Mit Yoga Vidya zum Zentrum des Universums

15.10.2011
Eine Reise zum Mandala des Heiligen Berges Kailash ist eine Begegnung mit den natürlichen Kräften und Energien die in jedem von uns wirksam sind. Was wir dort entdecken können ist: Mitgefühl.

Manche Menschen sagen es ist die größte Pyramide der Welt. Andere gehen noch einen Schritt weiter, und erklären dass dieser Berg das Zentrum des Universums ist. Zumindest dauert es einige Zeit, bis man sich diesem Wunder genähert hat. Mount Kailash ist der heiligste Berg für Buddhisten und Hindus – und mittlerweile auch für viele spirituell interessierte Europäer. Er liegt 1280 Kilometer von Lhasa und 980 Kilometer von Delhi entfernt im auch im 21. Jahrhundert nur schwer zugänglichen Westen Tibets. Pilger aus dem Abendland nehmen entweder eine mehrtägige Tour mit dem Jeep auf sich, oder wandern über das Humla-Gebirge von Nepal nach Tibet, um sich dann zur Umrundung dieses faszinierenden Mandalas zu machen. Was macht diesen Berg, abgesehen von seiner schieren Schönheit, zu so etwas besonderem? Warum gehen Menschen den beschwerlichen Weg dorthin, und um ihn herum?

Der Legende nach wohnen Shiva und Parvati, das Götterpaar das den Yoga in die Welt brachte, seit ihrer Hochzeit hoch oben auf dem ganzjährig mit Schnee bedeckten Berg. Aus seiner Mitte entspringen die vier großen Flüsse des südasiatischen Raumes: Brahmaputra, Sutlej, Indus und der Karnali, ein Zufluss des Ganges. Sie fließen von dort aus in alle vier Himmelsrichtungen und haben einen maßgeblichen Anteil an der Wasserversorgung des gesamten indischen Subkontinents. Die Verehrung der Leben spendenden Natur ist immer auch ein Aspekt der asiatischen Religionen gewesen. Und wenn man – wie es jährlich tausende von Pilgern tun – in etwa 5000 Metern Höhe die 53 Kilometer lange Strecke um den Berg herumwandert, begegnet man in den vielen Bildern die dieses Naturparadies bietet auch noch einem anderen Aspekt: Sich selbst. Denn den Kailash betrachtet man nie alleine. Er ist trotz seiner majestätischen Erscheinung immer auch ein Teil eines größeren Mandalas. So wie die aus seiner Region entspringenden Flüsse seine weite Umgebung nähren, so lernen wir aus seiner Schau auch über den Fluss der Energien in unserem physischen Körper, und dessen subtileren Hüllen. Deshalb versetzt uns nicht nur die Stille der Natur am Kailash in meditative Zustände, sondern auch die Erkenntnis dessen, was uns ausmacht und am Leben hält.

Wenn man auf der Yogamatte Asanas übt, geht es den meisten von uns nicht nur um körperliche Fitness. Wenn wir uns im Sonnengruß im Spiel von Ein- und Ausatmen abwechselnd öffnen und verneigen, lernen wir neben der Meisterung unseres Körpers über den Atemfluss auch feinere Energien in uns wahr zu nehmen. Wir erlangen dadurch die Fähigkeit uns zu konzentrieren, und uns so dem Zustand der Meditation zu nähern. Das geschieht, wenn An- und Entspannung sich die Waage halten. Im Sanskrit wird das durch den Begriff Hatha-Yoga sehr klar ausgedrückt. Die Silbe Ha bedeutet übersetzt Sonne, die Silbe Tha steht für den Mond. Durch das Kennenlernen und abwechselnde Aktivieren beider Energien, des männlichen und des weiblichen Pols, gelangen wir aus dem Empfinden der Dualität in einen Zustand wo wir die Einheit dahinter wahrnehmen können.

In der Hatha Yoga Pradipika, der klassischen Yogaschrift aus dem 15. Jahrhundert, wird beschrieben wie die Energien aus den vielen feinen Nadis (Kanälen) in die beiden größen Energiekanäle Ida (weiblich, kühlend, beruhigend) und Pingala (männlich, erhitzend, anregend) gelenkt werden, die links und rechts von der Wirbelsäule fließen. Durch Meisterung des Atems harmonisiert man diese Energien und verbindet beide Prinzipien im Hauptenergiekanal, der Sushumna, die in der Mitte der Wirbelsäule liegt. Auch in der modernen Wissenschaft ist unsere Wirbelsäule mit ihrem Rückenmarkskanal das Zentrum unseres Universums, wobei das sympathische und das parasympathische Nervensystem dem Flucht-Kampf-Mechanismus und dem natürlichen Entspannungsimpuls entsprechen. Wir brauchen beide Seiten, um erfolgreich durch unser Leben zu gehen.

Der Berg Kailash und seine Umgebung repräsentieren diese Aspekte auf viele Weisen. Je nachdem ob man sich dem Kailash von Westen oder von Osten nähert begegnet man zuerst dem Rakshas Tal, dem „See der Dämonen“ oder dem See Manasarovar, der von Brahma geschaffen wurde, und wo die Götter zuhause sind. Beide gehören zum Mandala des Heiligen Berges. Sie erinnern uns daran, dass da wo Licht ist immer auch eine Seite mit Schatten zu finden sein wird. Die Aufgabe des Pilgers wie die des Yogi ist es, seinen Schatten zu erkennen und zu integrieren. Dann, und erst dann, kann die uns innewohnende Energie entlang unserer Wirbelsäule, durch alle Energiezentren, die Chakras (Welt der Esoterik, 03/11), fließen, und wir können unsere Persönlichkeit wirklich integral nennen. Der Kailash schämt sich nicht für seinen Dämonensee. Und wir können von ihm lernen alle Aspekte von uns selbst anzunehmen.

In seiner Form erinnert der Berg – alleine stehend – vor allem die Tantriker an einen Lingam (Abb. x), das Symbol Shivas männlich-kreativer Energie, während der See Manasarovar das weibliche Gegenstück, die empfangende Yoni darstellt. Lingam und Yoni, die schon bei den indigenen Völkern verehrt wurden, stehen als Metapher für die Einheit in der Getrenntheit. Yoga, das Verbinden von individuellem Selbst mit der kosmischen Seele geschieht im überbewussten Zustand als Folge der Meditation. So sehen die Yogis den Meditierenden auch als Abbild für diesen Vorgang. (Abb. y) Die gekreuzten Beine die das Fundament für den Meditationssitz darstellen symbolisieren die feminine Yoni aus der alles entspringt. Der Rumpf in dem die Energien gesammelt werden, bis sie schließlich am Scheitelpunkt einpünktig konzentriert sind, ist der Lingam. Das Mandala das Kailash und Manasarovar zusammen bilden ruft uns auf, uns ebenfalls in Stille zu versenken, um diese Einpünktigkeit aus der Vielfalt heraus in uns selbst zu erleben. Diese innere Reise kann man dann auch zuhause, an jedem Tag und zu jeder Jahreszeit machen; anders als die Umrundung des Heiligen Berges, die in Tibet eher in der wärmeren Jahreszeit zu empfehlen ist.

Transformiert denn so eine anstrengende Pilgerfahrt das Leben mehr als eine einfache Meditation auf dem Kissen? Letztendlich ist auch der Berg Kailash nur das, was wir in unserem eigenen Universum aus ihm machen. Wenn wir in ihm einen Haufen Stein sehen, dann bleibt er höchstens etwas, das wir mit Anstrengung bezwingen möchten. Wenn wir ihm aber mit Respekt begegnen, und bereit sind uns von ihm berühren zu lassen, wächst auch ein Stück die Hingabe in uns. Auf diese Weise bringen wir in die uns umgebende flache materialistische Welt einer neue Dimension. Die des ehrfürchtigen Erschauerns vor der Schönheit von Körper, Seele und Geist im Zusammenspiel der steten Evolution unterworfenen Schöpfung. So wird es uns auch möglich, den Kailash bereits in einem Stein in unserem Garten zu sehen, und den See Manasarovar in einer Pfütze bei einem Waldspaziergang zu erkennen. Wenn wir dann noch in der Lage sind, unseren Nachbarn ihren Schatten zuzugestehen, haben wir das Ziel einer jeden Pilgerfahrt erreicht.

Der Yoga Vidya e.V. in Bad Meinberg bietet vom 22. Mai bis 12. Juni 2012 eine dreiwöchige Pilgerreise zum Heiligen Berg Kailash an.
Kontakt: ralf.sturm@yoga-vidya.de