Der Übergang, den man Tod nennt

Das Leben ist eine Folge von Prüfungen, aber wenn man seine Prüfungen besteht, so wird man auf sie als wertvolle Erfahrungen zurückblicken. Ich blicke auf alle meine Prüfungen als auf wertvolle Erfahrungen zurück, einschließlich der Nacht, in der ich in einem undurchdringlichen Schneesturm dem Tod ins Auge sah. Es war im ersten Jahr meiner Pilgerreise und die schönste Erfahrung, die ich je gemacht habe.
Mein Weg führte mich durch eine sehr abgelegene Region im Hochgebirge von Arizona, wo es meilenweit keine menschliche Behausung gab. An jenem Nachmittag überraschte mich ein Schneesturm, ganz ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Nie hatte ich solch einen Sturm erlebt. Wäre der Schnee Regen gewesen, so hätte man das einen Wolkenbruch genannt. Nie habe ich Schnee so herunterschütten sehen!
Plötzlich stapfte ich in tiefem Schnee und konnte überhaupt nichts mehr sehen. Da bemerkte ich, daß keine Autos mehr fuhren. Ich vermutete, daß sie auf der Straße steckengeblieben waren und nicht mehr weiterfahren konnten. Dann wurde es dunkel. Es muß eine schwere Wolkendecke gewesen sein. Ich konnte die Hand vor den Augen nicht mehr sehen, und der Schnee schlug mir ins Gesicht und schloß meine Augen. Es wurde kalt. Es war die Art Kälte, die durch Mark und Bein dringt.

Sollte ich je das Vertrauen verlieren und Angst bekommen, dann wäre das der Augenblick gewesen, denn ich wußte, es war keine menschliche Hilfe erreichbar. Statt dessen erschien mir dieses ganze Erlebnis von Kälte, Schnee und Dunkelheit so unwirklich. Nur Gott schien wirklich ... sonst nichts. Ich identifizierte mich vollkommen – nicht mit meinem Körper, dem Gewand aus Erde, das vergänglich ist – sondern mit der Wirklichkeit, die den Körper aktiviert und unzerstörbar ist.
Ich fühlte mich so frei; ich fühlte, daß alles gut ausgehen werde, ob ich nun weiter in diesem irdischen Leben dienen sollte oder ob ich weiterschreiten sollte, um jenseits in einem anderen, freieren Leben zu dienen. Ich spürte eine Führung, die mich anhielt weiterzugehen, und das tat ich, obwohl ich nicht sagen konnte, ob ich auf der Straße oder auf einem Feld ging. Ich konnte überhaupt nichts mehr sehen. Meine Füße in den flachen Leinenschuhen waren wie Eisklumpen. Sie fühlten sich so schwer an, als ich mich vorwärtsschleppte. Mein Körper wurde taub vor Kälte.

Nachdem das taube Gefühl stärker als der Schmerz geworden war, geschah etwas, das manche eine Halluzination – andere eine Vision nennen würden. Es schien mir, als könnte ich nicht nur die körperliche Seite des Lebens wahrnehmen, wo alles schwarze Dunkelheit, bittere Kälte und wirbelnder Schnee war – sondern ebenso hatte ich das Gefühl, als könnte ich geradewegs in die körperlose Seite des Lebens eintreten, wo alles warm und licht war. Alles war außerordentlich schön. Es begann mit vertrauten Farben, ging aber dann über dieses Spektrum weit hinaus. Es begann mit vertrauter Musik, klang aber schöner als diese.
Dann erschaute ich Wesenheiten. Sie waren weit entfernt. Eine von ihnen bewegte sich sehr schnell auf mich zu. Als sie näher kam, erkannte ich sie. Sie sah viel jünger aus, als zu der Zeit, da sie von uns ging.
Ich glaube, wenn der Übergang, den man Tod nennt, herannaht, dann kommen jene, die uns am liebsten und nahestehendsten waren, um uns willkommen zu heißen. Ich weilte oft bei sterbenden Freunden, als sie hinübergingen, und ich erinnere mich gut, wie sie mit geliebten Menschen auf beiden Seiten sprachen ... als ob alle gleichzeitig im Raum versammelt wären.

Deshalb dachte ich, meine Zeit sei gekommen, und ich grüßte sie. Ich sagte oder dachte: „Bist du wegen mir gekommen?“ Aber sie schüttelte den Kopf! Sie forderte mich auf zurückzugehen! Genau in diesem Augenblick stieß ich auf ein Brückengeländer. Die Vision erlosch. Da ich mich dazu geführt fühlte, tastete ich mich die verschneite Böschung hinunter unter die Brücke. Dort fand ich einen großen Pappkarton mit Packpapier darin. Ganz langsam und schwerfällig – in meinem nahezu erstarrten Zustand – gelang es mir, in diesen Pappkarton zu steigen und mich mit meinen tauben Fingern in das Packpapier einzuwickeln. Dort unter der Brücke, während des Schneesturms, schlief ich ein. Sogar da wurde mir Obdach geschenkt – geschenkt war mir aber auch diese Erfahrung.
Hätte mich jemand inmitten des Schneesturmes gesehen, seine Gedanken wären gewesen: „Was für eine schreckliche Prüfung muß diese Frau durchstehen.“ Aber wenn ich zurückblicke, so kann ich nur sagen: Was für eine wunderbare Erfahrung, in der ich dem Tod ins Auge sah, ohne Angst, aber in dem ständigen Bewußtsein von Gottes Gegenwart; und dieses Bewußtsein habe ich mit auf meinen weiteren Lebensweg genommen.

Ich glaube, es war ein großes Privileg, den Anfang des Übergangs, der Tod genannt wird, zu erleben. So kann ich mich nun mit meinen Lieben freuen, wenn sie den herrlichen Übergang in ein freieres Leben vollziehen. Ich kann mich auf den Übergang, genannt Tod, freuen als auf das letzte große Abenteuer im Leben.
Man hat mich gefragt, was ich damit meine, wenn ich sage, ich habe den Prozeß, den wir Tod nennen, begonnen. Natürlich ist dieser Übergang ein Prozeß. Als erstes beginnt man, nicht nur diese Seite des Lebens wahrzunehmen, sondern auch die körperlose Seite des Lebens. Dann erkennt man allmählich, wie sich geliebte Personen von der körperlosen Seite her nähern, und man bemerkt, wie man mit beiden Seiten kommunizieren kann. So weit bin ich gegangen. Als nächstes kommt das Durchtrennen der „Silberschnur“ – und dann ist die Verständigung mit den Menschen auf dieser Seite abgeschnitten, obwohl man sie immer noch sehen und hören kann. Man befindet sich mit den körperlosen Lieben am „allgemeinen Versammlungsort“ zum Zwecke einer wunderbaren Vereinigung, und später gelangt man auf die Ebene, wo man lernen darf und auch dienen, wenn man weit genug fortgeschritten ist.

Die körperlose Seite des Lebens ist mitten unter uns in  einer anderen Dimension. Die zwei Welten vermischen sich. Wir nehmen unsere Welt wahr, aber sie nehmen beide Welten wahr – normalerweise. Eine gewisse Verständigung ist möglich; wir können z. B. für sie beten, und sie können für uns beten.
Der Tod ist eine wunderbare Erlösung, hin zu einem freieren Leben. Das einengende Gewand der Erde, der Körper, wird abgelegt. Die selbst-zentrierte Natur geht mit dir, um auf der körperlosen Seite des Lebens zu lernen und sich weiter zu entwickeln; dann kehrt sie hierher zurück, in einem angemessenen Erdengewand und in ein entsprechendes Umfeld, um die nötigen Lektionen zu lernen. Besäßen wir doch mehr Einsicht in das Leben, so trauerten wir bei der Geburt und freuten uns beim Tode. Wenn wir doch wüßten, wie kurz das irdische Leben ist, im Vergleich mit dem ganzen, so würden wir uns über die Schwierigkeiten des gesamten irdischen Lebens weniger grämen als wir es jetzt über die Schwierigkeiten eines einzigen Tages tun.

Die Beerdigung sollte ein fröhliches Abschiedsfest sein, auf dem man sich an alle guten Taten dieser Person erinnert, ihre Lieblingsgedichte liest und ihre Lieblingslieder singt. Handelten wir so, dann würden sich die Befreiten mit uns freuen.
So wie ich die Änderung meiner Haarfarbe, vom Gold meiner Kindheit zu dem Rötlichbraun meiner Jugend ohne Bedauern annahm, so akzeptiere ich auch mein silbernes Haar – und ich bin bereit, jenem Zeitpunkt zu begegnen, wenn meine Haare und das übrige Gewand aus Erde wieder zu Staub werden, wovon sie genommen sind, während mein Geist in ein freieres Leben übergeht. Es ist nun für mein Haar die Zeit gekommen, silbern zu sein, und jede Zeit gibt ihre Lektionen auf. Jeder Lebensabschnitt ist wunderbar, wenn man die Lektionen des vorhergehenden Lebensabschnittes gelernt hat. Nur wenn man weitergeht, ohne seine Lektionen gelernt zu haben, sehnt man sich nach einer Rückkehr.