, warum die menschlichen Schwächen in der Menschheitsgeschichte seit jeher in den gleichen Gewändern auftreten und die Gründe für menschliches Versagen auch heute noch die gleichen sind wie vor Jahrhunderten. Hier berühren wir den wunden Punkt des menschlichen Charakters und seiner allgemeinen Aktivitäten, so daß man schon fast zu der Schlußfolgerung geneigt ist anzunehmen, der Mensch sei im wesentlichen ein von jenseits seiner Kontrolle liegenden und unbewußten Trieben gesteuerter Automat, ein Werkzeug in den Händen von Begierden und Leidenschaften, selbstsüchtig bis ins Innerste und letztendlich vertrauensunwürdig. Und genau dies erkennt man unglücklicherweise in dem Bild, das der Mensch heutzutage in seinem Alltagsleben abgibt.

        Wäre dies jedoch die ganze Wahrheit, dann wäre das Leben ein schrecklicher Schauplatz fortwährender Sorge und Angst und womöglich letztendlich nicht einmal mehr lebenswert. Anscheinend sehen die Menschen ihre psychologische Struktur und die Rolle, die diese in der menschlichen Gesellschaft spielt, jedoch in einem anderen Licht. Psychologen halten es für notwendig, zwischen der Individual- und Sozialpsychologie zu unterscheiden und beide als verschiedene Themenbereiche zu behandeln, mit charakteristischen Unterschieden in Struktur und Funktion. Diese Unterscheidung ist einem qualitativen Merkmal zuzuschreiben, das man in der sogenannten “Gesellschaft” antreffen kann, nicht jedoch in der bloßen quantitativen Summe aller Individuen, die ihre Bestandteile bilden. Der Unterschied zwischen Quantität und Qualität ist wichtig genug, um den sozialen Werten im Leben einen Platz einzuräumen. Sie transzendieren das Reich der individuellen Instinkte, die ohne Zweifel selbst in der “Gesamtheit” aller Individuen angetroffen werden können. Obwohl die Psychoanalyse, insbesondere die mit “Freudscher Prägung”, darauf bestehen wird, daß es zwischen der menschlichen Gesellschaft und der Summe aller in den Individuen vorhandenen Triebe keinerlei qualitativen Unterschied gibt, würde die Anerkennung dieser Ansicht in ihrer gesamten Tragweite allerdings die bloße Existenz von Moral, Ethik und selbstlosem Verhalten ausschließen. Die Psychoanalyse besteht natürlich auf dem Standpunkt, dies sei die ganze Wahrheit und die unverhüllte Realität hinter der menschlichen Natur. Ob dies jedoch die ganze Wahrheit ist und ob es nicht noch andere Faktoren zu berücksichtigen gilt, sind Fragen, die im Namen derartig geächteter menschlicher Werte gestellt werden müssen.

        Bevor wir jedoch versuchen wollen, diese Fragen auf eine zufriedenstellende Art zu beantworten, wären wir gut beraten, zu einem Punkt zurückzukehren, auf dessen Bedeutung wir vorher bereits hingewiesen haben und der die Ursache für das Fortbestehen eines Gefühls der Unsicherheit und Sorge ist, das die menschliche Gesellschaft trotz ihrer wiederholten gemeinsamen Bemühungen um Errichtung des sogenannten sozialen Wohles und eines internationalen Friedens mit universellem Charakter verspürt. Es gibt einen sehr klaren und triftigen Grund für dieses unangenehme Phänomen, nämlich: Die Grundsätze der Erziehung basieren auf einer Vorstellung vom Ziel des Lebens, die von der Gesellschaftsstruktur und den vorherrschenden Umständen der Umwelt, in der wir leben, gelenkt wird. Auf Grund der mit den Methoden der empirischen Wissenschaft durchgeführten Experimente und Beobachtungen, geht man für gewöhnlich mit völliger Selbstverständlichkeit davon aus, daß das Universum aus physikalischen, biologischen und psychologischen Einzelteilen - sogenannten Dingen, Wesen und Personen - gebildet ist, die man als “Individuen” bezeichnet, wenn sie heraus gepickt und in ihrer isolierten Leistungsfähigkeit studiert werden, und die man unter dem Begriff “Gesellschaft” zusammenfaßt, wenn man sie als Gruppe von Individuen mit ähnlichem Charakter betrachtet. Der Erziehungsprozeß ist normalerweise eine Folge von Methoden, Informationen über die Objekte der Sinneswahrnehmung, von denen man annimmt, daß sie die Umwelt des Menschen bilden, zu studieren und anzusammeln.

        Auf der Vorstellung basierend, daß sich die Einheiten, die die menschliche Umwelt bilden, außerhalb des wahrnehmenden und erkennenden Subjekts befinden, haben die Lehranstalten solche Themenbereiche wie Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Soziologie, Wirtschaft-Recht, Ökonomie, Geographie, Geschichte und Politik in ihre Lehrpläne einbezogen. Diesen primären Studienfächern wurden bestimmte akzeptierte Vorstellungen aus der Ethik, Philosophie, Religion und Kunst hinzugefügt, stets von der Annahme ausgehend, daß alle Personen und Dinge als unabhängige Einheiten im Behälter des Universums existieren und in mechanischem Kontakt miteinander stehen, wobei jede Einheit eine individuell für sich bestehende Unabhängigkeit genießt, so daß man die Lage mit einer Handvoll kleiner Kugeln vergleichen kann, die in eine Flasche eingefüllt wurden. Diese Vorstellung vom Universum bildet praktisch die Basis der modernen Schulphilosophie und -psychologie und deren Ausübung im Lehrbereich der Institute. So fordert man die Studenten dazu auf, eine Gruppe von Themen aus den verschiedenen oben aufgelisteten Fächern auszuwählen und gibt ihnen ein Zeugnis oder einen Titel, nachdem sie etwa gelernt haben, Berechnungen im Bereich der Algebra, Arithmetik und Geometrie auszuführen, oder wie sich gewisse Körper unter Beobachtung verhalten, wie sie untereinander agieren und reagieren, was alles nur aus einer empirischen Untersuchung der sichtbaren Struktur und des Verhaltens von wahrgenommenen Objekten resultiert.

        Das gesamte System der heutigen Bildung oder Erziehung kann als mechanistisch bezeichnet werden, da es die Beziehung von Dingen als physischen Kontakt einer Ansammlung von Objekten von essentiell verschiedenem Charakter ansieht, der durch zufällige Bewegungen der Dinge entsteht oder durch einen Druck, der von gänzlich außerhalb ihrer individuellen Struktur liegenden Faktoren ausgeht. Daraus würde folgen, daß wir nicht in einer Welt leben, in der ein inneres Band freundschaftlicher Beziehungen besteht, sondern vielmehr, daß wir aus Elementen, Eigenschaften und Zielen bestehen, die sich untereinander fremd sind und letztlich nicht in einer wahren, lebendigen und geschwisterlichen Beziehung miteinander vereint werden können. Wir scheinen in einem Billardkugel-Universum zu leben, in dem die Dinge aufs Geratewohl im Raum verstreut sind und entweder durch bloßen Zufall oder aber auf Grund reiner Selbstsucht - die zur Erfüllung ihrer eigenen Absichten einer bestimmten Hilfe seitens der anderen bedarf - in Kontakt zueinander stehen, zusammenarbeiten und einander helfen. Ganz gleich, ob die Welt nun vom Zufall oder von Selbstsucht regiert wird, in beiden Fällen scheint sie nicht mehr als ein wirres Knäuel seelen- und zielloser Aktivitäten gedankenloser Kräfte zu sein, die mit undefinierbarer Absicht hinter dem innersten Kern einer jeden individuellen Einheit, ganz gleich ob anorganischer oder organischer, physikalischer, biologischer oder psychologischer Natur, zu lauern und zu kämpfen scheinen.

        Dies ist das Bild des Universums, mit dem uns die moderne Wissenschaft versorgt. Und ein Erziehungssystem, das in der Perspektive einer solchen wissenschaftlichen Analyse und Logik verwurzelt ist, kann ebenfalls nur mechanistisch, seelenlos und ziellos sein und demzufolge nichts weiter als die altruistische Tarnung einer grundsätzlich selbstsüchtigen Absicht eines jeden Individuums. Um es klarer zu formulieren: Diese Form der Schulung kann letztendlich keinem anderen Zweck dienen als dem, sich eine dem Körper und Ego angenehme Existenz zu erhalten, für die es auf der physischen Ebene des Erwerbs von Nahrung, Kleidung und Obdach bedarf, auf der vitalen Ebene der Befriedigung des Sexualtriebs, und auf der psychologischen Ebene der Errungenschaft von Ruhm und Macht. Wo man dagegen den Anschein erwecken will, als würde das Erziehungssystem auch solche Bereiche wie die Wohlfahrt und den Schutz anderer Personen anstreben, ist leicht zu erkennen, daß es sich hierbei lediglich um eine feinfühlige Erweiterung der Ziele des psycho-physischen Organismus handelt, denn wie man bereits sehen konnte, ist das Interesse an anderen Individuen sowohl für eine intensivere Befriedigung der eigenen Triebe als auch für den Erwerb von besseren Chancen für deren Erfüllung dienlich, da diese Triebe ohne die Kooperation von anderen Individuen und von äußeren Faktoren der unterschiedlichsten Art nicht angemessen erfüllt werden können. Diese Tatsache ist dem persönlichen Ego dank der Existenz des Unterbewußtseins, das tiefer reicht als das sinnesbezogene oder intellektuelle Verständnis, sehr wohl bekannt.

        Dies ist die  unangenehme Wahrheit, die nach einer genauen Analyse hinter den sogenannten edlen Bemühungen des Menschen zum Vorschein kommt, wenn diese auf der erzieherischen Weisheit basieren, die aus dem vorhin erläuterten Bild des Universums hervorgeht. Dies würde auch erklären, warum sich der Mensch seit jeher unsicher fühlt und sich in einer Umwelt wähnt, die ihm nicht freundlich gesonnen ist, obwohl er doch zur gleichen Zeit Nächstenliebe und ein Gefühl der Brüderlichkeit verspürt, das er so gerne demonstriert und für das er äußerlich auch einzutreten scheint. Denn schließlich basieren diese eigentlich noblen Tugenden auf falschen Werten und können somit auch nicht lange bestehen. Äußerlich demonstrierte Formen der Kooperationsbereitschaft und harmonischer Umweltbeziehungen, die auf einer essentiell egoistischen und unfreundlichen Haltung beruhen, können letztlich nur bedeutungslos sein. Die Wahrheit scheint zu sein, daß wir in einer Welt der Liebe und Zusammenarbeit leben, die auf einer generellen Abneigung und Unversöhnlichkeit gegenüber anderen beruht! Dies ist unsere Welt, unser Leben und unser Schicksal, wenn wir der Struktur und Zielsetzung unserer heutigen Erziehung und der daraus resultierenden allgemeinen Denkhaltung folgen. Man kann von Studenten und Lehrpersonal nicht erwarten, daß sie sich auf eine Art und Weise verhalten, die von der essentiellen Natur der Dinge nicht gefordert wird. Hier haben wir das unverblümte Bild der modernen Erziehung.

        Da wahres Interesse, Liebe und Zusammenarbeit Eigenschaftsmerkmale der Seele sind, kann man diese Qualitäten nicht von einem seelenlosen Erziehungssystem erwarten, das rein auf der physikalischen Beobachtung und dem Studium von anorganischer Materie basiert, auch wenn es dabei um das Studium der Sonnen- und Sternensysteme und des elektromagnetischen Kerns von Atomen geht, die, wie uns die Wissenschaft erklärt, die Grundbausteine des Kosmos bilden. Sollte die Wissenschaft damit recht haben, daß diese ihre Resultate die letzt endlichen Schöpfungswahrheiten sind, dann kann der Mensch niemals auf Frieden hoffen oder eine Freiheit erlangen, die diesen Namen wirklich verdient.

        Stimmen diese Erkenntnisse jedoch wirklich mit der Wahrheit überein? Die unermüdlichen Hoffnungen und Bemühungen des Menschen sind der Beweis dafür, daß die Schlußfolgerungen der materialistischen Wissenschaft und der Verhaltenspsychologie falsch sein müssen. Das menschliche Streben galt seit jeher der Errungenschaft von absoluter Freiheit und fortwährendem Frieden. Und wenn diese Ziele zu einem Inhalt des Bewußtseins werden konnten, heißt das, daß dieses auch dazu imstande sein muß, einen Zustand der Absolutheit zu erreichen, der zugleich auch ein Zustand der Unsterblichkeit und einer nichts ausschließenden Universalität ist. Ohne diese tiefreichendere Bedeutung der Ziele des Lebens, die von jedem Menschen in seinem Alltag angestrebt werden, sind die menschlichen Bemühungen völlig sinnlos und bestenfalls ein fortwährender Selbstbetrug, der ins eigene Verderben führt. Daß hinter den mechanistischen Trieben und Beziehungen der Menschen und Dinge eine vereinigende, nicht-mechanistische und universelle “Absicht” am Werk ist, läßt sich anhand der bloßen Existenz und Ununterdrückbarkeit der Bestrebsamkeit und Rastlosigkeit nachweisen. Somit sollte das Erziehungssystem umorientiert und in einen Prozeß der lebendigen Entfaltung eines beseelten subjektiven Ziels des Individuums transformiert werden. Das Leben hat einen göttlichen Kern von grundsätzlich spiritueller Natur, der in allen Dingen verborgen liegt.

        Daß das Universum primär ein “Reich der Endlichkeiten”[14] ist, in dem jedes Individuum oder jede Einheit eine Essenz der “Selbstheit” darstellt, und nicht ein Objekt der Ausbeutung durch andere Individuen; daß die kollektive Organisation von “Endlichkeiten”1 und “Selbstheiten” das grundsätzliche Ideal jeglicher Wissenssuche ist; daß die Erziehung ein systematisierter Prozeß zur schrittweisen Entfaltung dieser ewigen Tatsache des Lebens ist; daß ein paralleles Voranschreiten entlang der Linien zunehmender Selbstlosigkeit und eines immer umfassenderen Bewußtseins der Existenz verlangt ist, was zur Verwirklichung einer universellen Selbstheit führt; daß materielle Annehmlichkeiten und ökonomische Bedürfnisse (Artha) sowie die Befriedigung der eigenen emotionalen Seite (Kama) nur solange zulässig sind, wie das Gesetz (Dharma) der ewigen Wahrheit von der Befreiung des Selbsts in die Universalität des Seins (Moksha) deren Erfüllung reguliert; und daß das ganze Leben eines Individuums somit ein Leben der Schülerschaft und des Lernens im Licht einer immer weiter und umfassender werdenden Lebensperspektive ist, die mit jeder Stufe anwächst - darin liegt die Lebendigkeit und Bedeutsamkeit des Erziehungsprozesses. Erziehung bzw. Bildung ist die schöpferische Evolution des gesamten Menschen in Richtung Verwirklichung seiner kosmischen Bedeutung, die seine Persönlichkeit, die Gesellschaft und die Welt durchzieht.