Erwachsen werden

Ich bin unter sehr günstigen Bedingungen aufgewachsen, obwohl viele von euch das nicht so sehen mögen. Ich wurde arm geboren, auf einer kleinen Farm am Rande einer kleinen Stadt, und ich bin dankbar dafür. Ich war glücklich in meiner Kindheit. Ich hatte einen Wald zum spielen und einen Bach zum schwimmen und genügend Raum, mich zu entfalten. Ich wünschte, jedes Kind hätte genügend Raum, sich zu entfalten, denn ich glaube, Kinder sind ein wenig wie Pflanzen. Wenn sie zu eng beieinander aufwachsen, so werden sie dünn und kränklich und können ihr bestmögliches Wachstum nicht erreichen. Wir brauchen Raum, um wachsen zu können.

Wir beginnen uns auf unsere zukünftigen Aufgaben vorzubereiten, und gewöhnlich haben wir keine Ahnung, auf was wir uns vorbereiten. So hatte ich als Kind keine Ahnung, auf was ich mich vorbereitete; und doch habe ich mich natürlich in vielerlei Hinsicht vorbereitet. Ich bereitete mich auf die Pilgerreise vor, als ich mir zur Regel machte, „das Wichtigste immer zuerst“, und auf diese Weise begann, Prioritäten in meinem Leben zu setzen. Das führte zu einem sehr geordneten Leben und lehrte mich Disziplin – eine sehr wertvolle Lektion, ohne die ich eine Pilgerreise nie hätte durchführen können. Ich brachte sie mit in mein Leben als Erwachsener.

Ich erhielt als Kind keinen formellen Religionsunterricht. (Es sollte dadurch weniger sein, was ich später aus meinem Gehirn streichen mußte!) Meinen ersten Blick in eine Kirche tat ich mit zwölf Jahren, und zwar beobachtete ich durch das Portal einer katholischen Kirche, wie Kirchendiener die Kathedrale putzten. Als ich sechzehn war, betrat ich zum ersten Mal eine Kirche, um an einer Hochzeit teilzunehmen. Als ich in der Schule die Oberstufe besuchte, begann ich mit meiner Suche nach Gott. Aber all meine Anstrengungen waren nach außen gerichtet. Ich ging umher 14 und fragte: „Was ist Gott? Was ist Gott?“ Ich war äußerst wißbegierig und stellte viele Fragen an viele Menschen, aber nie erhielt ich Antwort! Doch ich wollte nicht aufgeben. Mit dem Verstand konnte ich Gott draußen nicht finden, so versuchte ich einen anderen Weg. Ich machte einen langen Spaziergang mit meinem Hund und dachte sehr
tiefgründig über diese Frage nach. Dann ging ich zu Bett und überschlief das ganze. Am Morgen erhielt ich die Antwort aus meinem Inneren, durch eine leise feine Stimme.

Nun war meine Schulmädchenantwort sehr einfach: Wir Menschen werfen alle Dinge dieses Universums, die jenseits unseres Begriffsvermögens liegen, in einen Topf, und das alles zusammen nennen einige von uns dann Gott. Das führte mich auf eine Suche. Als erstes sah ich mir einen Baum an. Ich sagte mir, dies ist ein Beispiel: Auch wenn alle Menschen zusammenhelfen würden, so könnten sie doch nicht so einen Baum schaffen, und wenn sie dann doch so etwas Ähnliches zuwege brächten, so könnte er nicht wachsen. Es gibt also
eine schöpferische Kraft jenseits von uns. Dann schaute ich in der Nacht zu meinen geliebten Sternen empor und fand dort ein zweites Beispiel. Es gibt eine Kraft, die die Planeten in ihrer Bahn hält. Ich beobachtete all die Veränderungen, die sich im Universum abspielen. Damals versuchten sie gerade, einen Leuchtturm zu retten, der in Gefahr war, ins Meer gespült zu werden. Schließlich versetzten sie ihn landeinwärts und sagten, sie hätten ihn gerettet. Aber ich beobachtete all diese Veränderungen und stellte fest: das ist ein weiteres Beispiel. Es gibt etwas, das eine ständige Veränderung im
Universum bewirkt.

Als ich die Bestätigung aus meinem Inneren erhielt, wußte ich ohne die geringsten Zweifel, daß ich mein höchstes Licht berührt hatte. Auf der Ebene des Verstandes stieß ich oft auf Gott als Wahrheit, und auf der Ebene der Gefühle begegnete ich ihm als Liebe. Ich begegnete ihm als Güte. Ich begegnete ihm als Freundlichkeit. Ich erkannte, daß Gott eine schöpferische, eine alles in Bewegung setzende Kraft ist, ein überaus intelligenter, allgegenwärtiger und alles durchdringender Geist – der alles im Universum miteinander verbindet und allen Dingen Leben gibt. Das brachte mir Gott nahe. Ich konnte nicht sein, wo Gott nicht ist. Du bist in Gott, und Gott ist in Dir.

Als ich in der Oberstufe war, arbeitete ich in einem Kaufhaus. Ich liebte diese Arbeit, vor allem das Herrichten der Ladentische, so daß sie hübsch aussahen. Ich durfte sogar die Schaufenster gestalten, weil ich das gerne tat. Nun, ich war eben billiger als ein Dekorateur!

Ich hatte zwei Kassen auf meinem Ladentisch. Eines Tages hatte ich kein Wechselgeld in der einen Kasse, so ging ich natürlich hinüber zur anderen und drückte „kein Verkauf“ und nahm das Wechselgeld heraus. Dann sah ich, daß ich einen Kardinalfehler begangen hatte. Ich hörte sie flüstern: „Sie hat 'kein Verkauf' gedrückt!“ Der Aufseher kam herüber und sagte: „Komm mit.“ Er führte mich in eine Ecke an einen Ladentisch, der hergerichtet werden mußte. Da ließ er mich zurück. Dann kam er wieder und fragte: „Warum hast du das getan?“ Ich antwortete: „Ich weiß immer noch nicht, was ich getan habe. Ich habe nur Wechselgeld aus der Kasse genommen – ich habe kein Geld gestohlen.“ Er sagte: „Du wurdest angewiesen, nie 'kein Verkauf' zu drücken.“ Ich antwortete, „Ich wurde überhaupt nicht angewiesen.“

Dann ging er zu der Aufseherin, die mich hätte einweisen sollen. Sie bestätigte meine Aussage, und ich wurde wieder eingesetzt. Aber seitdem haßte sie mich wegen dieses Vorfalls. Ich wußte, irgend etwas mußte getan werden. Als ich an ihrem Schreibtisch vorüber ging, fielen mir die verwelkten Blumen dort auf. Am nächsten Morgen brachte ich ihr einen wunderschönen Blumenstrauß aus
meinem Garten. Ich sagte: „Mir sind die verwelkten Blumen dort aufgefallen, ich weiß, Sie lieben Blumen, hier sind ein paar aus meinem Garten.“ Sie konnte ihnen nicht widerstehen. Am Ende der Woche gingen wir Arm in Arm aus dem Laden!

Ich bin sicher, daß ich für die Pilgerreise vorbereitet wurde, als ich in Geschichte die Goldene Regel, „Was Du willst, das man Dir tu, das füge anderen zu“, las – die auf so unterschiedliche Weise ausgedrückt werden kann, aber in jeder Kultur in irgendeiner Weise zu finden ist. Mein Innerstes bestätigte sie mir. Sie beeinflußte mein ganzes Leben.

Tatsächlich gab es gewisse Ableitungen von der Goldenen Regel, die ich sogar in die Pilgerreise einbrachte. Als ich die Oberschule besuchte, hatte ich einen kleinen Spruch: „Wenn du dir Freunde machen willst, mußt Du freundlich sein.“ Bei genauerer Betrachtung ist dies eine Ableitung von der Goldenen Regel. Es ist die Erkenntnis, daß die Menschen gemäß den Einflüssen, denen sie ausgesetzt sind, handeln. Ich habe die Regel auf mein heutiges Leben übertragen mit dem Spruch: „Wenn du Frieden schaffen willst, mußt Du friedvoll sein.“

Nachdem ich die Schule beendet hatte, bot sich mir eine Möglichkeit, die Goldene Regel in die Praxis umzusetzen. Ich bekam eine Arbeit, um die sich eine meiner Freundinnen bemüht hatte, und ich wurde in eine Position im Gesellschaftsverein gewählt, die sie ebenfalls gerne eingenommen hätte. Sie glaubte, mich zu hassen. Sie sagte alle möglichen gemeinen Dinge über mich. Ich wußte, das war eine sehr ungesunde Situation. So holte ich die Goldene Regel hervor – ich dachte und sagte alle möglichen guten Dinge, die ich aufrichtig über sie sagen konnte. Ich versuchte, ihr bei jeder Gelegenheit gefällig zu sein. Das Schicksal wollte es, daß ich ihr einen außerordentlichen Gefallen tun konnte. Kurz, als sie ein Jahr später heiratete, war ich ihre Brautjungfer. Hier sieht man, wie wirksam ein bißchen spirituelle Praxis sein kann.

Ich weiß, daß es eine Vorbereitung auf die Pilgerreise war, als ich gewisse Entscheidungen traf. Ich war in der Mittelstufe, als mir z.B. Zigaretten angeboten wurden, die ich ablehnte, während meine Freunde rauchten. In der Oberstufe bot man mir jegliche Art von Alkohol an, den ich ablehnte, während meine Freunde tranken. Dann, kurz nachdem ich mein Studium beendet hatte, wurde ich auf die Probe gestellt, weil alle meine Freunde zu dieser Zeit rauchten und tranken. Damals war der Druck zu Konformität dermaßen groß, daß sie im Grunde auf mich herabsahen, weil ich mich nicht an diesen Dingen beteiligte. Als wir dann bei jemandem im Wohnzimmer versammelt waren, sagte ich zu ihnen. „Seht her, das Leben besteht aus einer Aneinanderreihung von Entscheidungen, und niemand kann euch aufhalten, eure Entscheidungen zu treffen. Aber auch ich habe ein Recht darauf, meine Entscheidungen zu treffen. Und ich habe mich für die Freiheit entschieden.“ 

Mit der Zeit machte ich noch zwei sehr wichtige Entdeckungen. Als erstes fand ich heraus, daß es sehr leicht war, Geld zu verdienen. Man hatte mich glauben gemacht, Geld und Besitz würden mir ein Leben voller Glück und Zufriedenheit garantieren. So ging ich diesen Weg. Als zweites erkannte ich, daß Geld zu verdienen und es gedankenlos wieder auszugeben vollkommen sinnlos war. Ich wußte, das war nicht meine Bestimmung, aber zu dieser Zeit war mir noch nicht klar, was denn dann meine Bestimmung war.

Tatsächlich war es die Erkenntnis, daß Geld und Dinge mich nicht glücklich machen konnten, die mich dazu führte, meine Vorbereitungen für die Pilgerreise zu treffen. Vielleicht fragst Du dich, wie in aller Welt ich mich in Geld und materielle Dinge verstricken konnte. Aber es ist
nun einmal so, daß uns zwei Widersprüche gelehrt werden, die uns ganz durcheinanderbringen.

Zum Glück war es nur einer dieser Widersprüche, der mich verwirrte; die meisten Menschen haben mit zweien zu kämpfen. Einerseits belehrte man mich, nett und liebenswürdig zu sein und niemals jemanden zu verletzen, was sicher richtig ist. Andererseits lehrte man mich, man müsse Befehlen gehorchen, und es sei ehrenvoll, Menschen im Krieg zu verstümmeln und zu töten. Man bekommt sogar eine Medaille dafür. Dieser Widerspruch bereitete mir aber keine Schwierigkeiten. Ich habe nie geglaubt, daß zu irgendeiner Zeit unter irgendwelchen Umständen das Verletzen von Menschen richtig sein könne. Aber der andere Widerspruch machte mir eine Weile zu schaffen.

Man lehrte mich, freigebig und selbstlos zu sein, und gleichzeitig machte man mich glauben, wenn ich Erfolg haben wolle, so müsse ich mehr ergattern, als mir in dieser Welt zusteht. Diese widersprüchlichen Philosophien, die ich in der Kindheit mitbekommen hatte, verwirrten mich für eine Weile. Aber schließlich habe ich diese falschen Lehren wirklich mit den Wurzeln ausgerissen.