Yoga Geschichten

Der Jäger

Es war einmal ein Jäger, der hatte den ganzen Vormittag gejagt und nichts erlegt. Zu Mittag war er hungrig. Er entledigte sich seiner Waffen, setzte sich unter einen Rhododenbaum und packte sein Lunchpaket aus, um zu essen.

Am selben Tag hatte ein Tiger in der Umgebung gejagt und nichts erbeutet. Als er den Menschen unter dem Baum sitzen sah, dachte er: „Oh, da ist ja mein Fressen.“ Vorsichtig schlich er sich an den Jäger heran. Aber ein trockenes Blatt raschelte, der Jäger fuhr herum und entdeckte die Raubkatze. Er sprang auf, sein Herz raste, die Nackenhaare sträubten sich und die Muskeln spannten sich. Dummerweise hatte er seine Waffen, Speer, Pfeil und Bogen, drei Meter entfernt abgelegt. Ein Kampf war sinnlos. Ihm blieb nur die Flucht. Also rannte er los, so schnell er konnte.

Doch es gibt ein altes Naturgesetz, das besagt: Tiger läuft schneller als Mensch. Und der Jäger musste feststellen, dass dem tatsächlich so war. Fast spürte er den heißen Atem des Raubtieres in seinem Nacken, da sah er vor sich einen alten Brunnen. Gerade noch rechtzeitig sprang er hinein. Während des Sprunges sah er, dass der Brunnen trocken war. Aber gleichzeitig entdeckte er in dem Halbdunkel eine Pythonschlange, die sich gerade aufrichtete. Viele Gedanken rasten ihm durch den Kopf. Einer davon war: „Die Schlange wird seit längerem nichts gefressen haben.“

Zum Glück sah er in halber Tiefe des Brunnens eine dicke Wurzel, die dort aus der Wand ragte. Beherzt griff er zu und klammerte sich an ihr fest. Da hing er nun in halber Tiefe des Brunnens, oben der knurrende Tiger, unten die Pythonschlange. Als er die Wurzel genauer musterte, um festzustellen, ob er auch sicher daran hing, entdeckte er zu seinem Entsetzen neben dem knorrigen Holz ein Loch und darin eine weiße und eine schwarze Ratte. Die Tiere nagten an der Wurzel und ließen sich auch nicht stören. Glücklicherweise war die Wurzel tatsächlich ziemlich dick.

Während er nun da so hing, entdeckte er gleich neben der Wurzel eine Bienenwabe. Der Duft des Honigs stieg ihm in die Nase und er dachte: „Ich muss etwas essen, damit meine Kräfte länger reichen.“

Mit einer Hand fuhr er an der Wabe entlang. Er spürte den Honig und schleckte die Finger ab. Die wütenden Bienen stachen ihn. Eine Ewigkeit schien es zu dauern und doch war es nur eine kurze Zeit, da hatten die weiße und die schwarze Ratte die Wurzel durchgenagt und der Jäger fiel in die Tiefe des Brunnens, wo die Pythonschlange ihn fraß.

Eine schreckliche Geschichte, nicht wahr? Es ist die Geschichte unseres Lebens. Der Tiger ist die Zeit, die uns jagt und die Wurzel ist das Leben, an dem wir hängen. Das Essen, der Honig und so weiter sind natürlich die äußeren Sinnesobjekte, von denen wir uns Freude und Erfüllung versprechen.

Ich habe die Geschichte mehrere Male von meinem Lehrer Swami Vishnu-devananda gehört und dieser pflegte zu sagen: „Für Nicht-Yogis ist jeder Tag, der vergeht, ein Tag näher am Tod. Aber für einen Yogi ist jeder neue Tag ein Tag näher an der Befreiung, der Selbstverwirklichung, der Unsterblichkeit.“